Digitalisierte Natur
by Kristin Schmidt
Timur Si-Quin thematisiert die Grenzbereiche zwischen zwei Systemen. Das können Ökosysteme sein, aber auch die beiden Pole Technik und Natur. In der Kunsthalle Winterthur zeigt der Künstler drei digitale Transformationen von Naturbeispielen.
Winterthur — Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit werden bald 100 Jahre alt. Und sie sind aktueller denn je in Zeiten der digitalen Bild- und Filmwiedergabe im Hosentaschenformat und der sogenannten Sozialen Medien. Zudem berühren sie Fragen, die nicht nur für das Kunstwerk gelten, sondern neuerdings auch für die Natur: Welchen Einfluss hat die Reproduzierbarkeit auf Naturerlebnisse? Was passiert, wenn digital erzeugte Bildwelten das Original nachahmen? Gibt es Wechselwirkungen? Timur Si-Quin interessiert sich für Übergangsbereiche zwischen dualistischen Konzeptionen. So versteht der 1984 in Berlin geborene Künstler Technik und Zivilisation nicht als Gegenspieler zu Natur, sondern sieht Interaktionen und Durchdringung. Seine Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur stellt er unter den Titel «Ecotone Dawn« und bezieht sich damit auf die Zone zwischen zwei Ökosystemen oder Biotopen. Sie sorgt für Austausch und Artenvielfalt, aber auch für Druck auf beiden Seiten, wenn neue Einflüsse wie etwa der Klimawandel dazu kommen. Das Ökoton dient Timur Si-Quin als inhaltliche Klammer für die Ausstellung. Er übersetzt drei Naturbeispiele aus verschiedenen Weltgegenden in Digitalisate: Die Abendstimmung über die saudiarabischen Oase al-´Ula ist als gerendertes Panorama in vier querformatigen Leuchtkästen zu sehen. Ein Baumstrunk an einem Pilgerweg in Thailand wurde eigescannt, als Plastik per 3D-Verfahren ausgedruckt und bemalt. Basierend auf Pflanzen im Bundesstaat New York simulieren Renderings ein Waldstück. Über die statischen Bilder sind bewegte Schattenwürfe projiziert, so dass eine lebendige Stimmung entsteht. Die drei Werke sind technisch perfekte Transformationen. Das gilt auch dort, wo sich der Künstler entscheidet, notwendige Übersetzungshilfen stehen zu lassen. So wurden beim Baumstrunk die Materialstege nicht entfernt, die für die Stabilität beim 3D-Druck notwendig sind. Sie sorgen für Kippmomente in der Natursimulationen. Die perfekte Illusion per Rendering ist möglich, wird aber von Timur Si-Quin gezielt vermieden. Das Original als Referenzobjekt wird nicht abgelöst, sondern ist wie bei der Mona Lisa noch stärker in den Fokus gerückt: Sich eine hochaufgelöste Abbildung aus dem Netz herunterzuladen, gilt nicht als Ersatz für eine Reise oder für den eigenen Augenschein. Im Gegenteil: Nur das selbst aufgenommene Foto vom Original zählt.
→ Kunsthalle Winterthur, bis 17. September
↗ www.kunsthallewinterthur.ch