Diebinnen und andere Räuber

by Kristin Schmidt

Verstreuter Kirchenschatz – die abhanden gekommenen Plastiken von St.Martin in Appenzell

«Stattliche Landkirche, steil über dem Ufer der Sitter» beschreibt der «Kunstführer durch die Schweiz» die Katholische Pfarrkirche St. Mauritius in Appenzell. Der erste Kirchenbau stand bereits 1069 an dieser Stelle und er hat – wie viele Gotteshäuser – Umbauten, Anbauten und Neuausstattungen erlebt, denn der Geschmack wandelte sich, Brände vernichteten Teile des Kirchenschmuckes, Renovationen wurden notwendig. Aber was passierte mit ausgemusterten Kunstwerken? Der erstmals 1422 erwähnte Hochaltar beispielsweise ist in Teilen gut beschrieben: Neben Mauritius waren unter anderem alle Apostel versammelt, Johannes der Täufer, Konrad und Theodul, Dorothea und Maria Magdalena. Diese Andeutungen haben Rosam Kellers wissenschaftlichen Ehrgeiz geweckt. Der Herisauer hat Kunstgeschichte in Basel studiert und dem Altar eine Seminararbeit gewidmet, denn, so Rosam Keller, «es gibt bis heute davon kein Gesamtbild, sondern nur eine lückenhafte Rekonstruktion, die obendrein bereits 40 Jahre alt ist». Sie stammt vom Kapuzinerpater Rainald Fischer. Er hatte ein immenses Wissen über die Innerrhoder Kunstdenkmäler zusammengetragen und teilweise Andeutungen zum Verbleib der alten Holzplastiken gemacht. Rosam Keller hat versucht, «herauszufinden, ob diese Figuren noch immer an diesen Orten sind und in welchem Zustand.» Er hat in Archiven und Bibliotheken geforscht, war vor Ort und startete sogar einen Zeitungsaufruf. So hiess es am 29. September 2018 im Appenzeller Volksfreund «Wer weiss um den Verbleib dieser antiken Christus-Figur?»
Mit manchen Besitzern der alten Figuren konnte Rosam Keller sprechen. Dabei erkundigte er sich, wie sie an die Holzschnitzereien gekommen sind. Mitunter wurde auf die Grosselterngeneration verwiesen, manchmal gab es ein Achselzucken. Vieles wird sich laut Rosam Keller nicht abschliessend klären lassen: «Ob sich die Vorfahren am Kirchenschatz bedienten, ob sie für aktive Gemeindearbeit damit entlohnt wurden beziehungsweise die Kirchenverwaltung Stücke aus dem Fundus verschenkt hat – dafür liegen der Natur der Praxis wegen keine Nachweise vor. Diebstähle im klassischen Sinn gab es wohl keine.» Manches ist auch wohlverwahrt an etablierten Stellen, so befinden sich die beiden Altarflügel des früheren Hochaltars heute im Landesmuseum Zürich und einzelne Figuren im Museum Appenzell. Einen Teil des alten Kirchenschatzes hat die Ausserrhoder Künstlerin Vera Marke gehoben: Er war im Dachstuhl von St. Mauritius gelagert – verstaubt und gestapelt, ausrangiert und vergessen. Der Bestand wurde geordnet, geputzt, inventarisiert und in ein Schaulager überführt. Die «Himmleze» kann auf Anmeldung besichtigt werden.

Das geraubte Bloch – Mehr als ein Buebestreich

Halb fünf Uhr früh fanden sich die Buben beim Restaurant Mühle ein. Alle bereits verkleidet für das Buebebloch: Zimmermänner, Sennen, Jäger, weitere Berufe, aber auch ein Bär und sein Bärenführer. Besonders wichtig: der Schmied, der zuhinterst auf dem Bloch sitzt, es rauchen und ab zu zu krachen lässt, und die Kässeli-Buebe, die das Geld in den Büchsen klingen lassen. Alle waren parat. Für fünf Uhr war der Abmarsch geplant. Aber das Bloch war weg, der ganze geschmückte Stamm samt Wagen. Verschwunden! Statt: «Iistoh! Züüche!», lange Gesichter: «Die Enttäuschung der Bueben war riesengross,» berichtet Gemeindepräsidentin Margrit Müller. Sie war 2006 seit einem Jahr Gemeinderätin in Hundwil und hat den Diebstahl des Bloch als Mutter erlebt: «Einer meiner beiden Söhne war damals mit dabei. Die Kinder waren voller Vorfreude am Blochmorgen. Aber das Bloch war einfach weg!»
Geklaut, entführt, am Ende gar zerstört? Das hatte es noch nie gegeben; in den ganzen 200 Jahren der Tradition des Hundwiler Buebebloch nicht. Auch Sonja Oertle hat die Enttäuschung ihrer drei Buben an jenem Morgen erlebt. Ihr Mann Johannes koordiniert die alljährliche Organisation rund um das Hundwiler Buebebloch. Hier bei ihm und seiner Frau und ihrer «Bäckerei Restaurant Mühle» steht das Bloch jeweils über Nacht. Hier in der Gaststube werden die Kinder am Blochmontag mit heisser Ovi gestärkt. Hier kam am der älteste Sohn an jenem Morgen in die Stube mit der Nachricht: «Das Bloch ist weg!» Johannes Oertle schickte seinen Buben wieder nach draussen: «Du hast doch nicht richtig geschaut!» Aber Stamm und Wagen blieben verschwunden. Auch die anschliessende Suche im halben Kanton blieb erfolglos. Erst ein Radioaufruf, wer den Bloch gesehen habe, solle sich melden, brachte Neuigkeiten: Das Bloch stand auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell. Und die Polizei? «Die kam erst, als das Bloch wieder da war,» erinnert sich Sonja Oertle und berichtet von den Versuchen herauszufinden, wer das Bloch entführt haben könnte: «Der Weg konnte wegen der heruntergefallenen Tannenzweige verfolgt werden. Die Diebe mussten Erfahrung gehabt haben mit dem bremsenlosen Wagen, und ein Anwohner hat am Morgen nach seiner Nachtschicht ein verdächtiges Auto stehen sehen. Spuren im Schnee gab es auch.» Doch der Fall ist bis heute ungelöst. Sicher ist nur: «Das war für uns kein Streich!», so Sonja Oertle. Sachentziehung und grober Unfug war es für die Polizei. Ganz gleich wie die damalige Tat benannt wird, wiederholen wird sie sich nicht so leicht, dafür sorgen Oertles direkt vor der Tür der «Mühle».

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1