Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Ukrainische Naive Kunst

St.Gallen — Der Krieg ist dunkelbraun und hat eine stachlige Mähne. Angriffslustig blickt er aus seinen vertikal gestellten Augen: In Maria Prymachenkos Gouache ist ‹Die Bestie des Krieges› ein rundliches Tier mit kurzen Beinen und eingerolltem Schwanz. Die ukrainische Künstlerin (1909–1997) hat es in den 1970er Jahren zu Papier gebracht. Da galt sie in ihrer Heimat längst als «Volkstalent». Später kam auch internationale Anerkennung hinzu. Das verhinderte nicht, dass Werke Prymaschenkos jetzt während der russischen Invasion beschädigt und zerstört wurden. Die aktuelle Ausstellung im open art museum St.Gallen ist deshalb zweierlei: Sie ist das Angebot, ukrainische Kulturgüter zu schützen, indem sie ausser Landes gezeigt werden, und zugleich vermittelt sie die identitätsstiftende Kraft und den Wert der Naiven Kunst. Prymaschenkos Tier- und Blumenbilder bilden nur einen kleinen Teil der Ausstellung. Grosses Augenmerk liegt auf Szenen des Landlebens und Porträts aus der Hand von Hryhorii Ksionz, Yakylyna Yarmolenko und anderen: Bäuerinnen und Bauern lassen sich in repräsentativer Pose malen. Stolz und Verbundenheit mit dem eigenen Dorf sprechen aus diesen Motiven. Jetzt leidet nicht nur diese Lebenswelt unter Angriff und Zerstörung, auch ihre kulturellen Zeugnisse sind akut bedroht. ks

→ ‹Die Bestie des Krieges – Naive Kunst aus der Ukraine›, open art museum, St.Gallen, bis 25.2.2024
↗ openartmuseum.ch

Andrea Vogel – Ausgemustert

Andrea Vogel arbeitet mit Textilien, eine Textilkünstlerin ist sie nicht: Statt zu weben, stricken oder nähen, integriert Andrea Vogel industriell gefertigte Produkte in ihre künstlerische Praxis. Sie untersucht deren plastisches oder farbiges Potential. Sie deutet Vorhandenes um, überformt es und behält dennoch stets den Bezug zum Stoff. ‹Softwear›, 2023 beispielsweise ist eine Serie aus alten Handtüchern. Die ausgediente Frotteeware wurde im industriellen Recyclingprozess zu Quadern gepresst. Aus dem weichen, hautfreundlichen Material sind feste Körper geworden, die sich der Geometrie widersetzen. Sie stehen zusammengesackt, etwas schief, ohne gerade Kanten auf weissen, geradlinigen Sockeln. Gezielt lenkt Vogel mit dieser kontrastreichen Platzierung den Blick auf die Faltenstruktur, die Oberfläche der Handtücher und den zufallsbasierten Farbreichtum der Quader. Sie stellt damit Bezüge zur Malerei her und zur plastischen Kunst. Auch einen Ortsbezug integriert Vogel regelmässig in ihre Ausstellungen. In Wil spiegelt sie die Architektur der Kunsthalle und eines benachbarten Gebäudes durch Fotos der Fenster beider Häuser, zudem platziert sie Vorhänge aus dem anderen Bau als Bodeninstallation: Der Vorhangstoff wird sowohl in seiner raumbildenden Qualität gezeigt als auch als farbiges Element, das durch die bleichende Kraft der Sonne obendrein einen Zeitfaktor porträtiert.

Rachel Lumsden — You got nothing to loose

Die Malerei ist eine Wildsau. Ungestüm rast sie voran, und ­Rachel Lumsden rast mit. Nur so entsteht ein gutes Bild. Die Künstlerin schildert in Worten, wie sie sich mitreissen lässt von der Wildsau – aber auch, was deren Lauf bremsen kann. Sie hat zeitgleich zu ihrer Schau im Kunstmuseum Thurgau einen Text veröffentlicht, der als Manifest deklariert ist und ins Zentrum der künstlerischen Arbeit führt. Ausstellung und Buch ergänzen sich aufs Beste. Beide künden von Rachel Lumsdens Feuer für die Malerei und für die Farbe, vom «blazing hot moment», nach dem die Ausstellung benannt ist. 

Grün kann modrig sein oder frisch. Es kann staubig sein oder glänzen. Es kann glitzern oder samten sein. Es ist – wie jede andere Farbe – mehr als ein Farbton. Rachel Lumsden schildert die reichen Qualitäten von Grün aus Sicht der Malerin. Diese in jahrzehntelanger künstlerischer Arbeit geschärfte Perspektive hat sie jetzt unter dem Titel ‹Ritt auf der Wildsau› in ihr ‹Manifest für die Malerei› gepackt. Im Prolog zu dieser handlichen Publikation lässt sie die intensiven Farberlebnisse aus ihrer Kindheit auferstehen. Beispielsweise die Expeditionen zu einer Ziegelmauer mit ständig tropfenden Rohren: «Das nassglänzende Moos dort gab uns eine erste Idee der Farbe, die auf der Rückseite der Mauer des mittlerweile stillgelegten viktorianischen Wasserreservoirs wartete: ein dickes, schleimiges Grün, das weisse Kniesocken spektakulär einfärbte, wenn wir darin wateten.»

Analyse des Kunstbetriebs
Farbe ist mehr als ein optischer Eindruck. Sie schmatzt, stinkt und wabert – Eigenschaften, die Lumsden in lebendiger, bildhafter Sprache niedergeschrieben hat. Damit entfaltet ‹Ritt auf der Wildsau› bereits auf den ersten Seiten einen Sog, der tief hineinzieht in das Buch. Klassifiziert ist es als ‹Manifest für die Malerei›. Aber es ist mehr als eine Absichtserklärung oder ein öffentlicher Aufruf. Es ist eine prägnante Analyse des Kunstbetriebs, seiner Fallstricke, seiner Typen und Mechanismen, die weit über Lumsdens individuelle Situation hinaus gültig ist. Pointiert beschreibt die gebürtige Engländerin, wie Malerei aus ihrer Sicht gegenüber anderen Kunstformen noch immer ins Hintertreffen gerate und welch schweren Stand insbesondere die figurative Malerei in der Schweiz noch immer habe. Sie erstellt ein Bestiarium der Personen an Schlüsselstellen im Kunstmarkt und im Ausstellungswesen, das mitunter so nah am unmittelbar Erlebten ist, dass Namen nicht genannt werden müssen, um zu erahnen, wer gemeint ist.
Zugleich ist das Buch ein feministischer Text. Es zeigt aus Sicht der Frau die ungleich grösseren Herausforderungen im Kunstbetrieb für Künstlerinnen. Und nicht zuletzt ist es ein persönlicher Essay mit literarischen Qualitäten. Geschrieben hat ihn Rachel Lumsden während der Corona-Pandemie, in einer Zeit also, in der sich mitnichten ein wunderbarer, entschleunigter Arbeitsraum auftat, der nur darauf wartete mit neuen Kunstwerken gefüllt zu werden. Stattdessen war es für viele Künstlerinnen und Künstler eine Zeit der fehlenden Resonanz, einer «seltsam leeren Denkblase», wie es Rachel Lumsden nennt.

Hitze, Trockenheit, Stille – Malerei kann alles zeigen
Der Text ist sprachlich und inhaltlich ein Wurf und wurde von der Grafikerin Katrina Wiedner in eine sehr schöne Form gegossen. Die Publikation mit silbergrauem Textilumschlag, einem Buchschnitt in Metallisch-Pink und leuchtend abgestuftem Vorsatzpapier erscheint pünktlich zu Rachel Lumsdens Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau. Wenngleich es kein Ausstellungskatalog ist, liefert das Buch doch eine passende Lektüre zur Betrachtung der gezeigten Arbeiten.
In ‹Dragonfly›, 2020, beispielsweise manifestiert sich, was Lumsden über das sinnliche Potenzial der Farbe schreibt. Das Gemälde zeigt ein Stück flaches Land mit zwei Wassertürmen auf hohen Stützen, die den nahen Horizont durchbrechen. Im Vordergrund markiert Gestrüpp die Grenze zwischen Szenerie und Betrachtungsposition. Zwei Personen – eine zu Fuss, eine auf dem Velo – ziehen ihrer Wege. Das Motiv ist unspektakulär, umso eindrücklicher ist die evozierte Stimmung. Gelb, Grün, Petrol, sehr helles, fast graues Violett und Braun verbinden sich zu einem eingefrorenen Irisieren. Lasuren zeugen von feuchtem Farbauftrag, zugleich wirkt das Pigment staubig. Virtuos entwirft Rachel Lumsden die Stimmung eines Tages, an dem es viel zu früh schon sehr heiss ist und spät am Abend kaum abkühlt. Sie porträtiert die Trockenheit, die Wärme, die Stille, das Licht – die ganze Vielfalt an Eindrücken. Das kann nur die Malerei; wenn man sie lässt. Oder wie es die Künstlerin im Gespräch ausdrückt: «Ich kann mit Ölfarben Atmosphäre kreieren, ohne zu beschreiben, aber ich muss der Farbe Freiraum geben. Wird das Mittel Farbe zu sehr kontrolliert, stirbt es. Man muss bereit sein, etwas anderes zuzulassen.»

Zeitgeschehen und Alltag
Aus dem Spiel zwischen gesteuerter und «zugelassener» Farbe ergibt sich der reiche Klang der Gemälde Lumsdens. Die Motivik ist dabei mehr als Mittel zum Zweck: «Das Oszillieren zwischen Motiv und Malerei ist mir sehr wichtig.»
Die Künstlerin greift hochaktuelle Sujets auf wie auch kleine beiläufige Beobachtungen, die sie malerisch transformiert. So fanden sowohl der verheerende Brand des Sozialwohnungsobjekts Grenfell Tower in London 2017 oder das gestrandete Containerschiff im Suezkanal 2021 Eingang in ihr Œuvre als auch das zeitlose Bild einer Drossel in einem Vogelbeerbaum: «Ich wähle den visuellen Inhalt meiner Bilder weniger aus strategischen Gründen, sondern weil er in mir Resonanz erzeugt. Weshalb etwas in mir widerhallt, ist eine weitere Frage, deren Antwort wohl in frühen oder früheren visuellen Erfahrungen begründet liegt.»
Lumsden recherchiert Themenfelder und legt Bildersammlungen an – aus Medienbildern und teils auch eigenen Fotografien. Einer solchen entstammt auch das Drosselbild: «Ich malte es als Kleinformat, weder illustrativ noch realistisch, sondern ‹painterly›, als Gesamterfahrung aus Kobaltblau, aufgetragener Farbe, Federn, Baum und Kadmiumbeere.» Im Kunstmuseum Thurgau ist eine grosse Version dieses im Manifest erwähnten Sujets zu sehen. Die Übersetzung ist mehr als eine Probe, ob das, was in Klein gut ist, sich im Grossformat bewährt. Sie zeugt auch von der Rebellion der Malerin: denn Rachel Lumsden sieht sich immer wieder mit der Annahme konfrontiert, Malerei dürfe nicht schön sein oder gutes Handwerk sei manieriert. Hier setzt das grosse Bild ein Zeichen: «Wenn etwas verboten wird, muss man es tun! Am besten in Gross.»

Die Schönheit der Malerei
Nun leuchten also das Kobaltblau und die kadmiumroten Beeren von dem knapp zwei Meter hohen und sieben Meter breiten Triptychon ‹Thicket›, 2020. Leider hängt es im Kunstmuseum Thurgau auf der Empore mit geringer Raumtiefe, sodass es nur aus der Nähe betrachtet werden kann. Überhaupt sind die Räume nicht einfach zu bespielen. Das Tonnengewölbe, die Bodenplatten, die eingebauten Wände, der Verputz und die Dachsparren sorgen für eine heterogene Ausgangslage. Umso mehr Gespür brauchte es von der Künstlerin, um ihre Arbeiten zu installieren: «Pausen sind notwendig und Verbindungen. Auch die Simultaneität ist mir wichtig. Ich habe verschiedene Gemäldekonstellationen ausprobiert.» Zentral platziert ist ‹Ground swell›, 2022: Das Signalorange einer Bohrinsel unter cyanblauem Himmel leuchtet in den langgestreckten Raum. An der gegenüberliegenden Stirnseite antwortet ‹Other side of the rain›, 2021, mit dem von Rost überzogenen Blau eines Schiffsrumpfes in schmutziggelber Gischt. Von der Seite grüsst ‹Root and branch›, 2023, mit einer idyllischen Sommerszene unter grünen Blättern. Alle Gemälde fügen sich zu einer Erzählung über die Kraft der Farbe und die Schönheit der Malerei.
Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstlerin in der Ausstellung am 13.8.2023 und ihrem ­Manifest ‹Ritt auf der Wildsau›.

Rachel Lumsden (*1968, Newcastle-upon-Tyne) lebt in Schaan und arbeitet in Arbon
1987–1991 BA Honours in Fine Art, Nottingham Trent University
1995–1998 MA in Painting, Academy Schools, London
2007–2019 Dozentin für Malerei an der Hochschule Luzern – Design & Kunst

Einzelausstellungen (Auswahl)
2023 ‹Landslide›, Centre d’art, Museum Villa Bernasconi, Lancy
2022 ‹Mr. Wolf›, Galerie Bernard Jordan, Paris; ‹Absence of fondness›, Coleman Projects, London
2019 ‹Underwater Cocktail Party›, Haus der Kunst, Solothurn; ‹Continental Drift›, Architektur Forum Ostschweiz, St. Gallen
2018 ‹Return of the Huntress›, Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona
2017 ‹Rachel Lumsden›, Kunsthaus Pasquart, Biel

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2022 ‹Vertrauen›, Helmhaus Zürich; ‹(Un) Certain Ground›, Kunsthaus Pasquart, Biel
2020 ‹Pinsel, Pixel und Pailletten – Neue Malerei›, Kunstmuseum Thurgau
2019 ‹Stadt, Berg, Fluss›, Kunstmuseum Singen
2017 ‹London meets Altdorf›, Haus für Kunst Uri

Caspar David Friedrich und die Vorboten der Moderne

Das Kunst Museum Winterthur zeigt die erste grosse Einzelausstellung mit Werken Caspar David Friedrichs in der Schweiz. Es präsentiert den Künstler im Kreise von Zeitgenossen und Vorläufern. Dank der eigenen erstklassigen Bestände konnten Schlüsselwerke nach Winterthur ausgeliehen werden.

Über die Rückenfigur in Caspar David Friedrichs Gemälden wurde und wird viel geschrieben, ebensoviel über die Symbolik der Kreuze, Anker oder Schiffe in seinem Werk. Die Einen betonen das Politische im Werk des Künstlers, die Anderen das Religiöse und die Dritten sehen es von Krankheit beeinflusst. Das Kunst Museum Winterthur mischt sich in diese Debatten nicht ein – und tut gut daran. Es legt den Fokus auf Friedrichs Vorläufer und sein künstlerisches Netzwerk. Die Ausstellung ist aus den eigenen Beständen und jenen des Kooperationspartners Museum Georg Schäfer in Schweinfurt heraus entwickelt. Das Projekt ist ein geschickter Schachzug, denn es kommt den grossen Institutionen zuvor, die das Werk des Romantikers ab 2024 anlässlich seines 250. Geburtstages zeigen. Dann wird auch der Winterthurer ‹Kreisefelsen auf Rügen›, 1818 für längere Zeit auf Reisen gehen. Im Gegenzug sind nun andere Meisterwerke erstmals in der Schweiz zu sehen.
Am Anfang der Ausstellung stehen die Papierarbeiten. Sepiablätter zeigen, wie Friedrich von Adrian Zingg beeinflusst wurde. Der aus St.Gallen stammende Dresdner Akademieprofessor schilderte Szenerien jedoch pittoresk und anekdotisch. Friedrich hingegen setzt auf Reduktion und konstruiert erhabene Landschaften. Zingg brachte aus der Schweiz ausserdem sein Interesse für die unmittelbare Umgebung mit, statt sich wie Zeitgenossen auf ausgedehnte Italienreisen zu begeben. Friedrich tat es ihm nach und fand seine Sujets im Elbsandsteingebirge, im Riesengebirge oder in seiner Heimat Vorpommern. In Winterthur sind die Gemälde motivisch geordnet: die Seestücke, die Baumgruppen, die Gebirgsbilder. Überall führen sorgfältig ausgewählte Einschübe zu sehenswerten Nachbarschaften, so von Caspar David Friedrich und Jacob van Ruisdael. Friedrich kannte dessen Werke aus den Dresdner Gemäldesammlungen. In Winterthur zeigen sich die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in Komposition und Farbe. Solche Vergleiche ermöglicht auch die prominente Hängung dreier Werke an der Stirnseite des Raumes: Gebirgslandschaften von Joseph Anton Koch und Carl Gustav Carus rahmen Caspar David Friedrichs ‹Der Watzmann›, 1824/25. Während Koch einen vielgestaltigen Gesamteindruck liefert, zeigt Carus eine realistische Naturschilderung. Friedrich hingegen baut dem Berg einen Sockel aus kahlen Hügeln und Felsen. In seiner künstlerischen Radikalität und Strenge brach er mit allen Konventionen der Landschaftsmalerei und steht an der Schwelle zur Moderne.

Caspar David Friedrich – Das Kunst Museum Winterthur präsentiert seine erste Schweizer Ausstellung

David Friedrich kam 1774 in Greifswald zur Welt. Das Kunst Museum Winterthur feiert den bedeutendsten Maler der deutschen Romantik bereits jetzt mit der einzigen Jubiläumsschau der Schweiz. Sie ist eine der grössten Ausstellungen des Kunst Museum Winterthur der vergangenen Jahre und ist mit hervorragenden Leihgaben bestückt.

Die erste grosse und einzige Museumsausstellung von Caspar David Friedrich in der Schweiz – die Ankündigung des Kunst Museum Winterthur überrascht. Dem Künstler wurde nie eine eigene Schau gewidmet? Schliesslich verfügt das Museum dank der Stiftung Oskar Reinhart über die grösste Werkgruppe des Künstlers ausserhalb Deutschlands. Das allein wäre längst eine Ausstellung wert gewesen. Ausserdem befindet sich eines von Friedrichs wichtigsten Werken in Winterthur: «Kreidefelsen auf Rügen». Nun gehört es zu den zentralen Stücken in «Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik». 
Die Ausstellung ist nicht nur überfällig, sondern auch ein geschickter Schachzug des Kunst Museum Winterthur. Im nächsten Jahr jährt sich der Geburtstag des Künstlers zum 250. Mal und die grossen Museen in Hamburg, Berlin und Dresden feiern ihn mit eigenen Präsentationen, dann sind Leihgaben schwer zu bekommen und auch die Gemälde aus Winterthur für lange Zeit auf Reisen. Winterthur zeigt also in guter Voraussicht die Ausstellung bereits in diesem Jahr. Obendrein setzt es einen besonderen thematischen Schwerpunkt: Noch nie waren Werke Caspar David Friedrichs neben denjenigen seiner Vorläufer zu sehen. 
Auch so ein radikaler, eigenständiger Künstler wie Caspar David Friedrich beginnt nicht bei null. Auch er hat sich von älterer Kunst und von Zeitgenossen inspirieren lassen. Einer davon war der St.Galler Adrian Zingg. Er unterrichtete an der Dresdner Akademie und war bekannt für seine Landschaftsbilder in Sepiatechnik. Sie stehen am Anfang der Ausstellung im Kunst Museum Winterthur und zeigen den grossen Einfluss Zinggs auf Friedrich, aber auch die Eigenständigkeit des Letzteren. Beide Künstler teilen das Interesse für die Natur, ihre Schönheit und Grösse. Zingg ist jedoch detailverliebt und erzählerisch, während Caspar David Friedrich ein Meister ist im Weglassen. Seine Landschaften entfalten ihre Wirkung aus der Reduktion auf das Wesentliche. Eine Baumgruppe, ein Hünengrab, ein paar Felsbrocken am Meeresufer, eine sanft geschwungene Hügelkette und davor Leere: Friedrichs verzichtet auf kleinteilige, belebte Szenen. Sein Metier ist die erhabene, grossartige Natur. Das sorgte schon zu seinen Lebzeiten für Diskussionen. Damals vermissten manche das Liebliche in seinen Gemälden, andere empfanden es als Anmassung mit Landschaftsbildern das Göttliche ausdrücken zu wollen. Heute wird darüber gestritten, ob Friedrich ein religiöser Künstler war, ein politischer oder ein Naturmystiker. Das Kunst Museum Winterthur mischt sich in diese Debatten nicht ein, sondern lässt die Werke selbst sprechen. 
Die Inszenierung ist stimmig. Auf tiefblauen Stellwänden und an der Stirnseite des Raumes hängen Schlüsselwerke Caspar David Friedrichs: So konnte beispielsweise der berühmte «Wanderer über dem Nebelmeer» aus der Hamburger Kunsthalle ausgeliehen werden, oder «Der Watzmann» aus der Berliner Nationalgalerie. An den Längswänden des Raumes sind die kleineren Formate platziert, sie sind nach Motiven gruppiert: Die Küste bei Mondenschein, die Baumgruppen, die Segelschiffe. Friedrich wird neben Künstlern wie Claude Lorrain oder Jacob van Ruisdael gezeigt, auf diese Weise sind gute Vergleiche möglich. Eine ansehnliche Zahl von Werken stammt aus dem Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, das für diese Ausstellung mit dem Kunst Museum Winterthur kooperiert hat. So konnte eine reichhaltige, stimmige Schau des grossen Romantikers Friedrich zusammengestellt werden.

Obacht Kultur, Farbe

Lisa Rotach, Naturfarben: «Wir lassen uns aufs Material ein, es gibt den Umgang und die Zeit vor.»

«Machen Sie mal, das wird schon gut.» – solche Sätze hört Lisa Rotach manchmal von ihren Kundinnen oder Kunden. Dieses Vertrauen ist schön, dennoch möchte die Malerin ihre Arbeit im Austausch entwickeln. Schliesslich werden Farben sehr unterschiedlich wahrgenommen und können die Atmosphäre eines Gebäudes entscheidend beeinflussen. Für Lisa Rotach ist es wichtig zu erfahren, wie die Menschen leben, wie sie die Räume nutzen, welche Lieblingsfarben sie haben. Denn ihre Arbeit geht weit über einen Wandstrich hinaus: «Ich vermittle, wie Farben eingesetzt werden können in Verbindung mit Architektur und Licht.» Diese konzeptuelle Arbeit gehört nicht zu den Grundkenntnissen im Malerhandwerk. Lisa Rotach hat sie sich in mehreren Weiterbildungen angeeignet. Am Anfang stand eine konventionelle Malerlehre und die die Arbeit in einem Grossbetrieb mit künstlichen Farben. Das war für Lisa Rotach weder interessant genug noch der Gesundheit zuträglich, deshalb hat sie sich für einen anderen Weg entschieden, hat eine Ausbildung zur Baubiologin abgeschlossen, mehre Weiterbildungen absolviert und ist zertifizierte «Meisterin der Farbe». Damit arbeitet sie nach den Farbprinzipien von Le Corbusier mit natürlichen Farbpigmenten: «Ich mache keine Abstriche mehr bei der Qualität und der Ökologie. Unsere Farben mischen wir selber im Betrieb nach biologischen Grundsätzen.» Einem aktuellen Trend folgt sie damit nicht, sondern einem Grundbedürfnis der Menschen: «Wir verbringen viel Zeit im Innenraum, da ist es wichtig womit wir uns umgeben – Gift passt da nicht dazu.» Allerdings gibt es einen limitierenden Faktor in der Arbeit mit Naturfarben: die Zeit. Die Prozesse dauern länger, die Farben trocknen langsamer. Aber für Lisa Rotach ist auch das keine Hürde: «Wir lassen uns aufs Material ein, es gibt den Umgang und die Zeit vor.»

Jürg Müller, CEO arcolor, Waldstatt: «Unsere Farbe muss was aushalten!»

Trinkröhrli, Paketklebeband und eine graue Tischplatte haben weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick etwas gemeinsam. Und doch: In allen dreien steckt Arbeit von arcolor drin. Hier, in Waldstatt, produziert die Firma Druckfarbe, die weltweit eingesetzt wird – in der Möbelindustrie, für Verpackungsmaterialien und vieles Anderes, das Farbe braucht. Arcolor stellt Konzentrate her, die an die Druckereien geliefert werden, die wiederum die weiterverarbeitenden Betriebe beliefern – bis schliesslich der Tisch, der Trinkhalm oder das zugeklebte Paket im Haushalt oder im Büro landen. Arcolor ist Teil einer langen Kette und muss alle ihre Glieder im Blick behalten, wie Jörg Müller, CEO von arcolor, betont: «Farbe ist viel mehr als ein Farbton. Sie muss temperaturbeständig sein, gut verarbeitbar und zum Schluss auch lichtecht. Unsere Farben müssen auf langer Strecke etwas aushalten.» Denn ein Möbel ist kein Wegwerfartikel, selbst wenn seine Farbe Trends unterworfen ist. Während also die Konsumindustrie auf Trendscouts setzt, ist bei arcolor die grösste Abteilung jene für «Forschung und Entwicklung». Sie tüftelt an Zusammensetzungen, deren Pigmente nicht die Farbdüsen der Drucker verstopfen, die sich auch auf grossen Flächen homogen verteilen lassen, die leuchten, nicht ausbleichen und selbstverständlich schadstofffrei sind. Arcolor-Farben sind Alleskönner – und deshalb überall gefragt. Von Waldstatt aus gehen fast 100% der hier hergestellten Farbkonzentrate in die ganze Welt und sind in vielen Bereichen das weltweit einzige Fabrikat. Wer also farbig bedruckte Kartons, Folien oder Klebebänder erblickt, hat höchstwahrscheinlich ein bisschen Farbe aus Waldstatt vor sich.

«Obacht Kultur», Farbe, N° 46, 2023/2

Christian Hörler

Bildbogen, Obacht «Farbe», 1´800 Zeichen max.

Seite A, 2023, Filzstift auf Papier, 43.5 x 30 cm 2023
Seite B, 2023, Filzstift auf Papier, 43.5 x 30cm 2023

Ein Stein wie ein Fels – eine Zeichnung kann die Dimensionen verschieben: Christian Hörler (*1982) legt einen Stein auf ein Blatt Papier und umfährt die Konturen mit einem Stift, legt ihn auf eine andere Weise auf ein neues Blatt Papier und umfährt wieder die Konturen. Jedes Mal entsteht eine andere Form auf dem Papier. Gemeinsam ist diesen linearen Zeichnungen: Sie lassen sich mühelos ins Monumentale weiterdenken: Der Stein wird zum Fels. Diese Verwandtschaft des Kleinen mit dem Grossen beobachtet und studiert Christian Hörler in seiner künstlerischen Arbeit. Er hat sich ein umfangreiches geologisches Spezialwissen angeeignet. Sowohl in den Appenzeller und St. Galler Bibliotheken ist er häufig unterwegs, zugleich hat er daheim in Wald AR eine ansehnliche Büchersammlung. Dabei verfolgt Hörler keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern seinen künstlerischen Ansatz: «Ich suche einen Weg, meine Studien und die Erkenntnisse künstlerisch zu übersetzen.» Das fängt weder in den Büchern an, noch hört es dort auf: Neben der Lektüre gehören die Suche nach Steinen und nach einem weiter gefassten künstlerischen Ausdruck dazu sowie das Ansehen und Verstehen der Landschaft: «Ich bewege mich im Gelände und lerne, es zu lesen und einen selektiven Blick zu entwickeln für natürliche und künstliche Formationen.» Letzteren gilt Hörlers besonderes Interesse: Gezielt sucht er Abbruchstellen, um dort Steine auszuwählen. Eine andere Form der Annäherung sind die abgebildeten Umrisszeichnungen. Die Farbe wählt er dafür intuitiv: «Es ist ein einfacher Griff in die Schublade.» – violett oder dunkelgrün, braun oder grau – für den Stein passt es immer.

Obacht Kultur, Farbe, Bildbogen, N° 46, 2023/2

Obacht «Farbe»
Auftritt Zora Berweger

Reliefs sind das Bindeglied zwischen der zweidimensionalen und der dreidimensionalen Welt. Sie besitzen die flächige Qualität eines Bildes und die räumliche eines Objektes. Zora Berweger arbeitet schon seit längerem aus diesem Grund mit Reliefs und reizt deren Grenzen beiderseits weiter aus: in Richtung Malerei als auch in Richtung Objekt. Die gebürtige Bernerin ist Bürgerin von Stein AR und hat bereits zweimal den Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung erhalten. Sie formt ihre Reliefs unter anderem aus Salzteig, ein Material, das eher als Bastelmaterial bekannt ist denn als künstlerischer Werkstoff – und doch ist es für Zora Berweger genau das richtige: Er ist einfach herzustellen, leicht zu verarbeiten und besitzt eine besondere, raue Oberfläche. Salzteig besteht aus Getreide, Salz und Wasser. Angetan vom archaischen Charakter des Materials verzichtet die Künstlerin sogar darauf, ihre Objekte zu backen, sondern lässt sie einfach trocknen. Dazu passt auch die Bearbeitung mit der blossen Hand: «Ich will nicht gegen das Objekt arbeiten. Das Material fasziniert mich und ich untersuche, welch künstlerisches Potenzial darin steckt, welche Kraft es hat und welche aus den gewellten, den graden Linien und den einfachen Formen kommt.» Die Farbgebung unterstützt diese Kraft. Um nicht gegen das Objekt und seine fein strukturierte Oberfläche zu arbeiten, sprüht die Künstlerin die Farben flach und von den Seiten her auf. Damit betont sie die Dreidimensionalität des Reliefs. Zugleich verschwinden die Grenzen von Lichteinfall und Farbauftrag.
Hier hat die Künstlerin von der einen Seite her pink gesprüht, von der anderen her grün; damit entsteht eine irisierende Wirkung. Der ebenfalls abgebildete Farbkontrollstreifen ist wichtig für jede Reproduktion von Kunstwerken, denn die Kamera reagiert verwirrt auf besondere Farb- oder Lichtsituationen. Druckmaschinen hingegen sind stoisch: Sie verarbeiten die vorliegende Farbinformation, sie interpretieren nicht. Nur die Menschen an der Maschine können das Druckergebnis steuern und perfektionieren. Indem Zora Berweger den Farbkontrollstreifen integriert, verweist sie auf die Übersetzung: Das eigentlich spannende Objekt besteht aus Salzteig, hier ist es nur abgebildet. Aber es ist gestanzt, so lässt es sich herausnehmen. Dann jedoch fehlt auch der fotografierte Schatten – die Reproduktion wird zu einem neuen, eigenständigen Werk.

Obacht Kultur, Farbe, No. 46 | 2023/2

Kooperationen auf der Insel

Die 17. Ausstellung der Kunsthalle[n] Toggenburg führt in Nesslau ein sehenswertes Inseldasein: Auf Helgoland in der Thur haben knapp zwanzig Künstlerinnen und Künstler für zwei Wochen eigens entwickelte Werke installiert.

Wer nach Helgoland reist, nimmt die Fähre oder den Helikopter – oder die S2 Richtung Nesslau-Neu St. Johann. Vom Endbahnhof der S2 sind es 15 Minuten zu Fuss; am Feldrain und ein Stück der Thur entlang und schon kommt die Insel in Sicht. Nicht jene in der Nordsee freilich, aber ihre Namensschwester im Toggenburg: «Helgoland» ist im Gemeindeverzeichnis als offizieller Name des 1808 m2 grossen Eilands vermerkt. Zustande kam er während des ersten Weltkrieges, als Flüchtlingskinder aus Norddeutschland auf dem Kloster-Areal des Johanneums aufgenommen wurden. Für viele ist das Landstück aber einfach das Inseli: eine kleine, grüne Oase mit Kapelle und Grillplatz, mit Blockhütte und Baumschaukel – und nun für zwei Wochen mit Kunst.
Helgoland ist in diesem Jahr Schauplatz des 17. Ausstellungsprojektes der Kunsthalle[n] Toggenburg: «1808 m2» ist eine Ausstellung unter freiem Himmel, jederzeit zugänglich und ohne Kasse. Das inoffizielle Motto dieses Jahr sind die Kooperationen, die Arbeit an Aufgaben, die sich gemeinsam viel besser bewältigen lassen. Wie genau dies umgesetzt wird, war den Künstlerinnen und Künstlern freigestellt. So haben sich Duos gebildet oder es wird mit Mikroorganismen kooperiert oder das Wasser arbeitet mit. Auch die Menschen aus dem Johanneum haben mitgewirkt. Sie strickten gemeinsam mit Madame Tricot wollene Pilze, die über das ganze Areal verteilt aus dem Boden zu schiessen scheinen. Pilze, verbunden durch ihr Myzel, sind das perfekte Bild für erfolgreiches Netzwerken.
Auch Hanes Sturzenegger integriert Mikroorganismen in sein Projekt: «Bleibe» ist von aussen wenig mehr als ein schlichter Holzkasten unter dem First des Blockhauses. Innen jedoch reproduzieren sich lokale Mikroorganismen. Deren Enzyme dienen dann schliesslich der Verfeinerung von Speisen, hier wird experimentell eine kulinarische und künstlerische Zusammenarbeit erprobt. Wie «Bleibe» wirken einige Werke im Verborgenen, andere fallen stärker ins Auge. So beispielsweise die leuchtend pinkfarbene «Femme Fatale» von Müller Tauscher. Sie sitzt an der Feuerstelle und will all jenen, die zum Bräteln kommen, auf die Grillspiesse schauen: Steckt dort Veganes oder Fleischliches? Lasst Euch das Würstli schmecken, aber denkt mal drüber nach…
Andere gesellschaftliche Fragen thematisieren Marc Lohri und Simon Fürstenberg oder Doris Willi und Martin Benz. Das erstgenannte Duo hat «Vorzeichen der Veränderung» ausgesteckt: Die hohen Visierstangen spielen auf Bauprojekte an, die im Landschafts- und im Stadtraum der dicht besiedelten Schweiz regelmässig für Diskussionen sorgen. Auf der kleinen Insel fallen sie in ihrer Grösse – auch im Vergleich zur Kapelle – besonders ins Auge. Direkt daneben haben Benz und Willi eine Lochkamera platziert und ein Beobachtungsfeld umrissen. Wer oder was hier zu welchen Zeiten aufgenommen wird, bleibt im Dunkeln des schuhkartongrossen Kastens verborgen. Sind es die Leute im Hamsterlaufrad? Simon Kindle und Vincent Hofmann haben «Das Eirad» installiert. Es erinnert an Kleintierzubehör und lässt sich benutzen. Für das Publikum bleibt es allerdings gesperrt, denn das bewegliche Oval ist nicht ganz ungefährlich – so wie das ganze Leben mit seinen Aufs und Abs. Bei letzteren helfen manchen Menschen Lebensweisheiten oder die Nähe zur Natur. Darauf beziehen sich Rebecca Koellner und Claudia Zimmer mit «Der Fluss nimmt uns mit». Sie haben auf Baumstämme lyrische Sätze geschrieben und regen zu einer bewussteren Wahrnehmung der Natur und des Selbst an.
Einen «Perspektivwechsel» inszeniert Sonja Rüegg. Sie kooperiert mit arthur#12 und wandelt eine frühere Installation ab: Sie bringt Spiegel an der Schutzhütte auf der Insel an. Sie lassen die Hütte verschwinden, indem sie die Natur reflektieren – eine ebenso schöne wie hintersinnige Geste: Wo hört die Natur auf, wo fängt sie an? Wie bewegt sich der Mensch in ihr? Dazu passt «Meins» von Rosemarie Abderhalden und Ursula Anna Engeler. Die beiden haben zwei Quadratmeter Inselfläche abgesteckt und eine Hängematte darüber gebunden. Damit thematisieren sie sowohl den menschlichen Raumbedarf in der Natur wie auch die Bedeutung der Natur fürs Wohlbefinden.
Spätestens beim Verlassen der Insel kommen die «Lichttöggel» in den Blick: Marcel Cello Schumacher kooperiert mit der Thur. Mehrere Dutzend Schwimmkörper aus dem Angelbedarf hängen geordnet über dem Fluss. Das Wasser versetzt die neonfarbenen Töggel in Bewegung und sorgt für ein sich ständig änderndes, eindrückliches Bild. Auch Sebastian Herzog und Nico Feer nutzen die Kraft der Thur: Sie haben an der Brücke zwei Velos installiert, deren Räder sich dank des Flusses drehen und die «Thur-Velharmonie» zum Klingen bringen.
Nach dem Rundgang grüsst noch einmal die «Hüterin der Tiefe», sie hat das Publikum bereits willkommen geheissen. Andy Storchenegger hat diese Beschützerin mitten im Fluss installiert. Sie wacht über alles: die Menschen und das Wasser, die Natur und den Ort, die Kunst und die Enten, die unbeeindruckt um sie herumschwimmen.

Interview

Katrin Hotz, Ueli Vogt, Kurator Zeughaus Teufen, und Kristin Schmidt, Kunstkritikerin, trafen sich am 4. April 2022 im Atelier von Katrin Hotz. Sie sprachen über die aktuellen Arbeiten der Künstlerin ebenso wie über die Entwicklung ihres Werkes. Ausgangspunkt dafür war der Entwurf der vorliegenden Monographie. 

Kristin Schmidt: Die beiden Teile der Installation sind sehr unterschiedlich, auf der einen Seite fünf einzelne Elemente, auf der anderen Wand die grosse zusammenhängende Geste. Welche Entscheidungen stehen hinter diesen unterschiedlichen Formkonzepten?
Katrin Hotz: Mit diesen fünf Elementen habe ich mich für das Louise Aeschlimann und Margareta Corti-Stipendium beworben, die Ausstellung fand im Centre Pasquart in Biel statt. Die fünf grünen Formen sind mit glänzender und matter Farbe ausgeführt und mit dreifarbigen Klebestreifen befestigt. Ich habe diese Elemente im Atelier vorgearbeitet, aber sie nicht wie eine klassische Malerin im Atelier vollendet, um sie dann im Museum nur noch aufzuhängen. Ich arbeite immer vor Ort performativ weiter.
Zu Beginn habe ich vertikal gearbeitet: Ich habe Papierbahnen an der Wand von oben nach unten fallend aufgehängt. Später habe ich diese fünf Einzelteile realisiert und von da ausgehend der Wand entlang die Horizontale für mich erschlossen. Dahinter stecken Entwicklungsschritte und die Lust neues auszuprobieren. Nachdem ich mehrere Male mit der klassischen rechteckigen Form gearbeitet habe, wollte ich diese aufbrechen und versuchte mein ästhetisches Vokabular zu erweitern zum Beispiel mit einzelnen Elementen, Mehrfarbigkeit…
Die horizontal in den Raum gestreckte Arbeit im Centre Pasquart verstehe ich auch zeichnerisch: Es ist ein Strich im Raum, gleich einem riesigen Pinselstrich. Er geht über die Tür hinweg, ignoriert die Architektur, verlässt das vorgegebene Format der Wand und verdeckt teilweise die Durchsicht in den anderen Raum. Von dort aus ist das Papier auch von hinten zu sehen. Von vorn strahlt die grosse, grüne Fläche in den gesamten Raum hinein.

Kristin Schmidt: Farben eröffnen immer auch Assoziationsräume, wie bist Du zu diesem Grün gekommen?
Katrin Hotz: Die ersten Papierarbeiten entstanden in Vanille, Schwefelgelb und Rosa. Danach hatte ich Lust auszuprobieren, was im Raum passiert, wenn ich so eine kräftige leuchtende Farbe nehme. Dieses Grün trifft man in Biel oft an: bei Neubauten, Bankgebäuden, in Hauseingängen, in Praxen. Hier wurden ganze Quartiere abgerissen und durch neue Gebäude ersetzt. Diese wurden, wohl um ihre billige Bauweise zu überspielen, mit diesem «grün» versehen. Auf dieses Grün beziehe ich mich. Aber ich möchte mich nicht in die Nähe der Narration begeben und bleibe ungegenständlich. Die künstlerische Verwandtschaft zu den giftgrünen Bauten besteht im Material, in der Industriefarbe.

Ueli Vogt: Es gibt viele Grüntöne. Wie hast Du Dich für diesen entschieden?
Katrin Hotz: Ich arbeite mit Farbfächern und lasse mir den richtigen Ton mischen. Teilweise braucht es dafür mehrere Farbmischungen, um diese am Ausstellungsort ausprobieren zu können. Vor Ort studiere ich die Farbigkeit des Bodens, der Wände und Decken. Wichtig ist auch, ob es ein klassischer Museumssaal ist, ein alter Industriebau oder ein modernes Gebäude. Ausgehend von diesen Parametern wähle ich die Farbe.

Ueli Vogt: Arbeitest Du für solche raumbezogenen Werke mit Modellen?
Katrin Hotz: Ja, ich arbeite oft mit Modellen. Ich brauche einen Anfangspunkt und bereite deshalb die meisten Rauminstallationen im Atelier vor. Über die Farben und Formen stelle ich Bezüge zum Raum und zur Architektur her. Es ist wie beim Musizieren: Um Improvisieren zu können, muss man das Handwerkszeug beherrschen. Bei aller Vorbereitung im Atelier: Der Transfer an den Ausstellungsort birgt immer auch Risiken und Überraschungen. Mitunter funktioniert etwas nicht und die Elemente bleiben vereinzelt, dann wirken sie nur additiv zueinander im Raum, aber nicht als dichtes Gefüge. Auch das Werk, mit dem ich mich für das Aeschlimann-Corti-Stipendium beworben habe, ist in der Enge des Ateliers entstanden. Für mein Atelier waren die Elemente gross, sie waren wandfüllend. Im Ausstellungsraum wirkten sie kleiner und vereinzelt. Grundsätzlich war die Radikalität in der Umsetzung nicht mehr dieselbe wie im Atelier.

Ueli Vogt: Sind die Klebestreifen nur pragmatische Befestigung oder auch ein Gestaltungselement?
Katrin Hotz: Während des Aufbaus verwende ich immer Klebestreifen, weil die Installation dann noch provisorisch ist. Aber für die definitive Platzierung eines jeden Werkes entscheide ich neu, wie es an der Wand befestigt sein muss, sie kann auch an die Wand genagelt werden. Die hautfarbenen Bahnen hier im Ausstellungsraum und die gelben, wieder ablösbaren Klebestreifen bilden eine irritierende Farbkombination. In diesem Falle habe ich das Provisorische ins Fertige überführt: Ich zeige die Hängung, anstatt sie zu verstecken. Die gelben Klebstreifen werden Teil der Arbeit, werden ein zeichnerisches Element. Ich stelle das Technische aus und die Arbeit erhält durch diese Anmutung des Provisorischen mehr Leichtigkeit.

Ueli Vogt: Du willst damit keine Geschichte, sondern das Machen erzählen?
Katrin Hotz: Das Machen – die Hängung, der Farbauftrag, das Bearbeiten der Bahnen und die Wahl des Papiers – ergibt das Bild. Aber zum Machen gehört auch das Verschwinden: Der Entstehungsprozess einer Arbeit umfasst zugleich auch das Auflösen, das Zerfallen, also den Prozess, in dem eine Arbeit wieder vergeht. Dieses «Vergängliche» ist Bestandteil meiner künstlerischen Praxis und soll auch zu sehen sein.
Zu Beginn des Prozesses trage ich Farbe mit der Rolle auf die Bahnen auf. Dieses Einfärben ist eine monotone, aber schöne Tätigkeit, die mir viel Raum fürs Denken gibt. Diese Arbeit erledige ich im Atelier in mehreren Durchgängen. Durch diese vielfachen Farbschichten wirken die Papierbahnen mitunter wie plastifiziert. Teilweise trägt mehr die Farbe das Papier als das Papier die Farbe. Ich benutze verschiedene Papiere, angefangen vom grauen 60-Gramm-Zeitungspapier über Hochglanzpapier bis hin zu 200 Gramm schweren, weissen Papier. Alle Papiere sind Abfallprodukte aus den Druckereien. Wichtig ist mir, dass die Papiere keine markante Eigenfarbe besitzen.

Ueli Vogt: Ist das Papier immer nur Träger der Farbe oder entfaltet es ein Eigenleben?
Katrin Hotz: Die verschiedenen Weisstöne und Papierqualitäten sind wichtig, denn die aufgetragene Farbe bildet auf jedem Papier eine leicht andere Leuchtkraft und Haptik. Bei der Arbeit im Atelier lege ich beispielsweise die Papierbahnen mit der bemalten, noch feuchte Seite aufeinander und ziehe sie wieder auseinander. So ergeben sich auf der Oberfläche Verletzungen, welche das Papier wieder hervorholen. Oder ich fange an, aber dann geht die Farbe aus und ich lasse Leerstellen. Die ungefärbte Papieroberfläche ist für mich ein Gestaltungselement. Das gilt auch für das Material Papier als solches: Je nachdem wie ich schneide oder reisse, gibt es andere Gestaltungselemente. Diese sehe ich als Linien oder Striche, im Sinne einer Zeichnung. Wichtig ist mir, dass die Papiere in der fertigen Installation nicht wie Abfallpapiere aussehen, sondern mit ihrer Farbigkeit, den Knittern, Faltungen und Rissen eine eigenständige Ästhetik entwickeln.

Ueli Vogt: Arbeitest du immer auf eine konkrete Ausstellung hin?
Katrin Hotz: Bei der Serie «enough» arbeite ich ausschliesslich ausstellungsbezogen. Aber ich recycle auch Werke aus früheren Ausstellungen, wie Robert Ireland das in seinem Text benennt. Mitunter werden die Stücke immer kleiner bis sie verschwinden. Ich beginne immer im Atelier und überlege dort bereits, wo ich schneide, wo ich reisse. Aber auch vor Ort erfolgen weitere Überarbeitungen. Während des Ausstellungsaufbaus arbeite ich meist einen ersten Tag lang, bis mitunter sogar zuviel Material platziert ist. Dann nehme ich Teile wieder weg. Ich teste, was möglich ist, und überprüfe die Arbeit mit zeitlichem Abstand.

Kristin Schmidt: Wie gehst Du bei den ortsunabhängigen Arbeiten, bei den «tache» vor?
Katrin Hotz: Bei diesen Werken kommt es sehr auf den richtigen Zeitpunkt und auf die Schnelligkeit an: Ich giesse dickflüssige Farbe auf dünnes Papier. Dieses saugt sich schnell voll, wird feucht, weich und droht zu reissen. Damit das nicht passiert, muss ich im richtigen Moment aufhören. Wenige Minuten vergehen zwischen dem Fliessen der Farbe und dem Anfang des Aushärtens. Aber diese kurze Zeitspanne ist für mich besonders interessant. Darin entscheidet sich vieles: Wie fliessen die Farben ineinander? Wie reagiert das Material? Welche Form bleibt? Wie erreiche ich einen weichen, unbeschädigten Faltenwurf? In einem zweiten Schritt reisse ich das Papier in Form. Dabei behalte ich entweder einen Abstand zwischen Farbe und Papierkante bei oder reisse bis in die Farbe hinein. Die Farbe selbst bildet dann den Rand der Gesamtform. Beim Reissen reagiere ich auf das, was während des Fliessens mit der Farbe passiert ist.

Kristin Schmidt: Zwischen den «tache» und den «enough» bestehen also deutliche Unterschiede nicht nur in der Dimension. Die einen sind abgegrenzt und autonom, die anderen raumbezogen und ausgreifend. In welchem Verhältnis stehen die Werkgruppen zueinander?
Katrin Hotz: Die «tache» wurden ohne Raumbezug entwickelt und sind parallel entstanden. Mit den «enoughs» habe ich begonnen. Der Werktitel entstand am Ende meiner vorherigen Arbeitsphase. Damals zeichnete ich viel und arbeitete teils mit Galerien zusammen. Ich zeigte dort meine Arbeiten, aber die Anforderungen waren für mich zermürbend. Ich sollte darauf achten, hochwertiges Papier zu verwenden, die Rahmung war wichtig, das Glas musste entspiegelt sein und so weiter. Ich hatte viele Ausgaben für Dinge, die mir für meine künstlerische Arbeit nicht wichtig waren. Auf diese Weise wollte ich nicht mehr weiterarbeiten. Ich habe mir gesagt «enough», habe mein Atelier aufgeräumt, habe Zeichnungen ausrangiert, zerrissen und angefangen mit diesen Resten zu collagieren. So sind die neuen Arbeiten entstanden: Ich habe Abfälle weiterverarbeitet, habe Schichtungen gemacht, das Papier geklebt und zusammengefaltet. Ich wollte aus dem Rahmen heraus und aus den Normen. Ich wollte grosszügig arbeiten und mich befreien vom Druck, dass etwas nicht gelingen könnte. Ich wollte das Papier verschwenden, die Farbe verschwenden, masslos sein. Die Farbe habe ich mit der Rolle aufgetragen oder die Dosen direkt aufs Papier ausgeleert. Das Ganze ist aus viel Mut heraus entstanden. «enough» steht für das «Es ist genug! Es ist gut! Es genügt!» – auch wenn ich schlechtes Papier und billige Farbe verwende. Für mich war das ein Befreiungsschlag.

Kristin Schmidt: Robert Ireland verwendet für Deine Arbeiten den Begriff der «Dehnbarkeit». So reicht die Installation im Konstanzer Kunstverein nicht nur fast vom Boden bis unter das Sims, sondern auch fast über die gesamte Wandbreite und über die Ecke, das ist eine starke horizontale Geste.
Katrin Hotz: Die Arbeit ist gedacht wie ein grosser Strich, der um die Ecke geht. Sie wirkt wie eine Tapete für Gregory Sugnaux’ Skulpturen. Sie umrahmt sie und bindet sie in einen zusätzlichen räumlichen Kontext: Man kann meine Arbeit als Tapete oder Kulisse für andere Arbeiten sehen, sie kann im Raum mit anderer Kunst diese zweite Funktion einnehmen. Damit ist sie Hintergrund und bleibt trotzdem eigenständig. Dieses Schwankende, Unklare, Doppeldeutige gefällt mir. In Konstanz habe ich zum ersten Mal in dieser raumgreifenden horizontalen Dimension gearbeitet. Ich habe ein schwebendes Element entwickelt. Es ist ein komponiertes Bild, das aber nicht einfach wie eine klassische Leinwand aufhört. Ich habe dort festgestellt, mit meiner flexiblen Arbeitsweise die Ecke umgehen zu können.

Kristin Schmidt: Sehr deutlich sind Deine Arbeitsspuren zu sehen: Aus der Dekonstruktion, dem Reissen, Schneiden, Knittern, entsteht eine neue Konstruktion. Ist da auch ein Scheitern möglich oder gehört jede Spur zur fertigen Arbeit?
Katrin Hotz: Die Geste des Zerreissens und Zerknüllen beinhaltet das Misslingen. Dass dieses Scheitern gleichzeitig zu der Entwicklung der Arbeit gehört, gefällt mir sehr. Ich zerreisse Papierbahnen und kann dabei nicht zögerlich, sondern muss entschlossen sein: Wenn ich zögere oder zu langsam reisse, zeigt sich dies in unentschiedenen, zaghaften Linien. Da kann schon mal eine Papierbahn kaputt gehen. Beim Schneiden hingegen ist Kontrolle möglich. Auch das Knittern entsteht beabsichtigt. Ich nehme die Bahnen zusammen, zerknülle sie, glätte sie wieder, gebe eine weitere Farbschicht über alles. Dies geschieht in mehreren Phasen, bis ich zufrieden bin mit den Falten, Knittern, Rissen und Verletzungen.

Ueli Vogt: Denkst Du dabei auch an Häute oder an Erdfaltungen?
Katrin Hotz: Ich denke nicht in gegenständlichen oder metaphorischen Kategorien. Die Assoziationen ergeben sich oft aus der Farbe.

Kristin Schmidt: Wie bist Du von den monochromen zu den mehrfarbigen Wandarbeiten gekommen?
Katrin Hotz: Im Lokal-int in Biel habe ich meine erste mehrfarbige Arbeit realisiert. Vorher habe ich monochrom gearbeitet. Der Offspace bietet eine sehr gute Möglichkeit, um Neues auszuprobieren. Ich hatte eine Auswahl an Farben als Ausgangsmaterial und habe zusätzliche hinzugefügt.

Ueli Vogt: Hast Du im Lokal-Int im Sinne einer Versuchsanordnung gearbeitet?
Katrin Hotz: Wenn ich einen Anfang gefunden habe, reagiere ich darauf. Ich agiere wie eine Malerin mit der Farbe. Ich setze eine Farbe, überdenke sie wieder, lösche sie vielleicht wieder aus. Meine Arbeit mit den Farben und den Formen entsteht aus der Improvisation.

Ueli Vogt: Wie viele Farben hast Du im Repertoire?
Katrin Hotz: Ich habe derzeit ungefähr hundert Farben in der Auswahl. Das ist wie ein sich ständig erweiterndes Setzkastensystem. In einen Ausstellungsraum komme ich mit genügend Material und Farben, damit ich grosszügig denken und arbeiten kann. Ich wechsle zwischen Farbharmonien und Kombinationen, die weh tun wie Senfgelb und Beige oder Blau und Violett.

Kristin Schmidt: Im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil hast Du eine Installation neben einer Treppe realisiert. Das ist eine ungewöhnliche Ausstellungssituation. Wieviel Widerstand darf oder soll ein Raum Deiner Kunst bieten?
Katrin Hotz: Dieser Platz im Kunst(Zeug)Haus hat mich gereizt, weil diese Treppe das Parterre und das Obergeschoss verbindet. Ich habe dadurch die Wand verlassen und vom Parterre aus nach oben gearbeitet und alles aus ganz verschiedenen Perspektiven heraus konstruiert. Dank dieser besonderen räumlichen Situation konnte ich horizontal, vertikal und in die Tiefe arbeiten. Die Arbeit konnte auch von oben in der Draufsicht angeschaut werden. Sie war nie vollständig zu sehen. Ich mag die Herausforderung, die neue architektonische Gegebenheiten für mich bedeuten. Eine Auseinandersetzung mit einer räumlichen Situation bedeutet für mich die Chance, zu reagieren und offen zu sein für einen anderen Ausdruck, eine mir noch unbekannte Arbeitsweise.

Kristin Schmidt: Auf der sehr langen Wand im Kunstraum Engländerbau in Vaduz verwendest Du grossflächige Papierbahnen neben deutlich kleineren Papierfetzen. Nach welchen Prinzipien hast du gross und klein kombiniert und das richtige Mass gefunden?
Katrin Hotz: Ich habe im Atelier angefangen, mit alten Arbeiten zu collagieren, um ihren Reliefcharakter herauszuarbeiten. Damit habe ich in Vaduz eine Mischform realisiert: Die grossen Stücke ziehen sich auf der ganzen Wand von vorne bis hinten durch. Teilweise hängen sie über- oder untereinander und unter den Collagen. Zum ersten Mal habe ich in Vaduz auf die Wand gekleistert. Das Papier auf der Wand hat den collagierten Papieren weitere Ebenen hinzugefügt und genau darum ging es mir: Ich habe versucht, mehr Tiefe herauszuholen und weitere Gestaltungsebenen. Die Arbeit als Ganzes hat eine Melodie, einen Ablauf. Ich denke da in musikalischem Sinne nicht an einzelne Töne, sondern sehe das als Arrangement mit mehreren Stimmen. Sie spielen zusammen, gehen aufeinander ein oder lassen einander den Vortritt. Ich rede gerne von Rhythmen und Improvisationen oder davon, einer Farbe ein Solo zu gewähren. Ich versuche Harmonien und Disharmonien zu finden. Mal wird es kleinteiliger, nervöser, dann wieder ruhiger. Allerdings muss es keine feste Leserichtung geben. Ich vergleiche das gerne mit Adolf Wölfli. Seine radikalen, aber auch verführerischen Arbeiten faszinieren mich sehr. Bei seinen kompakten Bildentwürfen stellt sich auch mitunter das Gefühl der Überforderung ein. Auch bei meiner Arbeit in Vaduz konnte dies passieren.

Kristin Schmidt: Deine Arbeit im Zeughaus Teufen erinnert mich an die zwei Qualitäten eines Vorhanges: Sie ist selbst Objekt, nimmt aber auch eine starke räumliche Funktion des Trennens, Teilens und Verbergens ein. Ist das für Dich ein legitimer Vergleich?
Katrin Hotz: Die aufrechtstehenden Balken gliedern das erste Obergeschoss des Zeughaus Teufen sehr stark. Zunächst hatte ich zwei der Öffnungen mit herabhängenden Bahnen verschlossen. Das habe ich aber wieder verworfen, weil es auf die gesamte Raumlänge hin einen Schlauch ergeben hätte. Ich habe dann mit schräg und horizontal platzierten Bahnen gearbeitet und die Segmente zwischen den Balken nur teilweise mit Papierbahnen verschlossen. Damit habe ich bewusst versucht, den Eindruck von Stoff oder Tüchern zu vermeiden, gerade weil auch einige Bahnen an der Decke befestigt sind. Die horizontalen und schrägen Bahnen durften auf keinen Fall durchhängen. Doch ich bin ans Limit des Materials gekommen. Es hat nicht genug Spannkraft, aber eine aufwendige Konstruktion zur Stabilisierung gehört nicht in mein künstlerisches Konzept. Also habe ich für einige Bahnen dickeres Papier verwendet und haben die Bahnen sich gegenseitig stützen lassen. Ich habe also mit der Installation den Eindruck hängender Tücher bewusst vermieden, dennoch ist der Vergleich mit Vorhängen richtig: Die Papiere trennen und teilen den Raum, sie verbergen Raumteile und lenken den Blick auf Raumöffnungen, aber mit ganz anderen materiellen Voraussetzungen als textiler Stoff sie bietet.

Ueli Vogt: Ich verstehe Deine Installation im Zeughaus Teufen als ein begehbares Bild.
Katrin Hotz: Wie im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil konnte man das Werk in Teufen nie als Ganzes erfassen. In Rapperswil arbeitete ich dreidimensional, hier im Zeughaus Teufen dreidimensional und zusätzlich mit vorne, hinten, aussen innen: Beim Wechsel von einem Gang in den anderen waren die Rück- oder Vorderseiten der Bahnen zu sehen. Zugleich zeigten sich immer nur Ausschnitte. Je nachdem durch welche der vielen Öffnungen auf die Installation geblickt wurde, veränderte sich die Ansicht. Immer wieder konnten überraschende und schöne Kompositionen ausgewählt oder Ordnungen und Logik gesucht werden, aber nie war ein Überblick möglich. Es waren gewissermassen viele Bilder statt nur ein einziges.

Ueli Vogt: Diese Arbeit ist ein Meisterwerk an Präzision und Gelassenheit. Geschnittene, gerissene Elemente sind austariert in allen Ebenen.
Katrin Hotz: Das hat viel mit Deinem Haus zu tun; und damit wie Du arbeitest. Du hast mich immer wieder zum Weiterarbeiten ermutigt. Dieser Austausch war sehr bereichernd. Die Farben sind im Inneren der Arbeit, ihr Aussenraum ist weiss. Aber mit den um die Pfosten gewickelten Bahnen kommt der Farbton auch auf der Rückseite an. Auch für das Weiss in dieser Mehrschichtigkeit ist immer eine Entscheidung notwendig. Ich bin ursprünglich Typografin, dieser Blick prägt mich bis heute. Eine Typografin arbeitet mit Weissraum, Negativraum, kontrolliert die Abstände, prüft, ob der Rhythmus aber auch die Logik im gesetzten Text stimmt und ob der Satzspiegel die Spannung hält. Genau so versuche ich meine Bilder zu setzen.

Kristin Schmidt: Im Zeughaus Teufen hast Du zum ersten Mal mit textilen Stoffen gearbeitet. Wirst Du diese Arbeit weiterverfolgen?
Katrin Hotz: Die Stoffe hängen zusammen mit meinem Wunsch, in den Aussenraum zu gehen und trotzdem vom Material her leicht, flexibel und wiederverwertbar zu bleiben. Ich bin schon länger auf der Suche, wie sich meine Arbeit in den Aussenraum übertragen lässt. Angeregt haben mich die Graffitis und gereizt die Industriebrachen. Deren vorhandene Wände würde ich gerne nutzen, auch um nicht unbedingt angewiesen zu sein auf eine Institution. Dort dürften meine Arbeiten dann auch abblättern und vergehen. Diese Vergänglichkeit aufzuzeigen, reizt mich. Aber vielleicht könnten die Stoffe eine unabhängigere Alternative sein. Der zweite Teil der Ausstellung in Teufen «vent favorable» ging dann vom Innenraum an die Wand: auf einer Wand im Innenraum arbeitete ich mit Papier, auf der anderen Seite, der Aussenwand mit Stoff. Die Stoffe wurden geformt mit Hilfe von Schnüren und Bändern, teils von einem Stockwerk zum anderen.

Kristin Schmidt: Einen anderen neuen Aspekt weist Deine Installation anlässlich des «Heimspiel 2021» in der Kunst Halle Sankt Gallen auf. Dort hast Du gewickelte Elemente frei in den Raum gehängt. Wie wird es damit weitergehen?
Katrin Hotz: Mit den «enough» habe ich hier einen neuen Weg eingeschlagen. Mit Stoffbahnen habe ich das Papier geformt, aber auch umgekehrt. Es ging mir darum, meine Arbeit von den Wänden zu befreien. Dieser Idee folgen auch die teilweise ausgerollten Bahnen am Boden, die zugleich Farbbahn und dreidimensionales Objekt sind. Ich kann mir vorstellen, bei einer nächsten Ausstellung stärker skulptural zu arbeiten, zugleich zieht es mich immer wieder zurück zum Bild, zur Zweidimensionalität.

Ueli Vogt: Du hast in der Kunst Halle Sankt Gallen auch auf eine neue Art aufgeklappte Rückseiten gezeigt.
Katrin Hotz: Ja, und das lässt sich auf die Ausstellung in Teufen zurückführen, wo die Rückseiten auch zum Bild wurden. So habe ich angefangen in der Kunsthalle die Papiere bewusst zu falten, um auf diese Weise mit der Rückseite, dem Papierweiss ein zusätzliches Gestaltungselement und eine weitere Ebene zu bekommen.

Kristin Schmidt: Konrad Tobler vergleicht in seinem Text Deine Wandarbeiten mit Tapisserien. Diese Papierbahn mit den dicht gesetzten runden Formen, die sogar links und rechts angeschnitten sind, hat sogar noch eine grössere Nähe zur Tapisserie.
Katrin Hotz: Dies ist ein Bild aus der letzten Serie vor dem grossen Schritt zu den installativen Wandarbeiten. Dort haben sich später benutzte Elemente bereits eingeschlichen. So reicht die Papierbahn nicht nur auf den Boden, sondern von der Wand weg noch ein Stück weiter in den Raum und somit in die Dreidimensionalität. Die fliessenden Linien der auf dem Papier herabrinnenden Farbe stehen zwischen meinen Zeichnungen und den «enough». Auf letztere verweist auch bereits das grössere Format.

Kristin Schmidt: Bei der Installation im KASKO in Basel fallen die dünnen Stäbe auf, die als dreidimensionale Linien wirken. Waren sie für Dich ein zeichnerisches Element?
Katrin Hotz: Diese Arbeit war die zweite nach meiner Aufräumaktion, die ich ausgestellt habe. Dort habe ich Eisenstäbe integriert. Sie haben einerseits die Blätter gehalten und ihnen Form gegeben, andererseits waren sie ein gestaltendes Element. Sie stehen in deutlichem formalen Kontrast zu den Papieren. Vorher gab es Holzlatten, die ich als Struktur eingesetzt habe. Auch sie können auf einfache Art Form geben und festigen. Später sind diese Stäbe und Latten weggefallen, weil ich die Arbeit weiter vereinfachen wollte. Ich habe mich entschieden, mich ganz aufs Papier zu konzentrieren. Ich suche ganz bewusst nach einer sehr ephemeren, leichten Arbeitsweise. Dazu gehören auch die genutzten Materialien. Ich möchte einfach und grosszügig Arbeiten können, und am Schluss meine Papiere wieder zusammenrollen. Ich verwende das Material wieder, bis es verbraucht ist.

Kristin Schmidt: Anlässlich Deiner Wandinstallation für das «Heimspiel 2018» im Kunstmuseum St.Gallen sind zunächst alle Bahnen nebeneinander auf dem Boden zu sehen. Wie hast Du den Kontrast von dieser horizontalen Auslegeordnung zur fertigen Wandarbeit erlebt?
Katrin Hotz: Der ganze Boden des Oberlichtsaals war gefüllt mit den Papierbahnen. Dann habe ich die Menge auf eine Fläche an der Wand verdichtet. So arbeitete ich nicht nur hier im Kunstmuseum: Ich rolle die Bahnen im Atelier auf und breite sie im Ausstellungsraum wieder aus. Besonders wenn die Bahnen farbig sind, ergeben sich horizontal liegende Kompositionen, die nur auf diese Weise entstehen können. Eigentlich könnten diese Arbeiten dann bereits als Bodenarbeit eine Gültigkeit entfalten. Aber ich habe das bisher nicht als ausschliessliches Vorgehen probiert, noch nicht.

Kristin Schmidt: Du hast einmal erwähnt, dass Du bei der Installation eines Werkes Kontrolle abgibst und Zufälle zulässt. Wieviel Arbeit auf Probe ist dabei möglich oder nötig? Und wie läuft dieser Prozess ab?
Katrin Hotz: Die Kontrolle sind alle bereits zuvor realisierten Arbeiten. Dieses Eingehen auf verschiedene Ausstellungssituationen gibt mir eine gewisse Erfahrung. Trotzdem muss ich an jedem neuen Ort ausprobieren – an die Grenzen des Möglichen in dieser Raumsituation gehen. Das bedeutet auch aushalten. Wenn eine Anordnung nicht gut ist, muss ich ausharren, bis ich weiss, was zu ändern ist. Die Papiere sind empfindlich und darum muss ich aufpassen, sie so wenig wie möglich zu manipulieren. Der Zufall kommt auch ins Spiel, wenn sich etwa eine Bahn löst und zerreisst. Daraus können sich schöne Situationen ergeben, welche ich nicht bewusst arrangiert hätte.

Ueli Vogt: Demnach ist der Ausstellungsaufbau ein Risiko, aber ein kontrollierbares Risiko?
Katrin Hotz: Ich weiss beispielsweise, dass es Weissraum braucht, dass die Elemente miteinander kommunizieren, dass sie sich zu einem grossen Ganzen fügen müssen. Bei der Arbeit im Atelier bin ich immer räumlich am Limit. Da kann ich zwar Ideen entwickeln und teilweise ausprobieren, aber danach muss ich vor Ort entscheiden und reagieren. Da ich am Ausstellungsort selbst arbeite, bin ich zeitlich limitiert, so entstehen meine Installationen unter einem gewissen Druck. Es gibt 100 mögliche Varianten. Dadurch kann es auch sein, wenn ich auf die Ausstellung zurückblicke, dass ich in der Rückschau andere Entscheidungen treffen würde.

Ueli Vogt: Wie bist Du hier bei Deiner Farbentscheidung vorgegangen?
Katrin Hotz: In Muttenz habe ich «aus der Reserve» gearbeitet. Ich hatte eigentlich Neonorange vorgesehen, dies gab es jedoch nicht als Lackfarbe. Nur die letztere hat die Elastizität, welche ich für meine Papierbahnen brauche. Also habe ich auf das bestehende helle Gelb zurückgegriffen, dies auch budgetbedingt.

Kristin Schmidt: In der Aufnahme Deines Aufbaus in der Kunst Halle Sankt Gallen sind die gewickelten im Raum hängenden Elemente noch nicht zu sehen. Wann und wie kamen sie ins Spiel?
Katrin Hotz: Zunächst habe ich meine Arbeit für eine Wand konzipiert. Aber dann wurde mir die ganze Raumecke zugewiesen. Das bedingte eine deutlichere Dreidimensionalität. Zusätzlich zur Arbeit über die Ecke hinweg habe ich die beiden Wände mit den frei in den Raum gehängten Elementen verbunden. Sie sind eigenständig von den Deckenträgern herab platziert, verbinden sich jedoch durch Farbe und Materialität von jedem Blickwinkel aus mit den Papierbahnen an den Wänden dahinter und stehen zugleich in einem Dialog mit der auf dem Boden teilweise ausgerollten Papierbahn. Letztere und die hängenden Elemente folgen einem stärker skulpturalen Weg.

Katrin Hotz, enough, Vexer Verlag, St. Gallen und Berlin 2023, S. 67–114