Jiajia Zhang – Mein Content – dein Content

by Kristin Schmidt

Jiajia Zhang zeigt im Kunstmuseum St.Gallen ihre erste museale Einzelausstellung. Scharfsinnig analysiert die Künstlerin die ambivalente Raumsituation des Hauses und führt sie thematisch mit der eigenen Arbeit zusammen: Ihre Videos, Installationen und Objekte befassen sich mit den schwindenden Grenzen zwischen privat und öffentlich unter dem Einfluss der Digitalisierung.

St. Gallen — Kunsträume, die nicht als solche gebaut worden sind, gibt es viele: von Fabrikhallen bis zu Ladengeschäften, von Banken bis zu Bahnhöfen. Das Kunstmuseum St.Gallen wurde als eben solches erbaut, das Untergeschoss jedoch entstand 1983 als räumliche Erweiterung für das Naturmuseum im selben Haus. Damals wurde eine breite, abfallende Rampe ins neoklassizistische Gebäude gebrochen, um den Zugang zum Untergeschoss möglichst offen und niederschwellig zu gestalten. Das Foyer – selbst eine Zwischenzone, ein Durchgangsort – wurde gleichsam in das Untergeschoss hinein verlängert und führte direkt in die naturhistorischen Sammlungen. Seit fast sieben Jahren und bis zum geplanten Umbau nutzt das Kunstmuseum die postmodernen Räume. Das gelingt überraschend gut, aber noch nie so perfekt wie in der aktuellen Ausstellung von Jiajia Zhang. Die 1981 in China geborene Künstlerin lebte zehn Jahre in St.Gallen und kehrt jetzt für ihre erste museale Einzelausstellung dorthin zurück. Kürzlich war sie für sieben Monate in der Residenz des Istituto Svizzero in Mailand und hat ihre dortigen Recherchen in die Ausstellung integriert. Das Leitthema ist die Entgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre. Das Phänomen manifestiert sich sowohl physisch als auch medial und die Schnittstellen sind allerorten zu sehen. Jiajia Zhang hat sie in Mailand auf dem Domplatz ebenso untersucht wie in gängigen Social-Media-Kanälen und transferiert auch ihre Forschungsergebnisse in vielfältige Ausdrucksformen. Sie bilden dennoch in der Ausstellung eine starke Einheit. Das liegt nicht zuletzt an Zhangs gekonntem Umgang mit dem Raum: «Das Untergeschoss ist spezifisch. So führt die Rampe nicht in einen Raum, sondern in einen Raumkomplex, ein Raumgefüge. Es ist verwandt mit den Arkaden und Galerien in Mailand, also mit undefinierten Räumen, in denen Häusliches und Städtisches gleichzeitig stattfindet.» Diesen Aspekt verdeutlicht Zhang, die vor ihrem Kunststudium an der ZHdK an der ETH Architektur studierte, bereits auf der Rampe. Diese ist mit Granitplatten ausgestattet und damit dem Aussenbereich näher als einem Ausstellungssaal. Die Künstlerin platziert genau hier ein Zeichen für einen Innenraum: Michael E. Smiths mauvefarbene Loungesessel ‹Untitled, 2018› aus der hauseigenen Sammlung provozieren in diesem Durchgang ein Innehalten.

Innen und Aussen verschränken sich

In der Sichtachse der Rampe hängt hingegen ein Element des Aussenraumes: ‹Fenster (Script)›, 2023, von Jiajia Zhang ist die Nachbildung eines Schaufensters. Dort, wo üblicherweise die Öffnungszeiten stehen, referieren Zeitnotationen auf einen Säuglingsrhythmus: Die Künstlerin ist vor vier Monaten Mutter geworden. Mit diesen intimen Angaben wie auch mit dem geschlossenen Lamellenvorhang im Inneren der Vitrine verschränken sich einmal mehr Privates und Öffentliches.
Jiajia Zhang hatte für ihre Ausstellung freien Zugriff auf die Sammlung des Kunstmuseums. Neben Werken von Michael E. Smith sind in unmittelbarer Nähe zum Schaufenster die ‹Awnings›, 2000 von Rita McBride zu sehen. In einem kleineren Raum verweisen die ‹Elite Shopping Bags›, 1997 von Sylvie Fleury und ein ‹Schachtelkörper› des St.Galler Künstlers David Bürkler auf Haul-Videos. In ihnen stellen Menschen soeben gekaufte Produkte vor: Die im öffentlichen Raum erworbenen Konsumartikel werden im privaten Rahmen ausgepackt und gefilmt, um sie dann wieder im halböffentlichen Raum der Internet-Videoportale zu präsentieren: «In diesen Videos gibt es eine komplexe Schnittstelle zwischen privat und öffentlich: Man schaut die Filme für sich, mal zu Hause, mal im öffentlichen Raum. Der Pool der Filme ist sehr öffentlich, aber die Inhalte wiederum privat und intim: Dreissig Millionen Menschen schauen, was jemand daheim tut.»

Die grosse Schar der Influencer

So wird heute «Content» produziert. Privatpersonen, denen längst ein Massenpublikum folgt, die sich aber weiterhin als privat agierende Menschen darstellen, kreieren Inhalte. Andere konsumieren diesen «Content», verbreiten ihn weiter und reizen zu neuer Produktion. Diese Wechselwirkungen analysiert Zhang insbesondere in ihren Videocollagen. ‹Social Gifts›, 2023 entstand in Mailand und reiht Sequenzen aneinander: Menschen produzieren sich für andere. Sie posieren einzeln, miteinander, stehend, auf den Bodenplatten des Domplatzes liegend, zeigen ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihre Taschen. Nie nimmt Zhang die Gesichter ins Bild, ebenso wenig die Architektur. Viel wichtiger ist die Stadt als Bühne, ihr Licht und ihre urbane Atmosphäre. Diesem Treiben hinterlegt die Künstlerin eine Lesung von Gertrude Steins Text ‹Was sind Meisterwerke und warum gibt es so wenige davon?› und spiegelt ihn mit der Frage ‹Was sind Influencer und warum gibt es so viele davon?›. Damit trifft Einzigartigkeit auf Menge und Authentizität auf Inszenierung: «Ich beobachtete, wie sich die Menschen verhalten, wie sie sich zur Schau stellen. Der Dom als Meisterwerk bleibt im Hintergrund. Man sieht ihn nie. Das ist die Gegenthese zum Text: Das Meisterwerk kann nicht regiert werden, sondern nur die Kleidung und Gestik.»

Ein sehr lautes Flüstern

Das Meisterwerk steht für sich selbst, aber, so fragt Zhang, «wie frei sind die Influencer sich selbst gegenüber, da sie immer ein Publikum mitdenken müssen?» Sie wollen beeinflussen, beeindrucken, fesseln. Sie brauchen eine Fangemeinde, Klicks und Likes. Das potentielle Publikum soll sich involviert fühlen und dabei bleiben, deshalb muss einerseits in hoher Frequenz agiert werden, andererseits kommt es auf die Inhalte an: Vermeintlich Privates ist einzigartig und berührend. Dahinter steht das Versprechen von Authentizität, Vertrauen und Nähe. Je persönlicher, intimer die Präsentation, desto grösser die Aufmerksamkeit. Dieses Paradoxon ist besonders augenfällig in den sogenannten sozialen Medien, funktioniert aber auch im realen Raum und wird von Jiajia Zhang treffend in Installationen übersetzt: So lädt ein mit Münzen gefüllter Metalltrog dazu ein, weitere Münzen hineinzuwerfen wie in die als Wunschbrunnen verklärte Fontana di Trevi in Rom. Das Geräusch des Auftreffens wird dabei verstärkt zu einem lauten Ton. Jiajia Zhang spielt damit auf private Rituale auf öffentlichen Plätzen an: «Was man flüstert, bekommt hier Präsenz. Zudem gibt es neue Beziehungen von Dingen, in diesem Fall von Münzen. Damit trägt ein sehr privater Wunsch zu einem öffentlichen Bild bei.» Das gilt auch für die Vorhängeschlösser, die von Paaren an Geländern berühmter Brücken befestigt werden: Ab mit dem Schlüssel in den Fluss, auf dass die Verbindung ewig halte. Der intime Wunsch und sein massenhafter Ausdruck im Stadtraum führte bereits zu Geländereinstürzen. Jiajia Zhang montiert fünf einzelne Vorhängeschlösser in die Passage des Untergeschosses. Es sind handelsübliche Schlösser, die eigens für Liebespaare hergestellt worden sind, sie haben die Form zweier miteinander verbundener Herzen. Die eingravierten Buchstaben sind allerdings keine Initialen, sondern erste Babylaute. Die Künstlerin bezieht sich damit auf Sprache als eine sehr abstrakte Ausdrucksform; abstrakt wie ein Liebesschwur, so abstrakt, so dass ein Schloss zusätzlich kund tun muss, was Worte versprochen haben. «You Left Something Behind» – das Schloss bleibt zurück. Wem es gehörte, wissen einzig die, die es aufgehängt haben. Aber der Ausstellungstitel schlägt einen viel grösseren Bogen: «You Left Something Behind» erinnert die Shopping-Plattform, wenn Konsumartikel im digitalen Warenkorb zurück gelassen wurden. Doch die Spuren in der Online-Datenwelt sind viel umfangreicher als die Information über nicht gekaufte Stücke. Diese Verflechtungen, die Wechselwirkungen zwischen Bilder- und Videokonsum und deren Produktion, die Abhängigkeiten und Verlockungen visualisiert Jiajia Zhang

Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 17. April 2023.

→ ‹Jiajia Zhang – You Left Something Behind›, Kunstmuseum St.Gallen, bis 27.8.
↗ www.kunstmuseumsg.ch

Jiajia Zhang (*1981 in Hefei, China), lebt in Zürich.
2001–2007 Studium der Architektur, ETH Zürich
2007–2008 International Center of Photography, New York
2020 Master of Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Auszeichnungen
2022 Swiss Art Award
2022 Shizuko Yoshikawa Advancement Award for Young Woman Artists

Einzelausstellungen:

2021 ‹If Every Day Were a Holiday, Towns Would Be More Mysterious›, Coalmine Kunsthaus Zürich
2020 ‹Follow You Follow Me›, Cherish Genf im Haus Wien
2015 ‹Trying to be here›, Architektur Forum Ostschweiz, St.Gallen

Gruppenausstellungen (Auswahl):
2022 ‹Kino›, Fluentum, Berlin
2022 ‹La réforme de Pooky›, Friart, Fribourg
2021 Werkschau, Museum Haus Konstruktiv, Zürich
2020 ‹Summer of Suspense›, Kunsthalle Zürich
2018 ‹Heimspiel›, Kunst Halle Sankt Gallen
2016 ‹Der Horizont ist klar›, Nextex, St.Gallen