Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Mit dem Zug durchs Kunst(Zeug)Haus

Modelleisenbahnen brauchen Platz, sind aufwendig in Installation und Unterhalt und auf Kinderwunschzetteln tauchen sie kaum noch auf – ausgestorben sind sie deshalb trotzdem nicht. Sie haben beispielsweise eine Nische gefunden in der zeitgenössischen Kunst. Das aktuellste Beispiel dafür liefert David Renggli mit seiner Einzelausstellung im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil. Fünf voneinander unabhängige Schienensysteme schlängeln sich dort durch das Obergeschoss. Der makellos weisse Boden im bietet die perfekte Folie für die schwarzen Gleise und die kunterbunten Züge darauf. Doch «Untitled Train» ist mehr als eine hübsche, räumliche Zeichnung; das Werk kommentiert auf hintersinnige und poetische Weise heutige Befindlichkeiten. Satzfragmente auf den kleinen Waggons reichen aus, um das ganze Spektrum zwischen «Ja», «Nein» und «Vielleicht» auszudrücken. Wer es etwas deutlicher mag, wird in Rengglis Gemälden und den Leuchtkästen fündig. Reklame und Exotik, Klatsch und Tratsch, Kunst und Kitsch treffen hier in kunterbunten Bildern aufeinander. Das macht Spass, lässt sich aber auch als pointierter Kommentar zur Konsumwelt lesen.

‹David Renggli – Jahrmarkt der Gefühle›, Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil-Jona, bis 6.8.
www.kunstzeughaus.ch

Das flimmernde Ja und das grelle Pink

David Renggli spielt mit den Wörtern, Gedanken und Bildern. Der Zürcher Künstler lässt im Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil Züge fahren, Gedanken kreisen und Farben knallen. So heiter und unbefangen die Werke daherkommen, so ernst und aktuell sind ihre Hintergründe.

Rapperswil-Jona — «SAY» fordern drei Versalien. Darüber radial ausgerichtete Streifen, darunter ein Halbkreis: Ein Sonnenuntergang aus Neonröhren. Unter der Horizontlinie kein gespiegeltes «Say», sondern ein spiegelverkehrtes Neon-«Yes». In krakeligen Buchstaben versinkt es zwischen flimmernden Linien: Das Ja geht unter – hier wie im Sexualstrafrecht. Der Nationalrat hatte noch im November der Forderung «Nur Ja heisst Ja» zugestimmt und damit den Tatbestand der Vergewaltigung neu klassifiziert. Im Ständerat wurde daraus ein weniger weitreichendes «Nein heisst Nein». David Renggli bezieht sich mit ‹Say Yes› nicht ausdrücklich auf diese Entscheidung und doch: Seine Arbeiten im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zeigen deutlich, dass ihm diese Themen weder fremd noch egal sind. Die Ausstellung ist in zwei Teile gegliedert und das ist eine gute kuratorische Entscheidung. Der grösste Bereich im Obergeschoss ist ‹Untitled Train› vorbehalten. Hier hängen keine Gemälde, keine Leuchtschrift, nichts an den weissen Wänden. Der Fokus liegt vollständig auf sich durch den Raum schlängelnden, schwarzen Modelleisenbahnschienen. Sie nehmen einerseits Bezug auf das geschwungene Oberlicht und stehen andererseits in Kontrast zu den spitzwinklig aufeinander zulaufenden Dachsparren, den Pfeilern und dem Weiss des Raumes: eine hochästhetische Bodenzeichnung. Und mehr als das: Auf den Schienen ziehen fünf Modelleisenbahnloks kunterbunte Waggons hinter sich her. Beschriftet sind sie mit Seufzern, Gedankensplittern, Alltagsweisheiten und schliesslich einem «Noch wach». Spätestens hier kommt das hochaktuelle und doch versinkende Ja ins Spiel: Das Wortpaar bezieht sich auf Benjamin von Stuckrad-Barres kürzlich erschienenes, gleichnamiges Buch über den strukturellen Machtmissbrauch im Mediengeschäft. Gilt dort ein «Nein»? Wie verhält es sich dort mit «wollen können müssen»? – Wörter, die ebenfalls auf den kleinen Waggons stehen.
David Renggli lässt alles offen, er deutet lieber an. Spielerisch und vieldeutig flicht er zeitgenössische Bildwelten, Denkmuster und Themen ineinander. So mixt er in Leuchtkästen Klatsch und Erotik aus der Boulevardpresse mit Reklamesujets und Kunstzitaten oder malt seine ‹SUV-Bilder› auf Bettbezüge aus dem Brockenhaus: Ethnokitsch, Dollarnoten, Disneymotive mischen sich mit albernen Autonamen, Penissymbolik und imitierten Wasserzeichen. Die Farben knallen, Kermit lacht in Pink, ein Besen wischt alles beiseite – die Welt dreht sich schnell, was heute noch gilt, ist morgen vielleicht ganz anders.

→ ‹David Renggli – Jahrmarkt der Gefühle›, Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil-Jona, bis 6.8.
↗ www.kunstzeughaus.ch

Aus Sicht der Pflanze

Die einen stellen Blumen aus, die anderen lassen Pflanzen regieren. Zu erstgenannten gehört die Kunsthalle München: «Flowers Forever» ist eine kunterbunte Schau, die den blühenden Schönheiten einmal quer durch die Kunst- und Kulturgeschichte folgt, sie aber als Objekt präsentiert. Es geht auch anders: Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt, was Pflanzen können, wie sie handeln, sich verbünden und wie unerlässlich sie für uns sind. Bereits Ende 2020 wurde in Vaduz das «Parlament der Pflanzen» ausgerufen, jetzt vertieft eine zweite Ausstellung das Thema, setzt neue Schwerpunkte, präsentiert neue Werke, neue künstlerische Positionen und knüpft zugleich an Früheres an. Pflanzen werden als gemeinschaftlich organisierte Lebewesen ernstgenommen, die nicht nur sich selbst, sondern auch uns Menschen retten können. Sogar der «Politik der Pflanzen» ist ein Ausstellungsteil gewidmet mit Werken aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich. Hier wie in allen Sälen fällt die stimmige Szenographie auf: Wissensinseln sind wie Baumhäuser gestaltet, schwere, grüne Vorhänge schirmen Videoinstallationen ab, immer wieder wechselt die Perspektive von klein zu gross und umgekehrt – so wird der Gang durch die Botanik auch im Museum zum Vergnügen.

→ ‹Parlament der Pflanzen II›, Kunstmuseum Liechtenstein, bis 22.10.
www.kunstmuseum.li

Parlament der Pflanzen — Die Kraft der Pflanzen

Müssen wir die Pflanzen retten oder retten sie uns? Das Kunstmuseum Liechtenstein greift ‹Parlament der Pflanzen II› ein bereits früher bearbeitetes Thema wieder auf. Diese Vertiefung lohnt sich inhaltlich und in der Ausstellungsgestaltung. Gezeigt werden 19 künstlerische Positionen.

Vaduz — Zum Einstieg der Wald: Mooskissen, Baumriesen, Dickicht, Blattgrün – Thomas Struths Werkgruppe ‹Pictures of Paradise› zeigt intakte Natur, ohne Menschen, ohne Tiere. Der Künstler fotografiert Wälder in Australien, Japan, Peru oder in Bayern. Die entstandenen grossformatigen Bilder porträtieren jedoch keine einzelnen Biotope, sondern den unermesslichen Naturraum, seine Vitalität, seine Schönheit und seine Kraft, auf die Menschen einzuwirken, ihnen Stille und Wohlsein zu schenken. Damit steht bereits zum Auftakt von ‹Parlament der Pflanzen II› im Kunstmuseum Liechtenstein nicht das einzelne Gewächs im Mittelpunkt, sondern die Symbiose, die Gemeinschaft der Pflanzen, das Beziehungsgeflecht der Lebewesen – auch zwischen Flora und Mensch.
Während in der ersten Ausgabe von ‹Parlament der Pflanzen› 2020 noch der anthropozentrische Blick auf Pflanzen dominierte, wird im zweiten Teil des Ausstellungsprojektes immer wieder deutlich, wie sehr es auf das Miteinander ankommt: So zeigt Ursula Biemann das Leben indigener Gemeinschaften mit dem Wald, Polly Apfelbaum die Vielfalt der Nutzpflanzen oder Uriel Orlow pflanzliche Kommunikationsnetzwerke und das «Waldbewusstsein». Pflanzen werden mehr und mehr als Subjekt, denn als Objekt begriffen. Erst dadurch wird ein neues Zusammenleben möglich. Auch die Kiewer Künstlerin Alevtina Kakhidze sieht Pflanzen als handelnde Wesen, sie beschreibt sie als pazifistisch und hebt ihre Widerstandskraft und Beharrlichkeit hervor. Dies hat bereits grosse Nähe zum Politischen, dem ein besonderer Ausstellungsteil gewidmet ist: Die unter ‹Politik der Pflanzen› gezeigten Positionen stammen aus dem Bestand der Graphischen Sammlung der ETH Zürich und beschäftigen sich mit Grenzziehungen, ökonomischem Druck oder dem Verhältnis von Kultur und Natur. Monica Ursina Jäger beispielsweise lässt die Pflanzenwelt architektonische Strukturen durchdringen und verwendet als Zeichenmaterial Chlorophyllin. Dieses Ausstellungsinsert ist durch die zartgrüne Wandfarbe und kleinerformatige Arbeiten auf Papier durch eine andere Masstäblichkeit gekennzeichnet.
Ebenfalls räumlich eigenständig sind die eingebauten Wissensinseln. Sie führen zu philosophischen, naturwissenschaftlichen oder historischen Exkursionen in die Pflanzenwelt, begleitet von künstlerischen Arbeiten. Aber auch ihre Szenografie schlägt eine Brücke zum Thema: Auf ihren hölzernen Stelzen gleichen sie Baumhäusern und verleihen auch diesem theoretischen Teil der Schau eine sinnliche Ästhetik.

Rohstoff und Problemmaterie

Monira Al Qadiri präsentiert im Kunsthaus Bregenz die Ergebnisse ihrer Erfahrungen und Forschungen zur Erdölförderung und deren Folgen. Ihre Arbeiten sind hochästhetisch, obgleich sie die negativen Seiten des globalen Erdölkonsums ins Zentrum stellen.

Bregenz — Bohrköpfe sind dazu entwickelt zu penetrieren. Sie dringen ins Gestein ein, hinterlassen Löcher, fressen sich vor zu Bodenschätzen. Damit ist ihre eigentliche Aufgabe erledigt, ihre Wirkung jedoch entfalten sie weit darüber hinaus. Im Falle des Erdöls sogar global und in nahezu jedem Lebensbereich: Ist es seinen Lagerstätten entnommen, erlangt es eine neue Permanenz. Monira Al Qadiri (*1983) thematisiert diese Zusammenhänge, kommt vom Kleinsten zum Grossen, zeigt direkte Wirkungen und unbeabsichtigte Nebeneffekte. Die Künstlerin schöpft dabei aus der lokalen wie aus einer globalen Sicht, ist sie doch in Senegal geboren, in der Erdölnation Kuwait aufgewachsen, hat in Japan studiert und lebt aktuell in Berlin.
In ihrer Ausstellung im Kunsthaus Bregenz zeigt Al Qadiri aktuelle Arbeiten in einer durchdachten Abfolge. Im Foyer hängen riesenhafte Nachbildungen der Molekularstruktur petrochemischer Substanzen. Die luftgefüllten Objekte verweisen mit ihrer Monumentalität auf die Omnipräsenz des Erdöls und behaupten mit ihrer Ähnlichkeit zu Jahrmarktballons dennoch ihre Harmlosigkeit.
Die Bohrköpfe, die Al Qadiri in einer kleineren Version vergangenes Jahr an der Biennale Venedig zeigte, sind das Herzstück der Ausstellung. Sie drehen sich im ersten Obergeschoss, lassen ihren Flipflop-Lack in schönsten Farben schillern oder hängen in makellosem Weiss an der Wand. Sie bestechen durch rhythmisch angeordnete Schneidwerkzeuge und zeigen allesamt: Der Bohrkopf ist nicht das Problem. Es ist der Mensch, der die Technik entwickelt hat, der sie braucht und sie doch nicht im Griff hat. Das verdeutlicht die Künstlern im Treppenhaus und den beiden Stockwerken darüber: Sie spielt mit Tankerfotos in Bullaugen auf die Unterwasserlacke an, die Muscheln, Schnecken und Algenbewuchs verhindern sollen, dabei jedoch schädliche Substanzen absondern. Über die daraufhin zu beobachtenden Geschlechtsveränderungen bei Schalentieren lässt sie zwei Muscheln einen eindringlichen Dialog führen. Im obersten Stockwerk schliesslich platziert sie auf eigens installiertem, glänzend weissem Boden schwarze Glasvögel und -pfützen. Das Bild ölverschmierter, verendender Tiere ist illustrativ und überdeutlich. Aus der Erfahrungswelt der Künstlerin stammend, soll es als unmissverständlicher Weckruf verstanden werden. Dabei muss dahin gestellt bleiben, wieviel Erdöl in der gesamten Ausstellungsproduktion steckt.

→ ‹Monira Al Qadiri. Mutant Passages›, Kunsthaus Bregenz, bis 2.7.
↗ www.kunsthaus-bregenz.at

Jiajia Zhang – Mein Content – dein Content

Jiajia Zhang zeigt im Kunstmuseum St.Gallen ihre erste museale Einzelausstellung. Scharfsinnig analysiert die Künstlerin die ambivalente Raumsituation des Hauses und führt sie thematisch mit der eigenen Arbeit zusammen: Ihre Videos, Installationen und Objekte befassen sich mit den schwindenden Grenzen zwischen privat und öffentlich unter dem Einfluss der Digitalisierung.

St. Gallen — Kunsträume, die nicht als solche gebaut worden sind, gibt es viele: von Fabrikhallen bis zu Ladengeschäften, von Banken bis zu Bahnhöfen. Das Kunstmuseum St.Gallen wurde als eben solches erbaut, das Untergeschoss jedoch entstand 1983 als räumliche Erweiterung für das Naturmuseum im selben Haus. Damals wurde eine breite, abfallende Rampe ins neoklassizistische Gebäude gebrochen, um den Zugang zum Untergeschoss möglichst offen und niederschwellig zu gestalten. Das Foyer – selbst eine Zwischenzone, ein Durchgangsort – wurde gleichsam in das Untergeschoss hinein verlängert und führte direkt in die naturhistorischen Sammlungen. Seit fast sieben Jahren und bis zum geplanten Umbau nutzt das Kunstmuseum die postmodernen Räume. Das gelingt überraschend gut, aber noch nie so perfekt wie in der aktuellen Ausstellung von Jiajia Zhang. Die 1981 in China geborene Künstlerin lebte zehn Jahre in St.Gallen und kehrt jetzt für ihre erste museale Einzelausstellung dorthin zurück. Kürzlich war sie für sieben Monate in der Residenz des Istituto Svizzero in Mailand und hat ihre dortigen Recherchen in die Ausstellung integriert. Das Leitthema ist die Entgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre. Das Phänomen manifestiert sich sowohl physisch als auch medial und die Schnittstellen sind allerorten zu sehen. Jiajia Zhang hat sie in Mailand auf dem Domplatz ebenso untersucht wie in gängigen Social-Media-Kanälen und transferiert auch ihre Forschungsergebnisse in vielfältige Ausdrucksformen. Sie bilden dennoch in der Ausstellung eine starke Einheit. Das liegt nicht zuletzt an Zhangs gekonntem Umgang mit dem Raum: «Das Untergeschoss ist spezifisch. So führt die Rampe nicht in einen Raum, sondern in einen Raumkomplex, ein Raumgefüge. Es ist verwandt mit den Arkaden und Galerien in Mailand, also mit undefinierten Räumen, in denen Häusliches und Städtisches gleichzeitig stattfindet.» Diesen Aspekt verdeutlicht Zhang, die vor ihrem Kunststudium an der ZHdK an der ETH Architektur studierte, bereits auf der Rampe. Diese ist mit Granitplatten ausgestattet und damit dem Aussenbereich näher als einem Ausstellungssaal. Die Künstlerin platziert genau hier ein Zeichen für einen Innenraum: Michael E. Smiths mauvefarbene Loungesessel ‹Untitled, 2018› aus der hauseigenen Sammlung provozieren in diesem Durchgang ein Innehalten.

Innen und Aussen verschränken sich

In der Sichtachse der Rampe hängt hingegen ein Element des Aussenraumes: ‹Fenster (Script)›, 2023, von Jiajia Zhang ist die Nachbildung eines Schaufensters. Dort, wo üblicherweise die Öffnungszeiten stehen, referieren Zeitnotationen auf einen Säuglingsrhythmus: Die Künstlerin ist vor vier Monaten Mutter geworden. Mit diesen intimen Angaben wie auch mit dem geschlossenen Lamellenvorhang im Inneren der Vitrine verschränken sich einmal mehr Privates und Öffentliches.
Jiajia Zhang hatte für ihre Ausstellung freien Zugriff auf die Sammlung des Kunstmuseums. Neben Werken von Michael E. Smith sind in unmittelbarer Nähe zum Schaufenster die ‹Awnings›, 2000 von Rita McBride zu sehen. In einem kleineren Raum verweisen die ‹Elite Shopping Bags›, 1997 von Sylvie Fleury und ein ‹Schachtelkörper› des St.Galler Künstlers David Bürkler auf Haul-Videos. In ihnen stellen Menschen soeben gekaufte Produkte vor: Die im öffentlichen Raum erworbenen Konsumartikel werden im privaten Rahmen ausgepackt und gefilmt, um sie dann wieder im halböffentlichen Raum der Internet-Videoportale zu präsentieren: «In diesen Videos gibt es eine komplexe Schnittstelle zwischen privat und öffentlich: Man schaut die Filme für sich, mal zu Hause, mal im öffentlichen Raum. Der Pool der Filme ist sehr öffentlich, aber die Inhalte wiederum privat und intim: Dreissig Millionen Menschen schauen, was jemand daheim tut.»

Die grosse Schar der Influencer

So wird heute «Content» produziert. Privatpersonen, denen längst ein Massenpublikum folgt, die sich aber weiterhin als privat agierende Menschen darstellen, kreieren Inhalte. Andere konsumieren diesen «Content», verbreiten ihn weiter und reizen zu neuer Produktion. Diese Wechselwirkungen analysiert Zhang insbesondere in ihren Videocollagen. ‹Social Gifts›, 2023 entstand in Mailand und reiht Sequenzen aneinander: Menschen produzieren sich für andere. Sie posieren einzeln, miteinander, stehend, auf den Bodenplatten des Domplatzes liegend, zeigen ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihre Taschen. Nie nimmt Zhang die Gesichter ins Bild, ebenso wenig die Architektur. Viel wichtiger ist die Stadt als Bühne, ihr Licht und ihre urbane Atmosphäre. Diesem Treiben hinterlegt die Künstlerin eine Lesung von Gertrude Steins Text ‹Was sind Meisterwerke und warum gibt es so wenige davon?› und spiegelt ihn mit der Frage ‹Was sind Influencer und warum gibt es so viele davon?›. Damit trifft Einzigartigkeit auf Menge und Authentizität auf Inszenierung: «Ich beobachtete, wie sich die Menschen verhalten, wie sie sich zur Schau stellen. Der Dom als Meisterwerk bleibt im Hintergrund. Man sieht ihn nie. Das ist die Gegenthese zum Text: Das Meisterwerk kann nicht regiert werden, sondern nur die Kleidung und Gestik.»

Ein sehr lautes Flüstern

Das Meisterwerk steht für sich selbst, aber, so fragt Zhang, «wie frei sind die Influencer sich selbst gegenüber, da sie immer ein Publikum mitdenken müssen?» Sie wollen beeinflussen, beeindrucken, fesseln. Sie brauchen eine Fangemeinde, Klicks und Likes. Das potentielle Publikum soll sich involviert fühlen und dabei bleiben, deshalb muss einerseits in hoher Frequenz agiert werden, andererseits kommt es auf die Inhalte an: Vermeintlich Privates ist einzigartig und berührend. Dahinter steht das Versprechen von Authentizität, Vertrauen und Nähe. Je persönlicher, intimer die Präsentation, desto grösser die Aufmerksamkeit. Dieses Paradoxon ist besonders augenfällig in den sogenannten sozialen Medien, funktioniert aber auch im realen Raum und wird von Jiajia Zhang treffend in Installationen übersetzt: So lädt ein mit Münzen gefüllter Metalltrog dazu ein, weitere Münzen hineinzuwerfen wie in die als Wunschbrunnen verklärte Fontana di Trevi in Rom. Das Geräusch des Auftreffens wird dabei verstärkt zu einem lauten Ton. Jiajia Zhang spielt damit auf private Rituale auf öffentlichen Plätzen an: «Was man flüstert, bekommt hier Präsenz. Zudem gibt es neue Beziehungen von Dingen, in diesem Fall von Münzen. Damit trägt ein sehr privater Wunsch zu einem öffentlichen Bild bei.» Das gilt auch für die Vorhängeschlösser, die von Paaren an Geländern berühmter Brücken befestigt werden: Ab mit dem Schlüssel in den Fluss, auf dass die Verbindung ewig halte. Der intime Wunsch und sein massenhafter Ausdruck im Stadtraum führte bereits zu Geländereinstürzen. Jiajia Zhang montiert fünf einzelne Vorhängeschlösser in die Passage des Untergeschosses. Es sind handelsübliche Schlösser, die eigens für Liebespaare hergestellt worden sind, sie haben die Form zweier miteinander verbundener Herzen. Die eingravierten Buchstaben sind allerdings keine Initialen, sondern erste Babylaute. Die Künstlerin bezieht sich damit auf Sprache als eine sehr abstrakte Ausdrucksform; abstrakt wie ein Liebesschwur, so abstrakt, so dass ein Schloss zusätzlich kund tun muss, was Worte versprochen haben. «You Left Something Behind» – das Schloss bleibt zurück. Wem es gehörte, wissen einzig die, die es aufgehängt haben. Aber der Ausstellungstitel schlägt einen viel grösseren Bogen: «You Left Something Behind» erinnert die Shopping-Plattform, wenn Konsumartikel im digitalen Warenkorb zurück gelassen wurden. Doch die Spuren in der Online-Datenwelt sind viel umfangreicher als die Information über nicht gekaufte Stücke. Diese Verflechtungen, die Wechselwirkungen zwischen Bilder- und Videokonsum und deren Produktion, die Abhängigkeiten und Verlockungen visualisiert Jiajia Zhang

Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 17. April 2023.

→ ‹Jiajia Zhang – You Left Something Behind›, Kunstmuseum St.Gallen, bis 27.8.
↗ www.kunstmuseumsg.ch

Jiajia Zhang (*1981 in Hefei, China), lebt in Zürich.
2001–2007 Studium der Architektur, ETH Zürich
2007–2008 International Center of Photography, New York
2020 Master of Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Auszeichnungen
2022 Swiss Art Award
2022 Shizuko Yoshikawa Advancement Award for Young Woman Artists

Einzelausstellungen:

2021 ‹If Every Day Were a Holiday, Towns Would Be More Mysterious›, Coalmine Kunsthaus Zürich
2020 ‹Follow You Follow Me›, Cherish Genf im Haus Wien
2015 ‹Trying to be here›, Architektur Forum Ostschweiz, St.Gallen

Gruppenausstellungen (Auswahl):
2022 ‹Kino›, Fluentum, Berlin
2022 ‹La réforme de Pooky›, Friart, Fribourg
2021 Werkschau, Museum Haus Konstruktiv, Zürich
2020 ‹Summer of Suspense›, Kunsthalle Zürich
2018 ‹Heimspiel›, Kunst Halle Sankt Gallen
2016 ‹Der Horizont ist klar›, Nextex, St.Gallen

Kulturlandsgemeinde 2023 – Der Sennenhund als Sibesiech

Steff Signers «Pläss» kann mehr als Bellen, Kühe hüten und den Hof bewachen. Er ist die Projektionsfläche für Unaussprechliches und Menschliches.

Der Hund, ein Stück Heimat: Der Bläss gehört ins Appenzellerland. Hier ist er Arbeitstier, Hofhund, Haustier. Er treibt die Kühe an, hält sie auf dem Weg, bewacht das Grundstück, begleitet seine Menschen und verbellt die anderen. Ausserdem schwingt sich der Bläss von der Kinderschaukel, trägt seine Artgenossen huckepack, tanz und kugelt durch die Welt – wenn Steff Signer ihn zu Papier bringt. Der Bläss kann viel, in Signers Bildern kann er noch mehr. Hier heisst er «Pläss» und ist ein Tausendsassa, ein Sibesiech, aber einer mit Herz und Seele. Steff Signer lässt ihm die Tränen aus den kleinen roten Augen kullern, Luftsprünge vollführen oder ins sprichwörtliche Unglück stürzen. Er ist nicht länger der Sennenhund mit Posthornschwanz, sondern ein universales Wesen. Das funktioniert auch dank der Reduktion: Steff Signer setzt seine «Pläss» aus wenigen markanten Formen und Stricken zusammen und verzichtet auf dreidimensionale Effekte. Er greift auf ein Formenrepertoire zurück, das er bereits als 14jähriger Kantonsschüler am Beispiel einer Katze und eines Stiers entwickelt hat: Der Körper ist als schwarze Fläche dargestellt, die Beine sind schmale Striche und der Kopf ist ein gleichseitiges Dreieck. Dieses ist beim «Pläss» gelb. Darin sitzen zwei rote Punkte für die Augen und ein etwas grösserer für die Schnauze. Ohren und Schwanz sind ebenfalls schwarze Striche.
Mehr braucht ein «Pläss» nicht, um sich als Identifikationsfigur zur Verfügung zu stellen. Er agiert als der Hofnarr, der sagen darf, was der Etikette widerspricht. Er bricht Tabus und legt seine eigene, oft melancholische Gefühlswelt offen dar. Steff Signer schreibt dem «Pläss» die Aussprüche, Gedanken und Flüche direkt ins Bild. Mitunter greift er dabei aufs Jiddische zurück, das er als kraftvolle Sprache schätzt. Text und Motive sind eng verflochten und mit Ornamenten ergänzt. Oft sitzt die Schrift auf eigens platzierten Farbstreifen oder -feldern. Sie prangt mitten im Bild oder rahmt die Motive. So verflechten Steff Signers Bilder Elemente aus der Volkskultur mit solchen aus Graphic Novels und der Naiven Kunst. Wiederholungen und Reihungen spielen eine wichtige Rolle. Der Bläss tritt sowohl als Solist, als auch im Rudel auf oder in Formationen, die an Alpaufzüge erinnern. Er beherrscht das Bild als monumentale Form oder wuselt in Miniaturgrösse darin herum. Daneben treffen zarte Muster und getüpfelte Linien auf geometrische Flächen in starken Farben. Letztere nehmen Bezug auf die gelben Hosen und roten Westen der Sennen, auf das Blau, wie es die Bergseen spiegeln. Der schwarze ovale Körper des «Pläss» hingegen steht für das schwarze Gefühl, wie es sich auch im Appenzellerland einstellen kann: «Pläss»-Bilder transportieren das Brauchtum und die Landschaft, die Verbundenheit zwischen Menschen und Tieren, die Gemütszustände und Lebenshaltungen auf prägnante, unmittelbare Weise. Steff Signers künstlerischer Ausdruck steht in der Tradition naiver Malerei aus dem Hinterland. Mit einfachen Materialien und wenigen Farben, mit Geist und guter Beobachtungsgabe bringt er Situationen zu Papier, die ihre Wurzeln Appenzellerland haben, aber weit darüber hinaus verstanden werden. Kristin Schmidt

Stefan Steff Signer ist 1951 in Hundwil geboren und lebt in Herisau. Er ist Komponist und Musiker, Schriftsteller und Maler.

Kulturlandsgemeinde 2023 – Duftende Zedernoten

Die Kulturlandsgemeinde heimatet. Und marc norbert hörler entwickelt eigens dafür duftende Installationen.

notes on cedar, 2023
olfaktorische atmosphäre
zedernholz, bergamotte, yuzu, vetiver, wachholder, myrrhe

rugguseli (ace of swords, dandelions, song for tenderness), 2023
audio, 60 min
komposition/stimme—marc norbert hörler
musikproduktion/sound design—pablo giménez arteaga

the smoke in our nostrils, 2023
olfaktorische atmosphäre
weihrauch, oud, tabak, myrrhe, zedernholz, fichte, lavendel, pinie

Gerüche tragen Bilder in sich. Sie haben die Kraft, Jahrzehnte zu überbrücken und längst beiseite geschobene Erinnerungen wieder hervorzurufen. Gerüche können mühelos Gedanken, Gefühle und einst Gesehenes transportieren. Ist dieses Potential der Gerüche sogar noch grösser? Sind Gerüche auch mit Identitäten, historischen Ereignissen und gesellschaftlichen Realitäten verbunden? Wann wird ein Geruch als Duft wahrgenommen? marc norbert hörler erforscht Gerüche. Für die Kulturlandsgemeinde 2023 hat marc eigens zwei Düfte komponiert und inszeniert damit unterschiedliche olfaktorische Atmosphären. «the smoke in our nostrils» spannt eine Klammer vom Dachgeschoss des Zeughauses bis ins Untergeschoss. Während zuoberst ein Duft verströmt wird, der seine Noten über alle Etagen hin entfaltet, erklingt im Kellergeschoss eine Soundspur. Für diese hat marc norbert hörler eigene Gedichte vertont, spielt sphärische Klänge ein und singt Rugguseli. Die Gedichte spiegeln eine hybride Realität: sie speisen sich aus alten Liedern und Zaubersprüchen und verschmelzen sie mit zeitgenössischer Lyrik. Für die olfaktorische Atmosphäre kreierte marc norbert hörler einen heuartigen Duft mit Kräuternoten und einer rauchigen, verbrannten Komponente. Der Titel dieser Sound- und Duftinstallation bezieht sich auf eine Aussage der Neopaginistin Starhawk über den Geruch der Hexenverbrennungen, der noch immer in unseren Nüstern hänge. marc norbert hörler setzt sich in seiner aktuellen Arbeit insbesondere mit den Hexenverbrennungen in Appenzell Innerrhoden auseinander. Im Zeughaus Teufen verweist marc beispielsweise mit violettfarbigen Fensterfolien und dem dadurch violett erscheinenden Licht im Treppenhaus auf okkulte Themen, zugleich ist diese Farbe queer aufgeladen.
Mit dem Werkbeitrag der Innerrhoder Kulturstiftung 2021 erforscht marc okkulte Praktiken, Zaubersprüche und Hexenprozesse und recherchiert im dortigen Landesarchiv in Protokollen des geheimen Rates und zu Zeugenaussagen. Diese Forschungen und Recherchen werden in «hecatan lines» mit Elementen der Volkskultur und einer queeren, globalen Perspektive verbunden. Das Werk ist derzeit ausgestellt im Kunstmuseum Appenzell. Es führt Gesang, Duft und Sprache zusammen. Alle drei Ausdrucksformen sind vergänglich und sind auch in magischen oder religiösen Zusammenhängen unentbehrlich. Für das Zeughaus Teufen hat marc norbert hörler diese Arbeit transformiert und dabei auch das diesjährige Thema der Kulturlandsgemeinde integriert. Sie widmet sich der Erzählung von Heimat. Auch dabei entfalten Düfte eine grosse Kraft: Sie evozieren Stimmungen, Gefühle und Erinnerungen auch in Bezug auf Herkunft oder Verbundenheit mit einer Landschaft, einem Ort, einer Szene oder Gruppe. hörler arbeitet dies auch mit «notes on cedar» heraus. Diesen Duft entwickelte marc eigens für die Bar «El Gato Muerto» von Barbara Signer und Michael Bodenmann. Die kleine nomadisierende Bar macht für die Kulturlandsgemeinde Station in Teufen. Mit ihrer Einrichtung, der Enge, den Fotografien, japanischen Zigarettenschachteln und vielen anderen Dingen aus dem Reisefundus von Signer und Bodenmann bezieht sie sich auf die kleinen Bars in Tokyo, in denen nach dem langen Arbeitstag eingekehrt, getrunken und geraucht wird. Letzteres ist hierzulande nicht mehr erlaubt, damit fehlt ein wichtiger olfaktorischer Faktor in dem kleinen Raum. Stattdessen bringt marc norbert hörler eine reiche Duftkomposition ins Spiel: «der duft von zedernholz trägt zitrische und frische bis würzige elemente in sich. zusammen mit zitrischen aspekten von bergamotte und yuzu ist der duft in den holzigen, harzigen und trockenen aspekten von vetiver, wacholder und myrrhe geerdet.» Die zitrischen und holzigen Noten übertragen sich auf die Polster und das Holz in der Bar, gegenseitig durchdringen sich die alten, längst eingelagerten Gerüche und der neue Duft. Diese Symbiose von hier und heute, von Ferne und früher weckt für die Einen ein vertrautes Gefühl, für die anderen schwingen Fremde oder Sehnsüchte mit: Düfte können Geschichten erzählen, sie überbrücken nicht nur Zeiten, sondern auch riesige geographische Entfernungen.

marc norbert hörler (*1989, dey/er, Appenzell) lebt und arbeitet zwischen Appenzell und Berlin. marc studierte Bildende Kunst (BA) am Institut Kunst Gender Natur an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel (2013–2016) und Art Praxis (MA) am Dutch Art Institute in Arnhem (2018– 2020).

Diebinnen und andere Räuber

Verstreuter Kirchenschatz – die abhanden gekommenen Plastiken von St.Martin in Appenzell

«Stattliche Landkirche, steil über dem Ufer der Sitter» beschreibt der «Kunstführer durch die Schweiz» die Katholische Pfarrkirche St. Mauritius in Appenzell. Der erste Kirchenbau stand bereits 1069 an dieser Stelle und er hat – wie viele Gotteshäuser – Umbauten, Anbauten und Neuausstattungen erlebt, denn der Geschmack wandelte sich, Brände vernichteten Teile des Kirchenschmuckes, Renovationen wurden notwendig. Aber was passierte mit ausgemusterten Kunstwerken? Der erstmals 1422 erwähnte Hochaltar beispielsweise ist in Teilen gut beschrieben: Neben Mauritius waren unter anderem alle Apostel versammelt, Johannes der Täufer, Konrad und Theodul, Dorothea und Maria Magdalena. Diese Andeutungen haben Rosam Kellers wissenschaftlichen Ehrgeiz geweckt. Der Herisauer hat Kunstgeschichte in Basel studiert und dem Altar eine Seminararbeit gewidmet, denn, so Rosam Keller, «es gibt bis heute davon kein Gesamtbild, sondern nur eine lückenhafte Rekonstruktion, die obendrein bereits 40 Jahre alt ist». Sie stammt vom Kapuzinerpater Rainald Fischer. Er hatte ein immenses Wissen über die Innerrhoder Kunstdenkmäler zusammengetragen und teilweise Andeutungen zum Verbleib der alten Holzplastiken gemacht. Rosam Keller hat versucht, «herauszufinden, ob diese Figuren noch immer an diesen Orten sind und in welchem Zustand.» Er hat in Archiven und Bibliotheken geforscht, war vor Ort und startete sogar einen Zeitungsaufruf. So hiess es am 29. September 2018 im Appenzeller Volksfreund «Wer weiss um den Verbleib dieser antiken Christus-Figur?»
Mit manchen Besitzern der alten Figuren konnte Rosam Keller sprechen. Dabei erkundigte er sich, wie sie an die Holzschnitzereien gekommen sind. Mitunter wurde auf die Grosselterngeneration verwiesen, manchmal gab es ein Achselzucken. Vieles wird sich laut Rosam Keller nicht abschliessend klären lassen: «Ob sich die Vorfahren am Kirchenschatz bedienten, ob sie für aktive Gemeindearbeit damit entlohnt wurden beziehungsweise die Kirchenverwaltung Stücke aus dem Fundus verschenkt hat – dafür liegen der Natur der Praxis wegen keine Nachweise vor. Diebstähle im klassischen Sinn gab es wohl keine.» Manches ist auch wohlverwahrt an etablierten Stellen, so befinden sich die beiden Altarflügel des früheren Hochaltars heute im Landesmuseum Zürich und einzelne Figuren im Museum Appenzell. Einen Teil des alten Kirchenschatzes hat die Ausserrhoder Künstlerin Vera Marke gehoben: Er war im Dachstuhl von St. Mauritius gelagert – verstaubt und gestapelt, ausrangiert und vergessen. Der Bestand wurde geordnet, geputzt, inventarisiert und in ein Schaulager überführt. Die «Himmleze» kann auf Anmeldung besichtigt werden.

Das geraubte Bloch – Mehr als ein Buebestreich

Halb fünf Uhr früh fanden sich die Buben beim Restaurant Mühle ein. Alle bereits verkleidet für das Buebebloch: Zimmermänner, Sennen, Jäger, weitere Berufe, aber auch ein Bär und sein Bärenführer. Besonders wichtig: der Schmied, der zuhinterst auf dem Bloch sitzt, es rauchen und ab zu zu krachen lässt, und die Kässeli-Buebe, die das Geld in den Büchsen klingen lassen. Alle waren parat. Für fünf Uhr war der Abmarsch geplant. Aber das Bloch war weg, der ganze geschmückte Stamm samt Wagen. Verschwunden! Statt: «Iistoh! Züüche!», lange Gesichter: «Die Enttäuschung der Bueben war riesengross,» berichtet Gemeindepräsidentin Margrit Müller. Sie war 2006 seit einem Jahr Gemeinderätin in Hundwil und hat den Diebstahl des Bloch als Mutter erlebt: «Einer meiner beiden Söhne war damals mit dabei. Die Kinder waren voller Vorfreude am Blochmorgen. Aber das Bloch war einfach weg!»
Geklaut, entführt, am Ende gar zerstört? Das hatte es noch nie gegeben; in den ganzen 200 Jahren der Tradition des Hundwiler Buebebloch nicht. Auch Sonja Oertle hat die Enttäuschung ihrer drei Buben an jenem Morgen erlebt. Ihr Mann Johannes koordiniert die alljährliche Organisation rund um das Hundwiler Buebebloch. Hier bei ihm und seiner Frau und ihrer «Bäckerei Restaurant Mühle» steht das Bloch jeweils über Nacht. Hier in der Gaststube werden die Kinder am Blochmontag mit heisser Ovi gestärkt. Hier kam am der älteste Sohn an jenem Morgen in die Stube mit der Nachricht: «Das Bloch ist weg!» Johannes Oertle schickte seinen Buben wieder nach draussen: «Du hast doch nicht richtig geschaut!» Aber Stamm und Wagen blieben verschwunden. Auch die anschliessende Suche im halben Kanton blieb erfolglos. Erst ein Radioaufruf, wer den Bloch gesehen habe, solle sich melden, brachte Neuigkeiten: Das Bloch stand auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell. Und die Polizei? «Die kam erst, als das Bloch wieder da war,» erinnert sich Sonja Oertle und berichtet von den Versuchen herauszufinden, wer das Bloch entführt haben könnte: «Der Weg konnte wegen der heruntergefallenen Tannenzweige verfolgt werden. Die Diebe mussten Erfahrung gehabt haben mit dem bremsenlosen Wagen, und ein Anwohner hat am Morgen nach seiner Nachtschicht ein verdächtiges Auto stehen sehen. Spuren im Schnee gab es auch.» Doch der Fall ist bis heute ungelöst. Sicher ist nur: «Das war für uns kein Streich!», so Sonja Oertle. Sachentziehung und grober Unfug war es für die Polizei. Ganz gleich wie die damalige Tat benannt wird, wiederholen wird sie sich nicht so leicht, dafür sorgen Oertles direkt vor der Tür der «Mühle».

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1

David Berweger

Le Néophyte (Nature Morte aux Arabesques), 2021
Siebdruck auf Kunstseide, Garn
55 x 25 cm

Hohe Säle, textile Wandbespannung, hölzerne Türlaibungen und Heizkörperverkleidungen – das 1916 eröffnete Kunstmuseum Winterthur ist Sockel und Rahmen: Hier soll die Kunst ehrfurchtsvoll betrachtet werden, flüsternd und gemessenen Schrittes, von Saal zu Saal bis zu einem polygonalen Raum. Dahinter führt ein Gang zu dem vom Architekturbüro Gigon/Guyer entworfenen Erweiterungsbau für die zeitgenössische Kunst. Wer dorthin will, passiert zuvor die klassische Moderne und ihre Vorläufer – und hat vielleicht den Wimpel übersehen: In den polygonalen Raum wurde er wie ein Fremdkörper hinein geschmuggelt. David Berweger hat ihn für die Dezemberausstellung … entworfen. Bereits für die Jubiläumsedition der Ausserrhodischen Kulturstiftung, 2019, hatte der Künstler einen Wimpel beigesteuert: Dreieck, Fransen, geometrische Gestaltung, Emblem oder Textfeld – Berweger bezieht sich auf die Typologie eines Wimpels, ersetzt jedoch die zentrale Wort-Bild-Marke durch eine monochrome Fläche. Der konkrete Vereinsbezug fehlt, umso universeller erzählen die Wimpel vom Sport, von der Fankultur, dem Jubel, dem Lärm und auch der Gewalt.
Klein, beinahe unscheinbar ist Berwegers Intervention im Kunstmuseum Winterthur. Formal fügt sie sich mühelos der reduzierten Formensprache der abstrakten und konkreten Kunst an, inhaltlich öffnet sie sich für grosse Fragen: Was gehört in eine Museumssammlung? Welches sind die etablierten Regeln des Kuratierens und Zeigens? Worauf lohnt es sich, im Kunstkontext zu achten? Zum Beispiel auf die Leerstellen: Im Wandsegment neben dem Wimpel ist eine rechteckige Stofffläche weniger ausgebleicht als die übrige Bespannung. Offensichtlich hing hier früher ein Gemälde. Die Beschriftung gibt jedoch keinen Aufschluss, sie verweist auf David Berwegers Werk. Fehlt also etwas? Gehört die Leerstelle zu «Le Néophyte»? Leichtfüssig und ohne einfache Antworten zu liefern, unterwandert der Künstler die Konventionen des Ausstellens und führt auf neue Fährten.

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1