Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Digitalisierte Natur

Timur Si-Quin thematisiert die Grenzbereiche zwischen zwei Systemen. Das können Ökosysteme sein, aber auch die beiden Pole Technik und Natur. In der Kunsthalle Winterthur zeigt der Künstler drei digitale Transformationen von Naturbeispielen.

Winterthur — Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit werden bald 100 Jahre alt. Und sie sind aktueller denn je in Zeiten der digitalen Bild- und Filmwiedergabe im Hosentaschenformat und der sogenannten Sozialen Medien. Zudem berühren sie Fragen, die nicht nur für das Kunstwerk gelten, sondern neuerdings auch für die Natur: Welchen Einfluss hat die Reproduzierbarkeit auf Naturerlebnisse? Was passiert, wenn digital erzeugte Bildwelten das Original nachahmen? Gibt es Wechselwirkungen? Timur Si-Quin interessiert sich für Übergangsbereiche zwischen dualistischen Konzeptionen. So versteht der 1984 in Berlin geborene Künstler Technik und Zivilisation nicht als Gegenspieler zu Natur, sondern sieht Interaktionen und Durchdringung. Seine Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur stellt er unter den Titel «Ecotone Dawn« und bezieht sich damit auf die Zone zwischen zwei Ökosystemen oder Biotopen. Sie sorgt für Austausch und Artenvielfalt, aber auch für Druck auf beiden Seiten, wenn neue Einflüsse wie etwa der Klimawandel dazu kommen. Das Ökoton dient Timur Si-Quin als inhaltliche Klammer für die Ausstellung. Er übersetzt drei Naturbeispiele aus verschiedenen Weltgegenden in Digitalisate: Die Abendstimmung über die saudiarabischen Oase al-´Ula ist als gerendertes Panorama in vier querformatigen Leuchtkästen zu sehen. Ein Baumstrunk an einem Pilgerweg in Thailand wurde eigescannt, als Plastik per 3D-Verfahren ausgedruckt und bemalt. Basierend auf Pflanzen im Bundesstaat New York simulieren Renderings ein Waldstück. Über die statischen Bilder sind bewegte Schattenwürfe projiziert, so dass eine lebendige Stimmung entsteht. Die drei Werke sind technisch perfekte Transformationen. Das gilt auch dort, wo sich der Künstler entscheidet, notwendige Übersetzungshilfen stehen zu lassen. So wurden beim Baumstrunk die Materialstege nicht entfernt, die für die Stabilität beim 3D-Druck notwendig sind. Sie sorgen für Kippmomente in der Natursimulationen. Die perfekte Illusion per Rendering ist möglich, wird aber von Timur Si-Quin gezielt vermieden. Das Original als Referenzobjekt wird nicht abgelöst, sondern ist wie bei der Mona Lisa noch stärker in den Fokus gerückt: Sich eine hochaufgelöste Abbildung aus dem Netz herunterzuladen, gilt nicht als Ersatz für eine Reise oder für den eigenen Augenschein. Im Gegenteil: Nur das selbst aufgenommene Foto vom Original zählt.

→ Kunsthalle Winterthur, bis 17. September
↗ www.kunsthallewinterthur.ch

Andrea Ehrat, Dorian Sari

Schaffhausen — Kontraste prägen das Bild: Weiss kontra Schwarz. Wandarbeiten kontra Plastiken auf einem zentralen Sockel im quadratischen Raum. Gegenständliche Abbilder und Objekte kontra abstrahierte oder abstrakte Formen. Die Arbeiten von Dorian Sari (1989) und Andrea Ehrat (1971) haben wenig Gemeinsamkeiten. Sie in einer Ausstellung miteinander zu kombinieren, ergibt dennoch Sinn. Das Ausstellungsformat «DOPPIO» im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen entlehnt seinen Titel dem doppelten Espresso, und so wie dort das zweifache Koffein enthalten ist, wirkt auch die Zusammenschau der Positionen für beide als Verstärker von Form und Aussage. Andrea Ehrats Arbeitsmaterial ist Gips. Ein wiederkehrendes Element sind abstrahierte, meist einzelne, weibliche Brüste. Sie werden ragen hoch auf oder sind zu einer Dolde verwachsen, werden mit Seilen und Stricken aus Naturmaterialien gebündelt, geknebelt, abgebunden. Auf den menschlichen Körper beziehen sich auch die verlängerten, deformierten Gliedmassen. Hier wie bei einem Haus auf Schlittschuhkufen oder auf einem Knie setzt Ehrat deutliche Referenzen an den Surrealismus. Die in Zürich lebende Künstlerin mit Schaffhauser Wurzeln bringt ihre Gedankenwelt in dreidimensionale Form und liefert dennoch allgemeingültige Kommentare zu den Zwängen und der Fragilität der menschlichen Existenz. Hier findet sich eine Schnittstelle zu Dorian Sari. Der in der Türkei geborene, in Basel und Genf lebende Künstler zeigt beispielsweise eine schwarze Lederjacke, der eine Pistole im Rücken sitzt, oder die zehnteilige Fotoserie «Surrender»: Ein Mann trägt eine Mütze mit einem kleinen Propeller. Letzterer ist in verschiedenen Positionen zu sehen, so als könne er sich drehen, aber der Mann hebt nicht ab. Zu stark ist die Erdhaftung, Leichtigkeit und Fliegen bleiben eine Utopie. Der zu einer monumentalen, schwarzen Fläche erweiterte Oberkörper unterstützt diese Schwere, während sich durch die Reihung das im Titel genannte «Aufgeben» immer aufs Neue wiederholt. Auf noch fatalere Weise der Schwerkraft unterworfen ist der an einem Fuss aufgehängte Mann: In einem Schwarzweiss-Video baumelt er kopfüber endlose sieben Minuten fast unmerklich langsam. Das Individuum ist ausgeliefert. Aber hier wie bei Ehrat wird es in einer starken Ästhetisierung gezeigt. Die Reduktion auf weiss in den Arbeiten der Künstlerin und auf schwarz in jenen des Künstlers, die Entrücktheit trotz der auf das Individuum oder den Körper einwirkende Kräfte sind die Schnittstelle zwischen beiden Werken.

→ Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, bis 17.9.
↗ www.allerheiligen.ch

Lang/Baumann

Teufen — Lang/Baumann arbeiten ortsspezifisch, in grossen oder sogar monumentalen Formaten und nicht selten mit permanenten Installationen. Eine Überblicksschau des Duos L/B alias Sabina Lang (1972) und Daniel Baumann (1967) ist also kaum möglich. Im Zeughaus Teufen funktioniert die Retrospektive trotzdem: Statt der Kunst selbst sind 96 Modelle in Szene gesetzt, die wiederum von Kunst gerahmt werden. Dabei stiehlt keines dem anderen die Show. Die Modelle leben von ihrer Materialität, dem Spiel zwischen Holz, Gips, Kunststoff, Pappe oder Metall, von den Spuren der Zeit und von ihrem Stellvertretercharakter. Hier muss nichts perfekt sein, da dürfen auf den Rückseiten auch Notizen oder Klebstoffreste gezeigt werden. Die eigens gefertigte, goldfarbene Installation «Comfort #21» wiederum bildet Folie und Bühne für die Modelle: Passgenau liegen zu beiden Längsseiten des Ausstellungssaales drei luftgefüllte Schläuche übereinander. Sie lassen Fensternischen und Heizkörperverkleidungen verschwinden und formen eine egalisierende Kulisse, so dass den Modellen der ungestörte Auftritt zukommt. Letztere entstehen seit 33 Jahren. An ihnen lassen sich Werkgruppen ablesen, hier werden Farb- und Formvorlieben deutlich oder der Fokus auf den öffentlichen Raum – die Modelle sind mehr als nur ein Ersatz für die Originale, sie sind geeignete Anschauungs- und Studienobjekte en miniature.


→ Zeughaus Teufen, bis 1.10.
↗ zeughausteufen.ch

Klang Moor Schopfe

Gais — Dreimal hat das Festival bereits stattgefunden. Dreimal hat sich das Hochmoor Gais für jeweils zehn Tage in ein Labor für soundkünstlerische Erkundungen verwandelt. Nun gibt es die vierte Ausgabe – das Festival kann als etabliert gelten. Sein Erfolgsrezept ist nicht zuletzt die einzigartige Kombination: Die Holzscheunen, die Ausserrhodische Moorlandschaft, das Schützenhaus an der Schiessanlage treffen auf internationale Soundexperimente. Oft entstehen diese vor Ort. So hat in diesem Jahr das Schweizer Kollektiv Zaira Oram eine Carte Blanche erhalten und erweitert sein interdisziplinäres ‹Oto Sound Museum› um eine Künstlerresidenz in Gais. Der Spanier Juan José López und der Schweizer Ludwig Berger eröffnen mit ihrer Installation ‹Insect Rhythmic Union› einen Zugang zu den im Moor lebenden Insekten. Das US-amerikanische Kollektiv MSHR entwickelt eine ortsspezifische Installation auf der Basis digitaler Räume, analoger Hardware und Performances. In der Arbeit dieses Duos spielt wie bei vielen der zwei Dutzend Teilnehmenden hochspezialisierte Technik eine wichtige Rolle in der Klangforschung; geerdet wird sie in den Klang Moor Schopfen durch die Natur, das genaue Hinhören auf die Töne vor Ort und durch den Einbezug vorhandener Materialien – auch die Bretterwände eines Schopfes können zum Klingen gebracht werden.

→ Klang Moor Schopfe, bis 10.9.
↗ klangmoorschopfe.ch

Melike Kara

St.Gallen — Grosseltern zu haben, kann etwas Wunderbares sein. Wenn sie aus ihrer Kindheit und Jugend berichten, erklingt eine lange vergangene Zeit; sie beherrschen Kulturtechniken, die heute verloren gegangen sind; oft erzählen aus einer Heimat, die eine andere ist als die der Enkelgeneration. Auch für Melike Kara (*1985) ist ihre inzwischen verstorbene Grossmutter eine besondere Persönlichkeit – ihr hat sie die Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen gewidmet: ‹Emine’s Garden› wurzelt in Karas kurdischer Familiengeschichte und reicht weit darüber hinaus. Die in Köln lebende Künstlerin sammelt Fotografien aus ihrem familiären und erweiterten Netzwerk. Sie trägt damit einerseits zu einem Archiv der bisher nicht systematisch erfassten kurdischen Traditionen bei und generiert andererseits einen Bildfundus für ihre eigene Arbeit. Ausgewählte Fotografien hat sie für die Ausstellung grossformatig ausgedruckt und auf dem Boden ausgelegt. Weisse Farbe überzieht wie ein milchiger Schleier die Bilder und gleicht sie einander an. So richtet sich die Aufmerksamkeit stärker auf die darüber ausgelegten Gipsornamente und die ebenfalls in der Horizontale präsentierten, ungegenständlichen Gemälde. Aus der gesamten Installation spricht die Freude am eigenen kulturelle Erbe – mit spielerischer und doch grosser Geste verwandelt es die Künstlerin in eine zeitgemässe Form.

→ Kunst Halle Sankt Gallen, bis 24.9.
↗ www.k9000.ch

Macht und Aberglaube in verführerischen Farben

Der britisch-kenianische Künstler Michael Armitage zeigt im Kunsthaus Bregenz seine Ausstellung «Pathos and the Twilight of the Idle». Zu sehen sind grossformatige Gemälde zu tagespolitischen Themen und zu afrikanischen Mythen.

Lubugo wird als Leichentuch verwendet, als Unterlage für die Waren am Markt, als Verpackungsstoff. Hergestellt aus der Rinde des ugandischen Feigenbaumes dient das Material vielfältigen Zwecken. Michael Armitage nutzt es für seine Gemälde. Der Künstler mit kenianischen Wurzeln wählt damit einen Bildträger, der lokal und praktisch eingesetzt wird. Damit verweist er nicht nur auf seinen Bezug zum afrikanischen Kontinent, sondern verleiht auch seinen künstlerischen Arbeiten einen aussergewöhnlichen Charakter: Lubugo hat Löcher, ist unregelmässig und muss für grosse Formate aus mehreren Stücken zusammengesetzt werden. Deshalb haben die Gemälde von Armitage Nähte, Lücken und eine strukturierte Oberfläche. Gezielt baut Armitage diese Details in seine Kompositionen ein. «Dandora» beispielsweise zeigt Musikerinnen und Musiker in einem Halbkreis, einer zieht eine Geiss aus dem Bild, Schweine entspringen einem Hirn, eine Kuh dreht ihr Hinterteil der Runde zu. Eine Naht läuft wie eine Kotspur aus dem After senkrecht nach unten. Mit dem Bildtitel verweist der Künstler auf eine riesige Mülldeponie in Nairobi. Die Menschen dort suchen in dem tonnenweise angeliefertem Abfall nach Verwertbarem.

Mechanismen der Macht

Armitage zeigt den Schmutz, die Armut, aber auch den Zusammenhalt und die kulturellen Spuren. Das Bild hängt im ersten Obergeschoss des Kunsthauses Bregenz. Versammelt sind dort Gemälde des Künstlers, die sich politischen Themen widmen. Es geht um Macht und die Mechanismen dahinter, um Demokratie und Manipulation. In einem Gemälde mit Rednerpult und Kristallkugeln untersucht er zum Beispiel unterschiedliche Rollen und Erwartungen: Wenn ein Politiker auftritt, wollen die Menschen ihn hören? Oder ist es anders herum? Wer folgt wem? Wer formt wen? Mit welchen Konsequenzen?
Seine Fragen und Botschaften verpackt Michael Armitage in opulente Bilder. Die Inhalte stehen nicht im Vordergrund, sondern die Lust an der Malerei. Der Künstler greift dabei immer wieder auf die reiche europäische Kunstgeschichte zurück. Elemente des Symbolismus mischen sich mit solchen des Jugendstils; es gibt Referenzen auf Motive von Hans Holbein, den Bildaufbau bei Tizian oder die Figurendarstellungen von Edgar Degas. Die menschliche Figur steht in Armitages Gemälden oft im Zentrum. Eingebettet ist sie in Naturschilderungen und ornamentalen Formen.

Tänze und Teufelsaustreibungen

Kennzeichnend sind fliessende Linien und weiche Konturen. Gestalten bleiben schemenhaft, Farbkontraste sind wirkungsvoll inszeniert. Dies zeigt sich vor allem in den Werken im zweiten und dritten Obergeschoss – das Erdgeschoss ist diesmal für eine andere Künstlerin reserviert: Dort zeigt Anna Jermolaewa, eine russische Dissidentin, die Österreich 2024 an der Biennale Venedig vertritt, aktuelle Arbeiten.
Michael Armitage präsentiert im zweiten Obergeschoss des Kunsthauses Arbeiten zum Thema Mythos und Aberglaube. Sowohl die Dämonisierung psychisch Kranker findet hier ihren Ausdruck als auch Teufelsaustreibungen oder rituelle Tänze. Hier fällt besonders die ausgetüftelte Hängung in den Blick: Zwischen den sechs gezeigten Gemälden ergeben sich Blickachsen aus den Bildern heraus zum nächsten. Im dritten Obergeschoss ist das weniger gelungen, die zusätzlich aufgebaute Wand ist ein Fremdkörper in der klaren Architektur des Ausstellungssaals. Zumal auch hier wieder sechs Gemälde zu sehen sind – eine zusätzliche Wand verstellt nur unnötig den Blick auf Armitages virtuos ausgeführte Malerei, seinen meisterhaften Umgang mit Farbe und Komposition.

Erstens, zweitens, unendlich

Barbara Signer verwandelt die Kunsthalle Arbon in einen Parcours der Möglichkeiten. Sie inszeniert Portale und verwandelt die reale Welt in einen magischen Vergnügungspark.

Portale sind Tore zu anderen Welten: Goldene Ringe öffnen Durchgänge zu weit entfernten Orten, auf dem Gleis Neundreiviertel treffen sich Zauberschüler und in einem Kleiderschrank beginnt das magische Land Narnia. Die Gestalt der Portale ist ebenso vielfältig wie ihre Macht, aus der Realität herauszuführen. Das funktioniert in Romanen, Filmen oder Computerspielen genauso wie in der Kunst. Es ist alles eine Frage der Vorstellungskraft. Darauf vertraut Barbara Signer in ihrer aktuellen Ausstellung. Die Künstlerin hat in der Kunsthalle Arbon vier Portale aufgestellt und sie der Unendlichkeit gewidmet. Aber wie sollen ein Bogen aus Luftballons, ein Teich, ein Prisma mit Strassenlaternen und eine Bank unter eine Blume in die Ewigkeit führen? Aus einiger Entfernung wirken diese Objekte etwas verloren in der riesigen Lagerhalle mit ihrem schroffen Asphaltboden, den Stahlträgern und Stützen. Das ändert sich rasch beim Näherkommen: Diese Präsentation ist nicht für einen festen Standort entwickelt, sondern will erkundet werden. Erst dann entfaltet sich die besondere Stimmung zwischen Unterhaltung und Verlorenheit, zwischen Vergnügungspark und Endzeitkulisse.

Teich statt Kuchentafel

An den Anfang stellt die Künstlerin ein Tor aus Luftballons. Deren zarte Farben verheissen unbefangene Festlaune, aber statt auf eine Kuchentafel fällt der nächste Blick auf einen tiefschwarzen Teich. Eine einsame Strassenlaterne spiegelt sich in der glatten Wasseroberfläche. Jetzt bloss nicht hineinfallen, vielleicht führt dieses Portal in eine andere Welt? Vielleicht gibt es kein zurück? Besser weiter, zum nächsten Portal. Kopfüber spiegelt es sich bereits im Teich. Auch dieses Objekt ist rätselhaft. Lilafarbene Verstrebungen bilden ein dreieckiges Gehäuse. An den Aussenseiten befinden sich auch hier Kandelaber. Doch was beleuchten sie? Dort ist keine Strasse und kein Treffpunkt. Auch das Zentrum des Bauwerkes lädt nicht zum Verweilen ein. Durch den dreieckigen Grundriss erzwingt es eine Entscheidung: nach rechts, nach links oder zurück? Barbara Signer gibt den Weg nicht vor. Ihre Ausstellung ist ein Parcours der Möglichkeiten und Übergänge. Eines führt zum nächsten, durch die präzise Gestaltung bietet jedes der gezeigten Werke den Anreiz weiterzuschauen und sich weiterzubewegen.

Ein magischer Steinhaufen

Die Künstlerin kombiniert Elemente aus der realen Welt und eigens entwickelte Objekte. Sie verwandelt Bekanntes in Ungewohntes, fügt zusammen, was bis dahin keine Gemeinsamkeiten hatte, ändert Grössenverhältnisse und erfindet neue Farben. Die berühmte «Endlose Säule» von Constantin Brâncuși beispielsweise hängt in Arbon als Halskette von den Dachträgern. Als Kette ist sie viel zu gross und aber gemessen am rumänischen Vorbild ist sie winzig. Überdies sind die Kettenglieder hellblau und stehen damit in eindrücklichem Kontrast zu den Rostfarben der Halle.
«Cairn» hat die Künstlerin aus Steinen von einem Felssturz am Calanca errichtet. Aus der Mitte dieses Steinhaufens leuchtet kaltes Licht. Nur von einer einzigen Betrachtungsposition aus gleicht es zwei strahlenden Augen: Die leblosen Steine werden zu einem magischen Wesen. Barbara Signer spielt immer wieder mit solchen Übergangsmomenten. Sie inszeniert vieldeutige Situationen und Stimmungen mit dem Potential, sich stetig zu verändern. Mit dem Ausstellungstitel zeig sie dieses Spektrum auf: «The First the Last Eternity» sang die deutsche Band Snap! Mitte der 1990er Jahre. In Arbon beginnt die Unendlichkeit oder sie nimmt ein Ende. Wer die Portale durchschreitet, findet es heraus. Einen Versuch ist es allemal wert.

Kunst unter Obstbäumen

Die Open Air-Biennale im Weiertal widmet sich in diesem Jahr der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Unter dem Titel ‹Common Ground› vereinen sich 17 künstlerische Positionen mit der von Menschenhand gestalteten Natur des Landschaftsgartens.

Winterthur Wülflingen — 33 mal 33 Meter – so viel Land braucht ein Mensch, um sich pflanzenbasiert zu versorgen. Je nach Wohnort und Herkunftsstaat erscheint dies viel oder wenig Fläche. Wie gross so ein Areal tatsächlich ist, zeigt Uriel Orlow im Kulturort Weiertal. Hier, am Rande Winterthurs, auf einem idyllischen Stück Land mit hoch gewachsenen Obstbäumen, kleinen Weihern und blühenden Sträuchern, hat der Künstler ein Stück Wiese abgesteckt: Vier einfache Markierungen zeigen eindrücklich, was Bodenbesitz bedeuten kann und wie somit Land, Arbeit und Agrarkultur das Leben sichern oder verändern können. Wer aber besitzt diese Ressourcen tatsächlich und wie werden sie genutzt? Was ist der Mehrwert gemeinschaftlicher und fürsorglicher Lebensweisen? Wie funktionieren Räume jenseits konservativer Produktions- und Konsumlogiken? Diese Fragen stehen im Zentrum der 8. Biennale Weiertal, kuratiert von Sabine Rusterholz Petko. ‹Common Ground› beginnt bereits auf dem Weg vom Bahnhof Winterthur Wülflingen zum Ausstellungsort. Die Luzernerin Martina Lussi hat aus lokalen Geräuschen einen Klangraum gestaltet. Die Komposition kann auf eigenen Kopfhörern angehört werden – idealerweise vermengt mit den reichen Umgebungsgeräuschen. Letztere mischen sich auch in die Tonspur von Ishita Chakrabortys Installation mit Alltagsgeräuschen aus Westbengalen und Thesen zum Ökofeminismus inmitten eines Hags aus Saristoffen.
Im Weiertal lohnt sich das genaue Hinhören genauso wie das genaue Hinsehen. So ist etwa der Stapel aus ausgedienten Autoreifen kein achtlos deponiertes Zivilisationsrelikt, sondern ein eigens installiertes Ökosystem von Brigham Baker: Längst haben sich Wasserlachen in Altreifen als Brutplätze etabliert. Immer wieder lenken die Kunstwerke den Blick weg vom Anthropozentrismus hin zur Natur, wenn etwa Reto Pulfer einen Ziergarten für Pflanzen anlegt, die üblicherweise als Unkraut eingestuft werden, wenn Dunja Herzog Bienenvölkern Strohkörbe anbietet, statt der vor allem für die Bienenwirtschaft praktischen Holzkästen, oder wenn Thomas Julier den Biber ins Zentrum seiner Recherchen stellt. Gemeinsam ist allen Arbeiten ihr ephemerer Charakter. Sie fügen sich in den Garten ein, werden ihn aber nach dem Sommer wieder verlassen. Sie behaupten keinen Ewigkeitsanspruch und passen auch damit zum Ausstellungsthema: Ein gemeinsam genutzter Raum bleibt im Idealfall flexibel für neue Nutzungen, für offene Teilhabe und eine sich stetig wandelnde Balance zwischen Natur und Kultur.

→ ‹Common Ground›, Biennale Weiertal, bis 10.9.
www.biennaleweiertal.ch

Barbara Signer

Arbon — Die Stille dringt durchs Ohr ins Hirn. Dort stösst sie auf lauten Widerspruch. Denn das Auge meldet Strassenlaternen, Luftballons und blinkende, bunte Lichter. Aber der dazugehörige Verkehrslärm, das Lachen und die Unterhaltungen fehlen. Es bleibt still in der Kunsthalle Arbon, einzig das alte Industriedach knackt in der Sommerhitze. Im Kopf tönt es trotzdem, dank den Ohrwurmqualitäten des Ausstellungstitels: ‹The First the Last Eternity› – viel mehr Text hatte der 1994er Hit von SNAP! nicht, dabei gäbe es Einiges zu sagen zum Thema Ewigkeit. Barbara Signer beweist das mit einer poetischen, bildreichen Erzählung. Mit Versatzstücken aus Vergnügungsparks, aus dem urbanen Raum und aus fiktiven Welten entwirft sie einen Parcours der Optionen. Zentrale Elemente sind vier ‹Gates›: Durch das Ballontor gehen oder nicht? In den spiegelblanken, schwarzen Teich eintauchen? Im dreieckigen Tor die Richtung wechseln? Oder sich mit unbestimmtem Ziel der Kontemplation hingeben? Jedes ‹Gate› ist gleichzeitig ein Eingang und ein Ausgang, es verlangt eine Entscheidung und führt zum nächsten ‹Gate› und zur nächsten Entscheidung. Jede davon bringt die Ewigkeit ein Stück näher, jeder Schritt könnte bereits ihr Anfang sein. Ihren Sog entfalten diese Portale einerseits durch ihre Farbigkeit und Gestalt, andererseits durch ihre Kombination. Das Luftballontor beispielsweise verbreitet unbefangene Festlaune. Die Farben sind zart, die Ballons prall, nur die schwarzen Stellen stören bewusst die heitere Stimmung, sie künden von Fäulnis oder brütendem Unheil. Dahinter die schwarze Wasserfläche, beleuchtet von einem japanischen Kandelaber, sie ist mehr Spiegel als See. Sie reflektiert ihre Umgebung und verweist stets auf das Andere. ‹Gate IV (New Directions)› wiederum erzwingt die Entscheidung: Wer ins lilafarbene, dreieckige Portal eintritt, kann es nicht geradlinig durchqueren, sondern muss wählen – links beispielsweise führt der Weg zu einer überdimensionalen hellblauen Halskette, einer Mutation Brâncușis ‹Endloser Säule›.
So unterschiedlich die einzelnen Arbeiten sind, so gut spielen sie zusammen. Alles fügt sich zu einem stimmigen Ganzen: Barbara Signer konstruiert eine Übergangszone zwischen Realität und Parallelwelt. Dieser Schwebezustand besitzt magische Anziehungskraft und irritiert zugleich, er lockt mit Vertrautem und führt ins Ungewisse, vielleicht sogar in die Unendlichkeit.

→ ‹Barbara Signer – The First the Last Eternity›, Kunsthalle Arbon, bis 23.7.
↗ www.kunsthallearbon.ch

Kunst und Frosch im Garten

Quak! Ist es Kunst? Quak! Eine Soundinstallation? Quak! Eine Performance? Es ist ein Frosch! Einer, der einfach da ist, echt und leibhaftig, und bei jedem Quaken die Backen aufbläst wie aus dem Bilderbuch. Typisch Kulturort Weiertal: Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen eigens Inszeniertem und dem, was sowieso da ist. Die Natur hat den Garten mitgestaltet, der zuvor von Menschenhand entworfen wurde. Dieser Garten wiederum ist Bühne, Partner und Ausgangspunkt für die Kunst. In diesem Jahr für «Common Ground»: Die aktuelle Ausgabe der Biennale Weiertal untersucht das Potential gemeinschaftlich genutzter Orte – ob am Rande Winterthurs oder überall sonst in der Welt. Sie stellt sich ökologische, ästhetische und soziale Fragen, denkt an die Tiere, an kulturelles Erbe, an künftige Herausforderungen. Diese grossen Themen kommen im Weiertal leichtfüssig daher. Das mag an der Stimmung im sommerlichen Garten liegen, aber auch an der Flüchtigkeit der Kunst: Hier im Kulturort Weiertal sind die 17 künstlerischen Positionen nur zu Gast. Der Frosch jedoch darf bleiben.

‹Common Ground›, Biennale Weiertal, bis 10.9.
www.biennaleweiertal.ch