Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Der Sommer geht, die Kunst kommt.

Am Sonntag tat der Sommer noch einmal so, als müsse er nie abtreten. Es war ein perfekter Tag für die Badi – und für die Kunst. Beide trafen im Freibad Heiden aufs Schönste zusammen, denn der «Streunende Hund» war hier zu Gast.

«Papa, wieso hat´s da so Fotos?» Etwas ist anders in der Badi Heiden. Zwischen den blauen Türen der Umkleidekabinen stehen gerahmte Fotos am Boden. Die Schliessfächer grüssen mit poetischen Botschaften. Auf einem Handtuch schwimmt jemand durch die Wiese. Kunst hat sich am vergangenen Sonntag im Schwimmbad Heiden unter die Badegäste gemischt. Nicht gross und knallig, sondern leise und schön, unterhaltsam und nachhaltig – und überall dort, wo ein weisses Fähnchen im Boden steckte. Darauf abgebildet ist ein Hund: das Symbol des Kollektivs «Streunender Hund». Seit 2019 sind unter diesem Namen Künstlerinnen, Künstler und andere Kulturaktive gemeinsam in der Ostschweiz unterwegs. Ihre Kunstwerke und Aktionen in der Badi Heiden sind alle für diesen Ort entstanden. Dabei war die Ausgangslage nicht einfach, denn die 1932 eröffnete Anlage ist denkmalgeschützt. Nirgends darf ein Nagel in die Wand geschlagen, etwas fest geklebt oder aufgemalt werden. Umso ideenreicher haben die Kollektivmitglieder und ihre Gäste die Kunst platziert. Ein Beispiel sind die am Boden platzierten Fotos von Wassili Widmer, die alle Mitglieder des Kollektives an einem regnerischen Frühsommertag in der Badi zeigen. Ein anderes sind die «Tropfsteine» von Sven Bösiger: Von einem dünnen, zerknitterten Aluminiumblech rinnt Wasser auf ein zweites und erinnert an einen erfrischenden Sommerregen. Auf den Treppenstufen liegt ein bedrucktes Neoprentuch von Donia Jornod, darauf glitzerten kleine Wasserpfützen im Licht. Einige Meter weiter trägt einer der schattenspendenden Bäume ein Kleid. Laura-Maria Drage hat es ihm angezogen. Die kommunizierenden Schliessfächer sind die Idee von Gabriela Falkner. «Schön, Dich hier oben zu sehen!» oder «Psst. Ich bin bereits im Winterschlaf.» verkünden sie in einfacher Schrift auf weissen Postkarten. Der schwimmende Mensch als Motivdruck auf einem Badetuch: Damit erweitert Mirjam Kradolfer das Becken bis auf die Wiese. Florian Gugger hingegen hat den Alpstein in die Badi geholt: Als Epoxy-Plastik glänzt er am Beckenrad in der Sonne.
Mehrere Künstlerinnen und Künstler luden die Badegäste ein, Teil ihrer Kunst zu werden. Fridolin Schoch bot einen Workshop an, in dem Fächer bemalt werden konnten. Harlis Schweizer malte direkt auf die Haut: Wer wollte, konnte ein Stück Badi auf dem Körper mit nach Hause tragen – als Original der Künstlerin. Auch von Birgit Widmer gab es etwas zum mitnehmen: ihre Zeichnung einer Meereswelle, gedruckt auf Seidenpapier. Das Duo kappenthuler/federer lichtete Interessierte mit Lochkameras vor ihrem Lieblingsplatz in der Badi ab. Der Technikraum des Bademeisters diente ihnen als Dunkelkammer. Die Beteiligten schwärmen vom unkomplizierten Zusammenspiel mit Gemeinde und Badi-Verantwortlichen. Dies wird am 1. Februar eine Fortsetzung finden: In fünf Monaten nämlich wird der «Streunende Hund» zum zweiten Mal in der Badi Heiden vorbeikommen. Er wird das Bad aus dem Winterschlaf wecken und neue oder weiterentwickelte Arbeiten werden hinzukommen.

Zehnmal künstlerische Schaffensjahrzehnte

Vier Künstlerinnen und sechs Künstler stellen neben- und miteinander im Museum zu Allerheiligen aus: Das Miteinander besteht im biografischem Bezug zur Region Schaffhausen und dem Alter – alle sind in den 1940er Jahren geboren. Das Nebeneinander findet mit sorgfältig gewählten Räumen für jede der künstlerischen Positionen statt.

Schaffhausen — Eine Würdigung, eine Überblicksschau, eine Kabinettausstellung – «Generation im Aufbruch» ist ein besonderes Projekt. Es versucht nicht, die Werke in einen Dialog zu zwingen oder sonstige Querbezüge zu konstruieren, sondern zeigt jede Position separat. Das entspricht einerseits dem Bestreben, jede Position in ihrer Eigenständigkeit zu unterstreichen. Andererseits kommt es der heterogenen Herangehensweise der Ausstellenden entgegen, die sich im Vorfeld unterschiedlich intensiv einbrachten: Manche entschieden sich für einen intensiven Austausch mit dem Kurator Julian Denzler, andere wählten ihre Werke selbst aus und arbeiteten weitestgehend autonom.
Eigens für die Präsentation wurden kurze Videoporträts gedreht. Sie erzählen oder interpretieren nicht einfach, was zu sehen ist. Stattdessen sprechen die Künstlerinnen und Künstler über Haltungen, Motivationen, Inspirationen oder glückliche Schaffensmomente.
Die Ausstellung beginnt bereits neben dem Museum mit den Objekten des Eisenplastikers Vincenzo Baviera: Sie bestehen aus Kraftwerks-Isolatoren und bringen eine neue Zeitebene in den mittelalterlichen Kreuzgang. Renate Eiseneggers Fotografien und Tuschezeichnungen speisen sich aus Wut und Engagement und zeigen den weiblichen Menschen malträtiert, untersucht, behandelt, maskiert. Im Raum daneben fesseln die mit lebendigem Strich hingeworfene Szenen aus Operationssälen von Linda Graedel. René Moser zeigt seine «Schreine» aus Eisenblech und René Eisenegger eine Wandinstallation aus gefundenen Materialien. Von Walter Pfeiffer, der vor allem als Fotograf bekannt ist, sind dichte Stilleben und Porträts in Gouache zu sehen. Erich Brändles Gemälde bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Beatrix Schären malt flammende, expressive Bilder zu existentiellen Themen, angeregt von der Kultur der Tairona in Kolumbien. Erwin Gloor hat jahrzehntelang mit gestischer Handschrift den Rheinfall porträtiert. Seit 2004 hat er sich dem fotorealistischen Gemälden zugewandt, die Ausstellung zeigt eine repräsentative Auswahl. Ursula Goetz´ künstlerische Position wird postum gewürdigt: Sie verstarb während der Ausstellungsvorbereitungen. Zu sehen sind ihre ungegenständlichen, austarierten Kompositionen in Acryl.
Zeichnungen, Malerei, Fotografie, Plastiken und Installationen – die Ausstellung zeigt Vielfalt und Qualität der Arbeit einer älteren Kunstgeneration.

‹Generation im Aufbruch›, Museum zu Allerheiligen, bis 20.10.
allerheiligen.ch

Düfte ausstellen? Funktioniert!

Teufen — Düfte gehen direkt ins Hirn. Sie sind vielfältig und flüchtig. Sie wecken Erinnerungen, lösen Emotionen aus und werden sehr individuell interpretiert. Lässt sich dieser olfaktorische Reichtum ausstellen? Das Zeughaus Teufen liefert die Antwort mit einer gelungenen Präsentation. Erarbeitet wurde sie vom Zürcher Parfümeur Andreas Wilhelm gemeinsam mit der Szenografin Clara Sollberger. Wilhelm kreiert Parfüms für Marken aus aller Welt und eigene Duftkollektionen. Für das Zeughaus Teufen hat er die Essenzen der Liebe herausgefiltert: Hingabe, Lust, Verliebtheit, Eifersucht, Vertrauen, Trauer und Unschuld sind als Duftnote in hunderte kleiner Flaschen abgefüllt. Ihnen gehört der grosse Auftritt in der Ausstellung. Wem der lichtdurchflutete Raum dennoch zuviel Ablenkung bietet, darf sich eine rotlederne Augenbinde umlegen, um sich vollständig auf den Geruchssinn zu konzentrieren. Den Gegenpart zu dieser Reduktion bildet der «Liebesrausch»: ein kleines, in rotes Licht getauchtes Kabinett. Hier ist der Geruchseindruck bombastisch und in seiner Intensität nur kurz auszuhalten. Woraus so ein Duftfeuerwerk entsteht, zeigt der Raum gegenüber: Wilhelms Labor ist temporär zu Gast in Teufen. Flaschen, Kanister und Rührgefässe, Zutatenlisten und Pipetten – betörende Düfte zu mischen, ist eine profane Angelegenheit. ks

‹Andreas Wilhelm – Liebe›, Zeughaus Teufen, bis 6.10.
zeughausteufen.ch

‹Allianzen›

Appenzell — ‹Plastique Plastic 6› war 1939 in Vorbereitung. Doch die sechste Nummer der Avantgarde-Zeitschrift erschien nie. Zu einschneidend war der Kriegsausbruch, war Sophie Taeuber-Arps Unfalltod 1943 und waren die Umbrüche in Europa nach dem Kriegsende. Bis 1960 gab es immer wieder vereinzelte Anläufe, an dem Heft zu arbeiten, dann war Schluss. Die Ausstellung ‹Allianzen› dokumentiert diesen Verlauf anhand von Briefen, grafischen Entwürfen und Texten. Sie sind teilweise zum allerersten Mal öffentlich zu sehen.
Im Zentrum der Arbeit an ‹Plastique Plastic› stehen Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp und Max Bill. Die Künstlerin und ihre beiden Künstlerkollegen gehören zu den zentralen Figuren der europäischen Avantgarde. Sie standen in engem Austausch miteinander und pflegten darüber hinaus ein breites Netzwerk. Die Zeitschrift war ein Instrument dafür: Sie ermöglichte Kooperation und Zusammenarbeit innerhalb der konstruktiven und konkreten Kunst, richtete sich aber auch an weitere Interessierte. Die Ausstellung vereint über die Briefe und Skizzen hinaus Plakate, gemeinsame Mappenwerke und Reliefs, Malerei, Plastiken. Möglich wurde diese breit gefächerte Werkschau durch die Kooperation des Kunstmuseum Appenzell mit der Fondazione Marguerite Arp und der Sammlung von Chantal und Jakob Bill. Die Qualität der gezeigten Materialien und die sorgfältige Hängung verhindern, dass die Gemälde, Plastiken und Reliefs die naturgemäss weniger auf eine Ausstellung hin entwickelten Medien in den Schatten stellen. Dicht gehängte Grafiken und gut bestückte Vitrinen wechseln sich ab mit markant in Szene gesetzten Einzelwerken. Die künstlerischen Positionen sind nie isoliert voneinander zu sehen, jederzeit wird die Durchdringung der Werke mit der gemeinsamen Idee, die Vision einer universellen, alle Lebensbereiche umfassenden Gestaltung deutlich. Nur einmal hebt eine gelbe Wandfläche zwei Bilder von Sophie Taeuber-Arp besonders hervor. Die Künstlerin bringt darin geometrische Elemente in eine farblich und kompositorisch rhythmisierte Ordnung. Taeuber-Arp war hier wie in anderen Werken von ihrer früheren Arbeit als Textilentwerferin und den dazugehörigen Studien inspiriert und fand auf dieser Basis mitunter zu einer formal klareren und radikaleren Bildsprache als andere Konkrete. Nichtsdestotrotz: ‹Allianzen› porträtiert das produktive Miteinander, den Gedankenaustausch und die fruchtbare Arbeit in Netzwerken.

‹Allianzen – Arp / Taeuber-Arp / Bill›, Kunstmuseum Appenzell, bis 6.10.
kunstmuseum-kunsthalle.ch

Angela Anzi

Winterthur — Medusa lacht. Ein breites, schiefes Grinsen zieht sich über ihr fratzenhaftes Gesicht. Sie kennt die alte Geschichte, aber kann sie die Muster umschreiben, die den Frauen in einer patriarchalen Welt angedichtet werden? Mit den Fingern hat Angela Anzi Medusas Antlitz in eine flache Tonscheibe gezeichnet. Es ist kaum mehr als eine Andeutung aus schwungvoll gezogenen Furchen im weichen und schliesslich glasierten und gebrannten Material. Es führt weiblich gelesenes Begehren ebenso ad absurdum wie den männlichen Blick darauf. Die Keramik hängt als erstes Werk in der Ausstellung der Künstlerin im Kunstraum oxyd. Und es stimmt ein auf die Welt der mystischen Wesen, denen die in Basel lebende Künstlerin ihre künstlerischen Recherchen widmet. Sie lässt Sirenen singen, Nereiden locken und Hexen flüstern. Den jahrhundertelang von Künstlern idealisierten oder dämonisierten Gestalten antwortet sie mit Fratzen und Fragmenten: Ein Fischschwanz muss reichen, oder ein paar Vogelkrallen. Sprachfetzen dringen ans Ohr. Aus glänzenden Brüsten ergiesst sich Wasser schwallweise und anspielungsreich. Es glänzt und plätschert. Zwischen den Keramiken liegen Kabel, stehen Verstärker. Alles ist gleichberechtigt, die Technik, die Objekte, der Sound – aber auch die neuen Inhalte. Überholte Stereotypien werden nicht weitergeschrieben, stattdessen werden neue Bezugssysteme möglich.

‹Chanted Water›, oxyd – Kunsträume, Winterthur, bis 28.7.
oxydart.ch

Wachstum und Wandel

Reto Pulfers Schaffen gleicht einem Rhizom: Es ist ein dicht geflochtenes System aus Materialien, Motiven und Geschichten. Mit jeder Ausstellung wächst es, transformiert sich in neue Räume und enthält immer auch frühere Zustände. Aktuell die Kunst Halle Sankt Gallen eine Einzelausstellung des Künstlers.

St. Gallen — Brennnesseln sind Alleskönner. Sie dienen als Medizin, Färbemittel, Dünger, sie sind der Lebensraum vieler Arten, sie schmecken als Suppe oder Salat, sie lassen sich verarbeiten zu Textilien: Früher war Nessel das Leinen der armen Leute, und einem Märchen Hans Christian Andersens strickt ein Mädchen sechs Brennnesselhemden, um ihre in Schwäne verwandelten Brüder zu erlösen. Bei Reto Pulfer (*1981) ist die Brennnessel selbst eine Heldin. Er hat ihr einen Roman gewidmet und lässt sie auch in seinen textilen Arbeiten als Protagonistin auftreten. Sie lächelt, sie verliebt sich und erschrickt: «Ich bin außerhalb eines Musters!» ruft sie aus, wenn sie aus der Reihe eines wohlgeordneten Frieses tanzt, das mit feinen Linien auf ein grosses, rechteckiges Stück Stoff gezeichnet ist. Es hängt im dritten Raum der Kunst Halle Sankt Gallen und ist sowohl Einzelwerk als auch Teil einer alle Räume umfassenden Installation. Selten fügen sich Werke aus über zehn Jahren künstlerischer Arbeit mit neuen und eigens vor Ort entwickelten Installationen so organisch zusammen wie in der Ausstellung ‹Fachzustand›.
Grossflächige Tücher – zusammengenäht aus vielen einzelnen Laken, Hemden, Pyjamas, Reststücken, oder vollständig aus Gardinenstoff oder aus Käseleinen bestehend – hängen von der Decke und an den Wänden der Kunsthalle. Wie Zelte und Baldachine spannen sie sich durch die ehemaligen Lagerhallen, lassen den architektonischen Rahmen verschwinden und neue, intimere Räume entstehen. Die Textilien sind fleckig, weil Pulfer sie mit Walnuss, Holunder oder Brennnessel färbt. Sie sind akkurat gestreift, monochrom oder weiss, wenn sie industriell gefärbt oder gebleicht sind. Nicht nur die unterschiedliche Oberflächengestaltung, die Texturen und Muster, sorgen für ein lebendiges Bild, sondern auch die Nähte und Flicken, die Schnüre und Bänder der Aufhängung und vor allem die Notizen und Zeichnungen des Künstlers auf dem Stoff. Der gebürtige Berner hat sein reiches Werk als Autodidakt entwickelt. Er näht und webt nicht nur, sondern arbeitet mit Wort, Sound und Bildmotiv. Er lässt Pflanzen und Insekten erzählen, er zeichnet die Fauna und Flora seines Gartens als ‹Erfassung der Spezien durch Individuen›, wie eine seit 2023 entstehende Arbeit heisst. Sie wird weiter wachsen wie der Garten des Künstlers und wie jener, den er vor den Fenstern der Kunsthalle angelegt hat: Alles gedeiht und wandelt sich und schreibt die Geschichte weiter.

Reto Pulfer ‹Fachzustand›, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 18.8.
k9000.ch

Kurz vor dem Schuss

Anne Imhof stellt in den Metropolen Europas und Nordamerikas aus, nun ist sie in Bregenz zu Gast. Die deutsche Künstlerin steht für Coolness, Härte und Kollaborationen. Die aktuelle Schau hält jedoch auch fragile und intime Momente bereit.

Bregenz — Ein ungefähr Zwanzigjähriger räkelt sich auf der Matratzen eines Metallbettes. Selbstbewusst und befangen zugleich agiert er vor der Kamera. Schliesslich wird ihm eine Handfeuerwaffe gereicht, er hält sie sich an die Schläfe – er drückt nicht ab. Später richtet er die Pistole auf die Umrisslinien seines Körpers auf der Matratze und drückt ebenfalls nicht ab. Er kokettiert mit dem Tod, aber das Leben gewinnt. Die Szene stammt aus einem mehr als zwanzig Jahre alten Video von Anne Imhof. Im Kunsthaus Bregenz ist es gemeinsam mit fünf weiteren frühen Videos der deutschen Künstlerin zum ersten Mal in musealem Kontext ausgestellt. Imhof tritt auch selbst in diesen Filmen auf; aufgenommen wurden sie in ihrer damaligen Wohnung, die gleichzeitig Studio, Proberaum und Gym war. Arbeit, Leben, Liebe – alles fliesst in den Videos zusammen. Allen gemein ist der Charakter des Unfertigen, Brüchigen, Unvollkommenem. Nichts ist auf Perfektion getrimmt. Damit verleihen die Filme der Bregenzer Ausstellung sehr persönliche Momente. Mit der Verletzlichkeit der gezeigten Körper, den improvisierten Szenen können sie sich in der souverän gestalteten Schau behaupten.
Anne Imhof versteht die Architektur Zumthors und arbeitet mit ihr und gegen sie. Die Lichtdecken, die natürliches Oberlicht in alle drei Obergeschosse führen, sind verschlossen. Stattdessen brennt Kunstlicht. In der ersten und zweiten Etage taucht es den Saal in Signalrot, zuoberst hingegen in kaltes Weiss. Wo Zumthor trennende Wände oder Türen vermieden hat, platziert Imhof sogenannte Crowd control barriers: Absperrungen, die an Konzerten oder auf Festivals die Menschenmassen kanalisieren und stoppen. Die Barrieren reichen bis über Kopfhöhe und erlauben nur wenige Durchblicke. Ihre Aufstellung variiert leicht von Raum zu Raum und lässt im zweiten Obergeschoss Platz für die abgesenkte Decke: Imhof legt das Skelett der Lichtdecke frei. Die räumlichen Eingriffe und Barrieren bilden die Bühne für Imhofs Gemälde: Hyperrealistische Bilder von Explosionen und verfremdete Darstellungen des eingangs geschilderten Selbstmordmotivs. Die davor auf einen Sockel gehobene Ducati lässt sich ebenfalls als Verweis auf das Kokettieren mit dem Tod lesen. Mit dem Titel ‹My Own Private Idaho› bezieht sich das Werk jedoch auf den gleichnamigen Film und steht wie der Ausstellungstitel ‹Whish You Were Gay› für Imhofs Beschäftigung mit Queerness.

‹Anne Imhof – Whish You Were Gay›, Kunsthaus Bregenz, bis 22.9.
kunsthaus-bregenz.at

Saiten Sommertip – Barry Le Va

Vaduz – Fünf Revolverschüsse im Museum. Abgegeben von einem Polizisten im Auftrag der Kunst. Letzteres sorgte im Fürstentum Liechtenstein für mehr Echo als ersteres. Ein Ordnungshüter als Assistent für ein Kunstwerk – das irritierte. Dabei ging es genau darum: neue Ordnungen herstellen. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt eine grosse Einzelausstellung von Barry Le Va (1941–1921). Der US-Amerikaner erneuerte die Kunst mit radikalen, neue Ideen. Er arbeitete als Bildhauer, brach aber mit der geschlossenen Form. Beispielsweise bei ‹Cleaved Wall›: Zwölf Metzgerbeile sind mit Schwung nebeneinander in die Museumswand gehauen. ‹Shots from the End of a Glass Line› besteht aus den fünf Schüssen, abgegeben auf ein in der Wand steckendes Stahlrohr. Für die ‹scatter pieces› werden Stapel aus Glasscheiben mit dem Hammer zerschlagen. Was nach Chaos und Gewalt klingt, ist wohlüberlegte Arbeit an der neuen Form. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt viele Skizzen, Zeichnungen und Studien des Künstlers: Barry Le Va plante seine Arbeit genau. Er integrierte Veränderung und Instabilität und initiierte Prozesse, die bei jeder Ausstellung neu gestartet werden. Auch deshalb ist ‹In a State of Flux› eine Reise wert: Die Schau zeigt ein Werk, das auch nach dem Tod des Künstlers hochaktuell und veränderlich ist. ks

bis 29.9., www.kunstmuseum.li

Saiten Sommertip – Anne Imhof

Bregenz — Das Kunsthaus Bregenz macht´s möglich. Seinetwegen kommt eine Künstlerin wie Anne Imhof, die sonst in Häusern wie dem Palais de Tokyo in Paris, der Tate Modern in London oder dem Stedelijk Museum in Amsterdam ausstellt, in die Vorarlberger Kleinstadt. Das Renommée des Bregenzer Hauses ist eng verbunden mit der besonderen Architektur Zumthors und genau hier setzt Anne Imhof an: Die offenen, fliessenden Strukturen im Gebäude werden mit Crowd control barriers unterbrochen. In einer Etage ist die Deckenkonstruktion abgehängt und die Technik freigelegt. Das sonst alle Stockwerke durchflutende Naturlicht bleibt draussen, stattdessen sind die Säle in Alarmrot oder grelles Weiss getaucht. Heavy Metal, Doom Metal oder Punk hämmert durchs Haus. So ist Anne Imhof bekannt geworden: cool, hart, deutlich. Aber sie kann auch anders: Zum ersten Mal sind von Anne Imhof frühe Videos öffentlich ausgestellt. Sie zeigen die Künstlerin und ihre Mitstreiterinnen und Weggefährten in fragilen und intimen Momenten. Sie halten Performances fest, die auch mal ins Peinliche kippen dürfen. Sie sind geprägt vom fluiden Spiel mit unterschiedlichen Rollen und setzen sich gerade in ihrer Verletzlichkeit gegen die martialischen räumlichen Inszenierungen mühelos durch. ks

‹Anne Imhof – Whish You Were Gay›, Kunsthaus Bregenz, bis 22.9.
kunsthaus-bregenz.at

Saiten Sommertip – Andreas Wilhelm

Teufen — Die Sieben ist eine besondere Zahl. Raben, Geisslein, Todsünden – sie sind zu siebt. Aber auch in der Liebe lässt sich die Sieben finden. Das Zeughaus Teufen zählt: Hingabe, Lust, Verliebtheit, Eifersucht, Vertrauen, Trauer, Unschuld. In der aktuellen Ausstellung in Teufen geht Andreas Wilhelm diesen Essenzen der Liebe nach. Der Parfümeur hat sieben Düfte kreiert – für jedes Gefühl einen. In Teufen stehen sie im Mittelpunkt. Keine szenischen Bilder werden entworfen, keine Kunstinstallation wird drum herum gebaut. Die Gerüche haben den grossen Auftritt. Wilhelm vertraut ihnen aus Erfahrung. Der Zürcher arbeitet beim weltgrössten Hersteller von Aromen und Duftstoffen und erzählt Geschichten über die Nase. Aber er zeigt auch die profane Seite der Düfte: In einem vor Ort eingerichteten Labor lässt er sich über die Schulter schauen. Dabei wird manches Duftmysterium entzaubert, nichtsdestotrotz: Vom olfaktorischen Faszination lebt die gesamte Schau oder besser: die Nasenreise. ks

  1. Juni bis 6. Oktober 2024, www.zeughausteufen.ch