Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Zwei Sammler, Künstler, Konstrukteure

Der Kunstraum Kreuzlingen zeigt mit «Kosmos» und «Self Storage» zwei Ausstellungen, die für sich stehen, sich aber verzahnen und ergänzen. Die beiden Künstler – Martin Spühler und Martin Anderegg – verbindet das Interesse am Potential des Aussortierten, Alten, für unbrauchbar Erklärten.

Im Pariser Musée d’Art Moderne zeigt der Maler Albert Oehlen seinen Blick auf den 2012 verstorbenen Bildhauer Hans Josephson. Im Kunstmuseum Appenzell präsentiert die Künstlerin Daiga Grantina ihre Sicht auf die 1997 verstorbene Bildhauerin Kim Lim in Wechselwirkung mit ihren eigenen Werken. Im Kunstraum Kreuzlingen hat Martin Anderegg den Metallplastiker Martin Spühler (1943–2023) in Szene gesetzt. Verstorbene Künstlerinnen und Künstler durch eine aktuelle künstlerische Brille zu betrachten, hat sich zu einem Trend entwickelt. Verwunderlich ist das nicht, denn der künstlerische Zugang ist ein anderer und freierer als jener von Ausstellungsmachern oder Kunstwissenschafterinnen. Wenn das Verständnis für den kreativen Prozess durch die eigene künstlerische Arbeit geprägt ist, erlaubt dies eine intensive, persönliche Auseinandersetzung mit dem Werk der Anderen. So hat Martin Anderegg für das Werk Martin Spühlers einen besonderen Filter installiert: Wer den Kunstraum Kreuzlingen betritt, steht einem roten, halbtransparenten Kunststoffvorhang gegenüber. Dieser schirmt den Ausstellungsraum ab und erfordert einen Umweg, bis sich schliesslich ein schmaler Durchgang auftut. Erst dann sind Spühlers Klangkonstruktionen in voller Pracht zu sehen: Die Drehteller mit Haken und Holzklöppeln. Die verfremdeten Flöten in einem Metallbehälter. Die umgebauten Pianos, deren Hämmerchen nicht auf Saiten schlagen, sondern gegen Löffel, Stahlfedern und etwas, das ein Kerzenständer gewesen sein könnte. Die «Streichelkanone», die «Tropfsäule», die «Stichorgel» und ihre Verwandten. Werden sie angeschlagen, gedreht, geschwungen oder mit dem Bogen gestrichen, tönen diese Klangplastiken in vielfältigen Klängen von glockenhell bis donnernd tief. Hier zu musizieren ist freilich nur Profis erlaubt, aber auch visuell geben die ungewöhnlichen Instrumente einiges her. Das geschwärzte Metall, die Beulen, Dellen und ausgefransten Kanten strahlen eine Endzeitästhetik aus.

Abfall wird Instrument

Martin Spühler, der seine künstlerische Arbeit als Puppenspieler begann, baute seine Musikobjekte aus Abfallmaterial. Er fand die Teile als Schrott in Mulden, suchte Gebrauchtes, Altes und Ausgedientes zusammen. Er hämmerte, lötete, schweisste. Darauf nimmt Martin Anderegg Bezug. Denn der rote Vorhang ist aus Werkstattfolien zusammengestückelt, wie sie beim Abschirmen von Schweissarbeiten zum Einsatz kommen. Sie sollen Funkenflug stoppen und das grelle Licht abschirmen. Martin Anderegg bestückt den roten Vorhang mit kleinen Magnetkettchen und verleiht ihm so einen Hauch Glamour. Diese Verfremdungseffekte sind kennzeichnend für seine Werke, die bis auf den roten Vorhang im Untergeschoss zu sehen sind. Diese Platzierung hat der Künstler treffend ausgewählt. Hier, in künstlichem Licht, unter niedriger Decke und zwischen rauen Betonmauern und -pfeilern entfalten Andereggs Werke ihren zuweilen unheimlichen, oft düsteren Charakter.

Gespenstisches im Halbdunkel

Auch Martin Anderegg hat eine Vorliebe für Aussortiertes, Übriggebliebenes, aus der Zeit Gefallenes. Er montiert alte Uhrengehäuse zu Zellen zusammen, die an fantastische Architekturen oder Labyrinthe erinnern. Masken montiert er auf Schuhe oder Handschuhe, gespenstisch blicken sie ins Halbdunkel. Einen rosafarbener Plüschelefant klammert er in achtfacher Ausfertigung ans Unendlichkeitszeichen.
Martin Anderegg kann alles verwenden. Von der Lampe bis zum Fahrzeugkatalysator, von Schlacke bis zu getrockneten Pflanzen. Zusätzlich vervielfältigt er Dinge im 3D-Druck, so setzt er beispielsweise mit Ratten- und kleinen Adlerfiguren zusätzliche Akzente. Andereggs Materialsammlung ist gross und ständig kommt Neues hinzu. Bei Martin Spühler ist das Werk zwar abgeschlossen, dennoch lebt es weiter. Dafür sorgt während der Ausstellungsdauer die Konzertreihe «Les Concerts de Noëlle» von und mit der Musikerin Noëlle-Anne Darbellay. Zeitgenössische Musik wird dann zusammen mit neuen, eigens für die Klangobjekte Martin Spühler konzipierten musikalischen Kreationen aufgeführt.

Samstag, 7. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº1, 18:00 – 20:00
Mit Réka Csiszér, Noëlle-Anne Darbellay, Olivier Darbellay und Stefan Wirth.

Samstag, 14. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº2, 18:00 – 20:00
Mit Max Murray, Matthias Klenota und Noëlle-Anne Darbellay.

Samstag, 21. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº3, 18:00 – 20:00
Mit Ariane Koch, Noëlle-Anne Darbellay, Justin Auer, Matthias Müller, René Camacaro und Juan Braceras.

Notiert: Heimspiel

Im Osten ist wieder «Heimspiel»-Zeit: Das jurierte Ausstellungsformat findet alle drei Jahre in Ostschweizer, Vorarlberger und Liechtensteiner Institutionen statt. In diesem Jahr wurden knapp 500 Bewerbungen eingereicht. Wie bereits 2021 wurden die Dossiers nicht von einem externen Gremium juriert, sondern von den Kuratorinnen und Kuratoren der beteiligten Häuser, die daraus jeweils eigenständige thematische Ausstellungen entwickelten. Unter dem Titel «Der Stoff, aus dem die Gegenwart besteht» sind im Werk2, der ehemaligen Webmaschinenhalle in Arbon, künstlerische Positionen versammelt, die sich im weitesten Sinne mit Textilien auseinandersetzen oder Stoffe thematisieren, die unsere Gegenwart prägen. Der Kunstraum Dornbirn zeigt mit «Ort und Raum» vier bildhauerische Positionen unterschiedlicher Generationen. Im Kunsthaus Glarus berührt «Gestalt» thematisch Bereiche an der Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Kunst Halle Sankt Gallen feiert mit «Uncanny Unchained: The Power of Weird» das Seltsame, das Unheimliche und das Extravagante gleich einem Kuriositätenkabinett. Im Kunstmuseum St.Gallen thematisiert in «La Reservoir» die Kunst als Quelle für Zukunftsideen und als Speicher für Veränderungen und Weiterentwicklung. AUTO – der Projektraum der Visarte Ost – fungiert in bewährter Weise als interaktive Dokustation mit allen eingereichten Dossiers.
 
diverse Orte, 14.12.2024–2.3.2025
heimspiel.tv

Notiert: Maschinenmensch aus Teufen

Die Idee humanoide Roboter zu bauen ist alt – und fortwährend aktuell angesichts von Personalengpässen in der Altenpflege, der Kinderbetreuung, an der Hotelrezeption. Der Maschinenmensch ‹Sabor› konnte immerhin Feuer geben, Blumen überreichen und sich ferngesteuert vorwärts bewegen. Er war der Hingucker an der Landesausstellung 1939 in Zürich, an der Weltausstellung 1958 in Brüssel, reiste nach London, Haifa, Hamburg und New York. Irgendwann in den 1970ern ging er vergessen und wurde schliesslich ins Elektrizitätsmuseum «Primeo Energie Kosmos» in Münchenstein gestellt. Nun kehrt er zurück an seinen Ursprungsort: ins ausserrhodische Teufen. Dort hat August Huber im Jahr 1923 als zwölfjähriger Bub die erste Version seines Roboters erdacht und immer weiter entwickelt. Funktionsfähig ist er inzwischen nicht mehr, eindrucksvoll aber nach wie vor, wie die aktuelle Ausstellung im Zeughaus Teufen zeigt. Sie präsentiert den fast zweieinhalb Meter grossen Metallkoloss und umfangreiches Archivmaterial in fünf Kapiteln. ‹Sabor› wird in einen historischen und geografischen Zusammenhang gestellt, seine Entwickler und Steuermänner erhalten Aufmerksamkeit ebenso wie seine Geschwister, etwa das ‹Hula-Hoop-Gritli› oder das ‹Strick-Lineli›. Im Kapitel zu ‹Sabors› Reisen ist eine bisher unpublizierte Fotostrecke des ‹LIFE Magazine›-Fotografen Ralph Crane zu sehen. Das Begleitprogramm schlägt die Brücke vom künstlichen Menschen zur künstlichen Intelligenz. ks

‹Sabor. Der erste Maschinenmensch aus Teufen›, Zeughaus Teufen, bis 9.2.
zeughausteufen.ch

Zwei Künstlerinnen im Zusammenklang

Die Werke von Kim Lim sind in wichtigen öffentlichen Sammlungen vertreten, oft ausgestellt wurden sie zu Lebzeiten der Künstlerin nicht. Jetzt sind sie im Kunstmuseum Appenzell zu sehen: Daiga Grantina hat sich der Arbeit von Kim Lim künstlerisch assoziativ angenähert.

Appenzell — Zwei Positionen aus verschiedenen Räumen, Kontexten und Zeiten in einer dialektischen Zusammenschau – wie das funktionieren kann, zeigen Daiga Grantinas ‹Notes On Kim Lim›. Die 1936 in Singapur geborene Lim lebte ab 1954 bis zu ihrem Tod 1997 in London und arbeitete dort geschult an der Moderne und sich doch abgrenzend von dieser. Grantina, 1985 in Lettland geboren, lebt in Paris und untersucht mit abstraktem Vokabular Körper und Landschaften. Obgleich Jahrzehnte zwischen beiden Oeuvres liegen, sind die Bezüge stimmig und schlüssig. Das liegt nicht nur an den Werken selbst, sondern an Grantinas sorgfältiger Annäherung. Sie hat Lims Arbeiten im Londoner Nachlass eigehend studiert, Verwandtschaften entdeckt und lustvoll inszeniert. In jedem Raum des Kunstmuseum Appenzell hat sie zunächst ein Werk platziert und davon ausgehend nach passenden Zusammenklängen gesucht. So trifft beispielsweise Lims ‹Water Piece›, 1979 auf ‹Clinging, craving›, 2022: Die lebendige Patina der Bronzebecken findet ihren Widerhall in den Farbtupfen auf dem Edelstahlgestänge. Das Wasser spiegelt den Aussenraum neben dem Fenster des Museums. Dieses Scharnier zwischen innen und aussen korrespondiert mit der Durchlässigkeit des begehbaren Rahmens aus den geknickten Metallstäben.
Kim Lim drückt Poesie und Sanftheit in harten Materialien aus, in Marmorblöcken, Portland-Stein, Metall oder Holz. Bei Daiga Grantina sind die Werke weniger fest gefügt als flüchtig, schwer zu fassen in ihrer Form. Sie arbeitet mit Folien, Fäden, Silikon, Ästen, verbindet sie zu räumlichen Gesten in fragiler Balance. Beide Positionen verstärken einander gegenseitig: Die Präzision der einen Künstlerin trägt die Freiheit der anderen. Deren Energie wiederum wirkt zurück auf die feste, klar abzulesende Form der älteren Werke. Eine Brücke schlagen auch das Haus selbst und die Präsentation. Daiga Grantina hat Sockel entworfen, die sie «Wandvorsprünge» nennt oder «Raumecho». Diese vorkragenden, jeweils auf die gesamte Wandlänge gedehnten Konsolen heben die Skulpturen und Objekte auf über Augenhöhe. Sie fangen das Oberlicht des Hauses ein, werfen es zurück an die Wand und bringen die gezeigten Werke gleichsam zum Schweben. Die Atmosphäre in der Ausstellung ist beschwingt und doch konzentriert. Dazu passen die Stimmen im geplanten Künstlerinnenbuch: Katalin Déer wird eine fotografische Spur legen und Ilma Rakusa trägt Gedichte bei.

‹Daiga Grantina. Notes on Kim Lim›, Kunstmuseum Appenzell, bis 4.5.
kunstmuseum-kunsthalle.ch

Kreise Ziehen

Helene Sperandio und Cristina Witzig zeigen ihre jüngsten Werke in einer Doppelausstellung in der Lokremise St.Gallen.

Helene Sperandio und Cristina Witzig zeigen gemeinsam ihre aktuellen Werke in der Lokremise St.Gallen. Helene Sperandio verbindet ihre konzeptuellen Auseinandersetzung mit Malerei mit ihrem Interesse an der Geologie. Als Ausgangspunkt dienen ihr die intensiven vulkanischen Aktivitäten der Phlegräischen Felder in Pozzuoli, in der Nähe von Neapel. Die in Adliswil (bei Zürich) und Azmoos im St.Galler Rheintal lebende Künstlerin ist zu diesem Vulkanfeld gereist, hat Sedimente gesammelt und die aufsteigenden Schwefeldämpfe beobachtet. Sie hat sich mit der erdgeschichtlichen Bedeutung dieses Supervulkans beschäftigt und ihre künstlerische Arbeit auf der Basis ihrer theoretischen und empirischen Studien weiterentwickelt. In der Lokremise St.Gallen zeigt sie «Campi Flegrei», 2020–2022 – bestehend aus einem zwanzigteiligen Gemälde und einem zwanzigteiligen Aquarell. Gemalt sind beide ausschliesslich mit Erdpigmenten, die in einem ausgeklügelten Rhythmus aus insgesamt sechs Farben in je drei Farben pro Bild und Blatt verwendet werden. Im Gemälde fügen sich die Einzeltafeln mit diesem bewusst reduzierten Farbreservoir zum Porträt eines Steines vulkanischen Ursprungs, den sie von den Phlegräischen Feldern mitgebracht hat. Zu sehen sind seine rötlichen Einschlüsse und seine braunen Adern. Einer Wolke gleich schwebt er vor tiefer Dunkelheit und öffnet einen weiten Interpretationsspielraum, er lässt sich gleichermassen lesen als kleines Objekt, das kosmischen Ursprung in sich trägt, wie als Sinnbild für die unter der Erdoberfläche eingeschlossene Energie. Der dunkel homogene Hintergrund verändert sich von heiss leuchtendem Rot am unteren Rand des Bildes zu einem tiefen, noch immer von Rot durchdrungenem Grün nach oben hin. Der Übergang ist fliessend, unmerklich. Die Grundlage des sonoren Farbklanges des gesamten Gemäldes wird im zwanzigteiligen Aquarell auf Einzelblättern ausformuliert. Es ist ein Baukastensystem, das jedoch durch den Fluss der Wasserfarben nicht statisch bleibt. An manchen Stellen konzentrieren sich die natürlichen Pigmente, bilden körnige Farbinseln, an anderen ist der Farbauftrag fast vollständig durchsichtig, um sich an den Rändern wieder zu einer klaren Kontur zu sammeln. Dem Farbplan des Gemäldes entsprechend verändert sich der Dreiklang jeden Bildes von dominierendem Grün links oben zu rötlich warmen Farben links unten – damit sind diese Blätter ein abstraktes Porträt des vulkanischen Steines.
Auf den drei Kupfertafeln «CAMPIFLEGREI», 2024 ist die italienische Bezeichnung des Vulkanfeldes zu lesen. Jeder Buchstabe liegt dabei passgenau über dem vorherigen. So ergibt sich in jedem Bild der Serie ein dichtes typografisches Bild, dessen Überlagerungen ein Äquivalent bilden zur Geschichte des Ortes. Auch das Material selbst stellt den Bezug her: Die Erze des Kupfers sind magmatischen Ursprungs.
«Terra incognita», 2024 porträtiert die in den Phlegräischen Feldern austretenden Erdgase mit adäquaten Materialien: Auf Basaltgeweben malt Sperandio mit reinem Schwefelpigment und Goldschwefel, einer seit dem 16. Jahrhundert bekannten chemischen Verbindung zwischen Antimon und Schwefel. Die Künstlerin zeigt viermal einen Landschaftsausschnitt mit unterschiedlich aufsteigenden Gaswolken. Die Malerei und ihr Motiv gehen in diesen Bildern eine Symbiose ein: Sowohl mit dem Basaltgewebe als auch mit dem Schwefel als Farbmaterial ist ein enger Bezug zum Vulkanfeld gesetzt. Das Motiv eröffnet zugleich eine zeitliche Dimension. Einen anderen Weg geht Sperandio mit der Mikroskop-Fotografie: Das naturwissenschaftlich relevante Material wird hier nicht in seiner unmittelbaren Form, sondern als Motiv in die Kunst übertragen. «Fabula», 2024 ist das Resultat eines langen und sorgfältigen Auswahlprozesses, des gezielten Einsatzes von Licht und der Entscheidung für den richtigen Ausschnitt. Zu sehen sind die rötlich braune Grundfarbigkeit, kleine hell strahlende Einschlüsse, die Linie der Flüssigkeit auf dem Trägerglas und das flimmernde Licht. Die Farbigkeit und die Zusammensetzung des Bildes aus Konturen, weichen Übergängen, hellen und dunklen Partien steht in enger Verwandtschaft zu Sperandios Gemälden.
Sperandios Interesse an der Erdgeschichte trifft in der Ausstellung auf Cristina Witzigs Auseinandersetzung mit persönlicher und Gesellschaftsgeschichte. Die in Weinfelden lebende Künstlerin arbeitet mit fotografischen Archiven. Sie sammelt historisches Bildmaterial aus unterschiedlichen Quellen und erarbeitet thematisch und formal motivierte Zusammenstellungen: Frauen in Tracht, Männer im Anzug posieren neben Blumenarrangements oder in künstlich angelegten Landschaften, daneben Hochzeitsbilder oder Familienaufnahmen. Cristina Witzig wählt bei den Fotografien einen quadratischen Ausschnitt, damit lenkt sie die Aufmerksamkeit auf Details, auf eine einzelne Blüte, einen Ohrring oder eine auf die Hüfte gestützte Hand – kleine Symbole für Status, für den Wunsch nach Repräsentation, für zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein oder für die Ehrfurcht gegenüber der Kamera. Cristina Witzig transformiert die vorgefundenen Motive in einer weiteren Arbeitsstufe: Sie überträgt sie mit dem Pinsel und blauer oder roter Glasur auf Keramikkacheln. Mit der malerischen Transformation gleicht die Künstlerin das heterogene Ausgangsmaterial an: Manche der Fotografien stammen aus Fotoalben der eigenen Familie, andere sind Flohmarktfunde, es gibt professionelle Aufnahmen mit touristischem Hintergrund oder Bilder unbekannter Herkunft. Die monochrome Farbigkeit schafft eine gemeinsame Grundstimmung, zusätzlich gleicht der Duktus des Pinsels die Details und Konturen an. Die Farbe fliesst und wird anschliessend durch den Brennvorgang in dieser Bewegung verewigt.
Während die roten Kacheln Bezug nehmen zu den Werken Helene Sperandios – sowohl motivisch durch die Art der Pflanzen, wie sie auch in der Umgebung der phlegräischen Felder vorkommen, oder den heissen Qualm der Industrieanlagen, als auch durch die Farbigkeit, die den Rottönen in Sperandios Gemälden verwandt ist – sind die blauen Farbtöne historisch bestimmt: Die Kacheln sind verwandt mit den Azulejos, den quadratischen Fliessen, die auf der iberischen Halbinsel an Gebäudefassaden und Innenwänden zu finden sind. Cristina Witzig hat portugiesische Wurzeln, ihr ist diese Art der Gebäudegestaltung daher sehr gut bekannt. Sie hat die Kacheln in Portugal in einer dafür spezialisierten Werkstatt bemalt und anschliessend brennen lassen. Die Azulejos sind nicht nur Fassadenschutz, sondern zudem ein architektonisches Dekorelement; diesen Aspekt spiegelt Cristina Witzig auch in ihrer Arbeit: In ihrer Motivwahl zeigt sie das Bedürfnis der Menschen nach Dekor. Es drückt sich aus im Schmuck, in den Frisuren und im gesamten Habitus der porträtierten Personen wie auch in den Blumenarrangements.
Ein weiteres Bezugssystem eröffnet die Künstlerin mit der Farbigkeit der Kacheln: Das Blau steht in einer langen Tradition der Farbsymbolik. Im christlich-religiösen Kontext steht es für die Reinheit und das Göttliche, in Literatur und Kunst für Klarheit, Harmonie und Ruhe. Auch mit der Sehnsucht wird es in Verbindung gebracht und mit der Ferne. Diese Deutungsmöglichkeiten treffen auf die Inszenierung von Exotik in den vorgefundenen Fotografien, auf die Symbolik eines Hochzeitskleides oder die Weite eines Landschaftsausschnittes. Und das Blau der Keramikkacheln reiht sich ebenso ein in Cristina Witzigs Schaffen: Auch in ihren Arbeiten mit Wasserfarben auf Papier wählt sie oft blaue Farbtöne. Und in ihrem Stop Motion Film «Der Kuss» kreist ein grosser blauer Punkt um eine liegende Frau. Sie blickt in die gleiche Richtung wie die Menschen vor dem Monitor, zu sehen sind ihr Rücken, ihr Hinterkopf, nicht ihr Gesicht. Damit wird sie – wie die prominenten Rückenfiguren der Kunstgeschichte etwa bei Caspar David Friedrich – zur Projektionsfläche für die Gedanken, Assoziationen, Stimmungen der sie betrachtenden Menschen. Der blaue Punkt trägt diese Assoziationen mit sich. Mit seinem Kreisen lenkt er die Blicke und bildet gleichzeitig die Brücke zum Ausstellungsmotto.

Saaltext für die Doppelausstellung in der Lokremise St.Gallen vom 22. bis 24. November

Wenn aus Treibgut Druckgrafik wird

Die 16. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse präsentierte künstlerisches Handwerk aus fünf Ländern im Eisenwerk Frauenfeld: Über 50 Ausstellerinnen und Aussteller aus den Bereichen Grafik, Buchkunst, Buchbinderei, Papierhandwerk und Druck sorgten für eine stimmige Atmosphäre. Laien und Profis schätzen den Austausch gleichermassen.

«Es lohnt sich, so ein Plakat zu kaufen. Er ist weltberühmt.» – Der so unter den Gästen Weiterempfohlene ist Dafi Kühne, Ehrengast der 16. Buch- und Druckkunst-Messe im Eisenwerk in Frauenfeld. Tatsächlich werden die Arbeiten des Glarner Gestalters international ausgezeichnet und ziehen stets die Aufmerksamkeit auf sich. So auch an der diesjährigen Werk- und Verkaufsschau in Frauenfeld, die auch unter dem Namen Handpressenmesse bekannt ist. Kühne sorgte für einen wirkungsvollen Auftakt im Foyer der Ausstellungshallen. Er hatte zahlreiche seiner Plakate mitgebracht und präsentierte sie schwungvoll den Schaulustigen.
Bereits am Freitag zog die Messe viele interessierte Laien und Profis an, auch Schulklassen gehörten zu den Gästen. Auffällig war die lange Verweildauer des Publikums an allen drei Messetagen.

Entdecken, Stanzen, Drucken
Die Besucherinnen und Besucher liessen sich von den zahlreichen Mitmachaktionen anregen. So hatte das Frauenfelder Antiquariat Vivarius ein Büchlein ausgewählt, bei dem die Seitenanzahl und das Druckjahr zu erraten waren. Der Preis: ein handverlesenes Bändchen aus dem Insel-Verlag. An anderen Messeständen wurde geprägt, gedruckt und gefaltet.
Percy Penzel beispielsweise hatte eigens die Linotype-Zeilensetzmaschine aus dem Typorama ins Eisenwerk gebracht. Bei Michael Diebold von Petite Ourse konnte ein Notizbuch mit goldgeprägten Initialen versehen werden. Und für alle, die ihre Messeeinkäufe stilvoll nach Hause transportieren wollten, bot Hagmann Siebdruck das Bedrucken von Baumwolltaschen an.
Viele der Ausstellerinnen und Aussteller reisten von weither an – die Handpressenmesse hat sich längst zu einem Treffpunkt in der Buch- und Druckkunstszene weit über die Schweiz hinaus entwickelt: Auch Vereine, Verlage, Werkstätten und Ateliers aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Liechtenstein gehören zu den regelmässig Teilnehmenden. Fred Lautsch, der Ehrengast aus dem Jahr 2022, reiste aus Stralsund an und hatte Treibgut als Druckstock im Gepäck oder wie er es an seinem Messestand beschrieb: «Das ist das Meer.» Er hat die weichen Teile des Holzes ausgewaschen, so dass sich mit der stehengebliebenen Maserung grafische Druckkunstwerke gestalten lassen. Auch Barbara Brübach alias fettetypen hatte einen weiten Weg: Ihre Hochdruckwerkstatt ist in Niedersachsen. Die Gestalterin war zum zweiten Mal in Frauenfeld dabei und schätzt hier besonders den Austausch mit anderen Fachleuten, der im Alltag oft zu kurz kommt. So berichtete es auch Felix Flesche von der Letternpresse im bayerischen Wessling. Vor zwei Jahren war er als Besucher in Frauenfeld und nun erstmals mit einem eigenen Stand. Sein Schwerpunkt ist das Drucken mit Tagesleuchtfarbe auf kleinen Formaten. In Leonie Amslers Atelier Mirla stehen die Pflanzen im Mittelpunkt. Die Baslerin war ebenfalls neu als Ausstellerin an der Messe und präsentierte ihre Monotypien – ein selten gewordenes Handwerk, das an der Handpressenmesse am richtigen Ort ist. Jede Monotypie ist ein Einzelstück, genau wie die ausgestellten Künstlerbücher des Forum Künstlerbuch Basel.

Von der Streichholzschachtel zum Weltformat
Das Künstlerbuch darf vieles, was andere Bücher nicht können oder dürfen oder nur ausnahmsweise. Sie kommen in Streichholzschachtelform daher oder als Memory, als Leporello oder als handgemaltes Unikat. Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Schweiz publizieren hier. Die ganze Vielfalt der Druckkunst präsentiert druckwerk print and art. Der Verein betreibt in Basel ein offenes Atelier und Dorothee Dieterich betont: «Wir haben alles ausser Siebdruck.». Wie viele andere Ausstellerinnen und Aussteller arbeitet der Verein auch in der Vermittlung. Das gilt beispielsweise für die Handbuchbinderei Merten aus Gottlieben am Bodensee oder das Basler Kunsthandwerk «Buchbinden». Bei der ersten wurden alle angesprochen, die selbst gern von Hand schreiben: mit ebenso schönen wie praktischen Notizbüchern. Die zweitgenannte hat sich unter anderem auf das Binden von Partituren spezialisiert. Verlage wie der Zürcher Triest Verlag, die Verlagsgenossenschaft St. Gallen oder die Dahlemer Verlagsanstalt aus Berlin präsentierten gut gestaltete Bücher mit Covern von grafisch bis typografisch, von malerisch bis fotografisch. Andere Stände boten Kalender für das kommende Jahr und bei Annegret Frauenlob, die nach 2016 und 2022 zum dritten Mal an der Messe teilnahm, war zu erfahren, dass bereits der Kalender für 2026 in Planung ist. Dann findet auch die nächste Handpressenmesse statt. Das neue Team rund um die Co-Präsidentinnen Berrit Fuhrmann-Stieler und Karin Gubler ist bereits an der Arbeit für die nächste Ausgabe.

Rückblick Handpressenmesse 2024 (www.buch-und-druckkunst-messe.ch)

Notes on Kim Lim – zwei künstlerische Positionen im Zusammenklang

Vergessene Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts gehören seit einigen Jahren zu den Neu- und Wiederentdeckungen in Museen, an Biennalen oder der Documenta. Eine dieser Wiederentdeckten ist Kim Lim. Die Künstlerin Daiga Grantina zeigt im Kunstmuseum Appenzell ihren Blick auf die Britin.

Kim Lim wurde 1936 in Singapur geboren, ging 1954 zum Kunststudium nach London – und blieb. Bis zu ihrem Tod 1997 arbeitete sie als Bildhauerin, fotografierte und zeichnete. Ihr Werk ist in zahlreichen Sammlungen vertreten und wurde doch zu ihren Lebzeiten selten ausgestellt, vor allen nicht ausserhalb Grossbritanniens. Daiga Grantina arbeitet ebenfalls im dreidimensionalen Bereich. Der Begriff Bildhauerin klingt aber angesichts ihrer fragilen Werke aus Textilien, Bindfäden, Kunststoff und Naturmaterialien veraltet. Sie ist 1985 in Saldus in Lettland geboren und lebt in Paris. Sie studierte Kunst in Hamburg und Wien und hat in ihrem Lebenslauf bereits viele internationale Ausstellungen vorzuweisen.

Ein gutes Ausstellungsrezept

Wie lässt sich das Werk zweier Künstlerinnen aus so unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen gemeinsam ausstellen? Kann dabei mehr herauskommen als ein zeitgleiches Nebeneinander? Es kann, wenn die Zutaten stimmen: die Qualität der künstlerische Positionen und die klare Architektursprache des Kunstmuseum Appenzell. Aber die Ingredienzen sind nicht alles. Sie müssen auch im richtigen Verhältnis stehen. Dafür hat Stefanie Gschwend, seit zwei Jahren Direktorin des Kunstmuseums, die Künstlerin Daiga Grantina gebeten, ihren Blick auf Kim Lims Werk zu zeigen. Zunächst hat Grantina den Nachlass Lims studiert und schnell entdeckt, dass die Werke aus Holz und Stein mehr sind als steife, strenge Formen. Kim Lim bezieht sich zwar auf die klassische Moderne, hat aber auch fernöstliche Referenzen eingefügt. Wasser, Wind, Wellen und das einfallende Licht sind wichtige Komponenten ihrer Arbeit. Diese Elemente interessieren auch Grantina. Sie lässt sich von der Wasseroberfläche inspirieren oder integriert Vogelfedern in ihr Werk. Im Kunstmuseum Appenzell treffen beispielsweise Grantinas «Blue Sun» und Lims «Intervalle» aufeinander. Grantina rückt die Sonne als Quelle des Lichts ins Zentrum: Eine halbkreisförmige, blaue Scheibe ist teilweise verborgen hinter einem zarten Schleier aus transparentem Wachs. Sie wird zum Gestirn des Ausstellungssaales. Kim Lim hingegen wählte die strenge geometrische Form: Lange Rechtecke sind von horizontalen Einschnitten unterbrochen. Mit dem Wechsel von Material und Leerstelle konstruierte die Künstlerin einen Rhythmus aus Licht und Schatten.

Licht und Poesie

Für die Präsentation im Kunstmuseum Appenzell hat Grantina in jedem der zwölf Ausstellungsräume zunächst ein Werk positioniert; entweder ein eigenes oder eines von Kim Lim. Davon ausgehend hat sie nach Verwandtschaften gesucht, andere Werke hinzugefügt und positioniert. Dabei hat sie auch auf die Fenster des Museums geachtet und auf die besondere Lichtsituation der Räume. Eigens für die Ausstellung hat die Künstlerin Sockel entworfen, die sie «Wandvorsprünge» nennt oder «Raumecho». Sie sind nicht freistehend, sondern an die Ausstellungswand angebaut. Ihre Stellflächen liegen auf über Augenhöhe und fangen das von oben einfallende Licht ein. Auf diesen hohen, lichten Flächen verlieren die Skulpturen und Objekte ihre Schwere und beginnen zu schweben.
Die poetische Grundstimmung der Ausstellung wird sich auch im geplanten Buch fortsetzen. Dafür tragen die Lyrikerin Ilma Rakusa Gedichte bei und die St.Galler Künstlerin Katalin Déer richtet ihren Blick auf die beiden Positionen. Zur Buchvernissage am 4. Mai 2025 wird ausserdem die polnische Klangkünstlerin und Komponistin Anna Zaradny eine klangliche Notiz gestalten.

Was Sie schon immer über den Kunstbetrieb wissen wollten

Kunst und Kommerz, Kunst und Kopie, Kunst und neue Medien – Ansätze für theoretische Auseinandersetzungen gibt es viele. Aber selten werden sie so schwungvoll in die Praxis übersetzt wie in der aktuellen Ausstellung der Kunst Halle Sankt Gallen.

St.Gallen — Bunt, unterhaltsam, fotogen – die in der Kunst Halle Sankt Gallen ausgestellten Werke machen Spass, sehen gut aus oder beides. Basketbälle liegen griffbereit am Boden. Plüschtiere grinsen in den Raum. Ein paar Meter weiter fährt ein Zombie auf der Harley vor. Spiegelwände vervielfachen raumhohe Bilderlebnisse und Mona Lisa leuchtet sanft vor sich hin. Die Kunst ist vergnüglich, bietet leichte Einstiege; anspruchslos ist sie allerdings nicht. Der Künstler Cory Arcangel hat gemeinsam mit Kunsthallendirektor Giovanni Carmine eine Ausstellung kuratiert, die in drei Räumen fast alles über Kunstrezeption erzählt, was sich zu erzählen lohnt. Wer sich beispielsweise in eines der drei bequemen Sofas fallen lässt, erhält in Videos von Jason Musson gemeinsam mit dem Plüschhasen Ollie einen Crashkurs in angewandter Kunstgeschichte: Eignet sich Kunst zur Selbstinszenierung? Unbedingt! Lässt sich Genialität erlernen? Mach es wie Picasso! In einem von karikierten Kunstwerken geschmückten Fernsehstudio tritt der spanische Meister gleich selbst auf und verrät seine Strategien. Solche braucht es auch dann, wenn der Markt die Kunst zu vereinnahmen droht. Barbara Kruger wehrt sich mit ‹Don´t Be a Jerk›, 2017. Sie reagiert auf die Übernahme ihrer Lettern durch eine Skatermarke, in dem sie im Gegenzug Skateboards in Kunstwerke transformiert. Das Kunstkollektiv Bernadette Corporation wiederum spielt mit den Logiken von Werbung, Ware und Wirtschaft, wenn es violett schimmernde Basketbälle mit transformierten Logos produzieren lässt. Auch die Digitalisierung der Kunst und deren massenhafte mediale Aneignung und Verbreitung werden thematisiert. So streamt beispielsweise Emily Sunblad das Datenblatt zu einem ihrer Werke aus dem Kunsthaus Zürich in die Kunst Halle Sankt Gallen: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist nicht mehr an einen Ort gebunden. Und es kann darüber hinaus aufgeblasen, in Bewegtbild und in Kulissen zur Selbstdarstellung übersetzt werden. Cory Arcangel persifliert im letzten Raum der Ausstellung mit ‹All I EAT IN A DAY›, 2024 den Trend zu immersiven Ausstellungen: gross, grösser, riesig, aber basierend auf Reproduktionen. In diesem Falle ist ein klassischer Picasso-Katalog in ein Spiegelspektakel verwandelt. Das funktioniert: Prompt werden die Mobiltelefone gezückt und die Kameras aktiviert. Diese Ausstellung liefert nicht einfach Theorien, sondern Beispiele, Erlebnisse und humorvolle Kritik.

All I Eat IN A DAY, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 1. Dezember 2024
k9000.ch

Marcel van Eeden — Investigative Kunst

Das Kunst Museum Winterthur wird zum Auftraggeber für Kunst: Marcel van Eeden hat für die Villa Flora eine Zeichnungs- und Fotoserie erarbeitet. Er widmet sein künstlerisches Interesse der früheren Hausherrin Hedy Hahnloser. Van Eedens Projekte basieren auf gründlichen Recherchen und vielfältigen Bildquellen. Er fügt historische Zeitungsausschnitte, Postkarten, Magazine, Werbematerialien und Fotos zu Bilderzählungen. Sie sind stets vor dem Jahr 1965 angesiedelt, dem Geburtsjahr des Künstlers, und liefern dichte Porträts aus der zeit des frühen 20. Jahrhunderts.

Wer die Ausstellungsräume der vor kurzem wieder eröffneten Villa Flora betritt, wird von einem heiteren Porträt ebendieser Villa begrüsst. Henri Charles Manguin hat es 1912 gemalt. Er bettet das Haus hat das Haus von Hedy und Arthur Hahnloser ins dunkelgrüne Laub der Bäume, zwischen Blumenrabatten und einer Pergola. Freundlich weiss leuchtet die Fassade unterm orangeroten Dach. Die Gegenthese zu dieser Idylle findet sich ein Stockwerk darüber. Dort zeigt Marcel van Eeden derzeit eine andere Sicht auf ‹Die Villa› – so der Titel seiner Arbeit für das Winterthurer Museum. Das erste Blatt der Serie stimmt ein auf alle folgenden: Die Buntfarben fehlen, ebenso die Bäume und der Garten. Scharf hebt sich das Weiss der Fassade vom Schwarz der Fensteröffnungen ab. Auch die Veranda liegt vollständig im Dunklen. Düster und abweisend präsentiert sich das Wohngebäude, bezeichnet ist es im Stil der Stummfilmzeit mit der Texteinblendung «The Villa». Und wie in einem Film beginnt mit diesem Bild eine Erzählung. Sie führt ins frühe 20. Jahrhundert zurück, springt ins Jahr 1958 und wieder zurück.

Bilder und Texte aus der Vergangenheit

Keines der Werke von Marcel van Eeden spielt nach 1965, dem Jahr seiner Geburt. Es gehört zur konzeptuellen Auseinandersetzung des Künstlers mit Geschichte, die Vergangenheit aus der Gegenwart zu betrachten – eine Vergangenheit, in der er selbst noch nicht auf der Welt und also ins Geschehen nicht involviert war. Aus dieser Distanz beobachtet er die Geschichtsschreibung, registriert Konstrukte und legt sie dar, fügt hinzu und hebt heraus. Für das Winterthurer Projekt stellt er Hedy Hahnloser in den Mittelpunkt seiner Arbeit: «Ich habe das Buch über Hedy Hahnloser gelesen und nach Haken und scharfen Kanten in der Geschichte gesucht. Irritierend ist beispielsweise das Verhältnis von Hedy Hahnloser zu ihrem Vertrauensarzt Heinrich Zangger. Ich habe die These entworfen, dass sich Rainer Maria Rilke, Hahnloser, Zangger und Albert Einstein getroffen haben.» Es ist belegt, dass Rilke in Winterthur gelesen hat: «Ein voller Raum mit vielen Leuten ist also sehr wahrscheinlich.» Der Schriftsteller sprach 1919 im Casinotheater über Cézanne. Marcel van Eeden lässt ihn jedoch über die Sphinx sprechen und verwendet dafür Textstücke aus den ‹Duineser Eelgien›: «Alle Texte der Serie sind Zitate, die ich zusammen gefügt habe zu einer Geschichte. Ich verwende stets existierende Quellen.» Hier gilt das gleiche Prinzip wie bei den Bildquellen: «Die Texte sind nie jünger als ich und nie von mir selbst.»

Im Strom der Zeit bleiben

Er fügt kurze Fragmente aus profanen Quellen zu neuen Texten zusammen, zitiert Tagebucheinträge, Briefe und Lyrik. So sind in ‹Die Villa› zwei Strophen aus Else Lasker-Schülers Gedicht ‹Die Sphinx› zu lesen im Rahmen eines Textes, der sonst Petrarca zitiert. Marcel van Eeden ist es einerseits wichtig, Frauen zu Wort kommen zu lassen, andererseits wird mit der expressionistischen Literatin ein weiterer Bezug zur Moderne gesetzt – zu jenen künstlerischen Kreisen, in denen das Ehepaar Hahnloser verkehrte. Was heute als Klassische Moderne bezeichnet wird, war damals dezidiert zeitgenössisch und genau aus diesem Grund interessant für Hedy Hahnloser. Ihre Kunstsammlung ist in der Auseinandersetzung künstlerischen Strömungen ihrer Zeit entstanden. Daran knüpft das Kunst Museum Winterthur mit der aktuellen Ausstellung in der Villa Flora an: Um das Haus und die Sammlung lebendig zu halten, sollen regelmässig Künstlerinnen und Künstler eingeladen werden, ihre aktuelle Sicht auf den Ort zu zeigen und ihn so mit der heutigen Zeit zu verbinden. Marcel van Eeden ist der erste in dieser Reihe. Thematisch hatte er völlig freie Hand und merkte schnell, wie gut sich die Auseinandersetzung in seine künstlerische Arbeit fügt.
Anlässlich der Verleihung des Hans-Thoma-Preises 2023, der seit van Eedens künstlerischen Rechercheergebnissen in Landespreis für Bildende Kunst Baden-Württemberg umbenannt ist, deckte der Künstler die engen Verbindungen zwischen dem Maler und dem antisemitischen Kulturkritiker August Julius Langbehn auf: «Ich bin auf die Freundschaft zwischen Hans Thoma und Julius Langbehn gestossen. Daraus ergab sich für meine Arbeit das Thema des Nationalsozialismus. Daran schliesst die Winterthurer Arbeit an, weil Heinrich Zangger wieder vorkommt.» Heinrich Zangger war ein Schweizer Gerichtsmediziner und setzte sich für Arbeitssicherheit, Katastrophen- und Umweltschutz ein. Van Eeden benennt jedoch auch dessen andere, oft negierte Seite: Zangger pflegte Beziehungen zu NS-Ärzten und gehörte zu den Mitbegründern der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Berlin, die später Teil der Gestapo wurde. Und er hatte Verbindungen zu Winterthur: «Heinrich Zangger war in gewisser Weise der Dealer für Hedy Hahnloser. Sie hat immer nach Heilung gesucht und er hat ihr Schmerz- und Schlafmittel verschrieben.» In van Eedens Serie ist unter anderem ein Porträt Zanggers wiedergegeben, ein Brief Einsteins an Zangger und ein Zitat aus Zanggers Schriften zur Rassentheorie. Aber Hedy Hahnloser schafft es schliesslich, sich von ihrem Hausarzt zu distanzieren. Dies verknüpft Marcel van Eeden mit Hedy Hahnlosers Reise nach Ägypten: Inspiriert von Rilkes Worten und begleitet von der letzten Strophe von Else Lasker-Schülers Gedicht, macht sich die Winterthurer Kunstsammlerin auf, um die Sphinx zu sehen. Zuvor haben viele andere Personen kurze Auftritte in der 46-teiligen Serie.

Eine fiktive Rahmenhandlung

Es entfaltet sich ein dichtes Gewebe aus Orten, Gedanken, Begegnungen. Alles ist eingebettet in Marcel van Eedens charakteristische Bildsprache. Der Künstler zeichnet mit Negrostift, einer Mischung aus Kohle und Bleistift. Die Linien sind weich, Schattierungen mildern selbst starke Kontraste. Die mit vielen Graunuancen durchsetzte Schwarz-Weiss-Ästhetik passt zu den historischen Quellen und gleicht oft derjenigen der frühen Fotografie. Damit gehen die Zeichnungen und Fotografien in der Serie eine perfekte Symbiose ein: Marcel van Eeden arbeitet seit einiger Zeit mit dem Gummidruckverfahren aus der Frühzeit der Fotografie: «Ich benutze für meine Fotografien die alte Technik, weil ich sie zu Hause selbst anwenden kann. Ich will alles mit eigenen Händen machen.» Fotografiert hat der Künstler selbst im Umfeld der Villa Flora, siedelt die Fotografien jedoch in einer Rahmenhandlung im Jahr 1958 an: Er lässt eine unbestimmte Person zur Geschichte der Hahnlosers recherchieren.
Die Fotografien sind innerhalb der vier Räume umfassenden Ausstellung in einem Raum zusammengefasst, aber inhaltlich und motivisch verschränkt sich die Bilderzählung immer wieder. Und sie wird auch in situ mit der Villa Flora und der Sammlung verbunden: Perfekt fügen sich die Blätter in den kleinräumigen Wohnteil des Hauses mit seinem Täfer, den Wandschränken, den Holzjalousien. Und nahe einer der Sphinx-Zeichnungen ist das ‹Ritratto di Madame Hahnloser›, 1944 von Marino Marini platziert. Mehrmals wiederum taucht Hedy Hahnloser auch in den Zeichnungen van Eedens auf – unter anderem neben einer Sphinx.
Immer wieder wurde die grosse Sammlerin selbst zum künstlerischen Sujet. Mit van Eedens sorgfältig recherchierter Bilderzählung wird sie in ihrem Haus als eigenständige Persönlichkeit mit vielfältigen Interessen und einem reich verzweigten Bekanntenkreis und gewürdigt.

→ ‹Marcel van Eeden – Die Villa›, Villa Flora, Kunst Museum Winterthur, bis 5.1.2025
↗ kmw.ch

Ein sympathischer Koloss aus Blech

Einst eine Sensation, anschliessend nahezu vergessen: Der Teufener Maschinenmensch «Sabor». Das Zeughaus Teufen widmet der einstigen Weltneuheit eine Ausstellung. Mit dem Begleitprogramm schlägt sie eine Brücke zu den brennenden Fragen unserer Zeit: Künstliche Intelligenz, Robotik und die Zukunft menschlicher Schaffenskraft.

An der Landesausstellung 1939 in Zürich, an der Weltausstellung 1958 in Brüssel, in London, Haifa, Hamburg und New York – überall war «Sabor» unterwegs. Nur in Teufen war er nie ausgestellt. Ausgerechnet Teufen. Von hier stammt der blecherne Riese. Hier hat ihn August Huber im Jahr 1923 als zwölfjähriger Bub erdacht, konstruiert und gebaut. Anfangs noch aus Holz, aber bereits ferngesteuert. Die zweite Version, sieben Jahre später, hatte schon eine Metallhaut, konnte einen Tambour und eine Trommel schlagen. Gesteuert wurde sie von einer Fotozelle. Es folgte «Sabor III», aus drei wurde vier aus vier wurde «Sabor V»: Der Maschinenmensch aus Teufen. 2,37 Meter misst er. 270 Kilogramm ist er schwer. 500 Meter Kabel trägt er in seinem Bauch.

Beweglicher Riese

Seit Jahren steht «Sabor» in der Technikausstellung des Primeo Energie Kosmos in Münchenstein. Von dort kehrt er nun für ein Vierteljahr nach Teufen zurück und präsentiert sich in seiner ganzen Grösse: Zwei Antennen ragen rechts und links aus seinem Kopf. Darunter der Hals und ein breiter Brustkorb. Kniee hat er nicht, dafür tragen ihn riesige Schuhe. Damit konnte sich «Sabor» ferngesteuert vorwärts bewegen. Er konnte seine Arme heben und senken, Feuer geben und Blumen überreichen. Wo er auftrat, wurde er bestaunt – und von den ganz Kleinen auch gefürchtet. Inzwischen ist er nicht mehr funktionstüchtig, aber eindrucksvoll ist er nach wie vor. Ein Besuch lohnt sich, auch weil die Ausstellung im Zeughaus Teufen weit mehr als eine Maschine präsentiert.
Lilia und David Glanzmann, das Leitungsduo des Zeughauses, haben sich auf die Spuren des Originals gemacht, sind den Entwicklungsschritten nachgegangen, haben sich durch Archive gegraben, nach Zeitzeugen gesucht, Korrespondenz durchforstet und viele Bilder und Geschichten entdeckt. Das Material ist in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten wird «Sabor» in seiner Zeit verortet und zugleich der Frage nachgegangen: Warum kam ausgerechnet ein Junge im Appenzellerland auf die Idee, einen Roboter zu bauen? Sogar einige Jahr bevor in Fritz Langs Film «Metropolis» der menschenähnliche Roboter Maria auftrat und eine breite Öffentlichkeit in die Kinos lockte.

Technikspezialisten in Ausserrhoden

Die Faszination und das Wissen für Automatisierung im Appenzellerland könnte mit der Verbreitung der Web- und Stickereimaschinen zusammenhängen. So stammt August Huber aus einer Webereifamilie, besass technische Kenntnisse und übersetzte sie kreativ andere Form. Ein weiteres Beispiel für technisches Spezialwissen liefert der 1810 in Herisau geborene Johann Bartholome Rechsteiner. Er arbeitete in Deutschland für ein fahrendes Automatenmuseum und reparierte deren empfindliche Apparate. Und Johann Heinrich Krüsi aus Heiden, ausgewandert nach Amerika, arbeitete als rechte Hand des Erfinders Thomas Alva Edison und konstruierte 1870 die erste Sprechmaschine, den Vorläufer des Grammophons. «Sabor»-Erfinder August Huber war also nicht der einzige, er steht aber im Mittelpunkt der Ausstellung, ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Der dritte Teil der Ausstellung befasst sich mit den Entwicklern und Steuermännern «Sabors» – Frauen waren keine darunter. Denn «Sabor» konnte nicht autonom handeln wie etwa HAL 9000 aus Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey». Wenn der Teufener Maschinenmensch beispielsweise sprach, kamen die Worte aus der Zentrale, die zuvor die Fragen via Mikrofon empfangen hatte. Ständig wurde «Sabor» weiterentwickelt, zuletzt erhielt er einen Astronautenhut und einen weissen Anstrich.

Von Hula-Hoop zu ChatGPT

«Sabors» Geschwister werden im vierten Kapitel der Schau vorgestellt: Vom Pagen Kilian, dem «Hula-Hoop-Gritli», der «Jonglier-Susanne» und dem «Strick-Lineli» gibt es allerdings nur noch Fotografien – dafür aber sehr schöne. So sind auch die Reisen mehr als nur dokumentiert. Ihnen ist das fünfte Kapitel der Ausstellung gewidmet. Sehenswerte Bildstrecken zeigen, wie «Sabor» das Publikum faszinierte. Viele der Fotografien sind Originalprints, teilweise waren sie noch nie ausgedruckt. Somit ist die Ausstellung eine Entdeckungsreise durch umfangreiches und viel bisher unveröffentlichtes Material. Der Rechercheaufwand war immens und noch immer gibt es ungelöste Rätsel: Wer beispielsweise hat «Sabors» Kopf aus Kupfer gefertigt? Ist die Ähnlichkeit mit den Kostümen an der Metal Party 1929 am Bauhaus in Dessau zufällig? Und wer von der Geschichte aus nach vorn blicken will, kann das ebenfalls im Zeughaus Teufen tun. Das Rahmenprogramm verbindet «Sabor» mit Künstlicher Intelligenz und bietet Anlässe zu Robotik und Roboterethik.

Zeughaus Teufen, bis 9. Februar 2025