Rachel Lumsden — You got nothing to loose
by Kristin Schmidt
Die Malerei ist eine Wildsau. Ungestüm rast sie voran, und Rachel Lumsden rast mit. Nur so entsteht ein gutes Bild. Die Künstlerin schildert in Worten, wie sie sich mitreissen lässt von der Wildsau – aber auch, was deren Lauf bremsen kann. Sie hat zeitgleich zu ihrer Schau im Kunstmuseum Thurgau einen Text veröffentlicht, der als Manifest deklariert ist und ins Zentrum der künstlerischen Arbeit führt. Ausstellung und Buch ergänzen sich aufs Beste. Beide künden von Rachel Lumsdens Feuer für die Malerei und für die Farbe, vom «blazing hot moment», nach dem die Ausstellung benannt ist.
Grün kann modrig sein oder frisch. Es kann staubig sein oder glänzen. Es kann glitzern oder samten sein. Es ist – wie jede andere Farbe – mehr als ein Farbton. Rachel Lumsden schildert die reichen Qualitäten von Grün aus Sicht der Malerin. Diese in jahrzehntelanger künstlerischer Arbeit geschärfte Perspektive hat sie jetzt unter dem Titel ‹Ritt auf der Wildsau› in ihr ‹Manifest für die Malerei› gepackt. Im Prolog zu dieser handlichen Publikation lässt sie die intensiven Farberlebnisse aus ihrer Kindheit auferstehen. Beispielsweise die Expeditionen zu einer Ziegelmauer mit ständig tropfenden Rohren: «Das nassglänzende Moos dort gab uns eine erste Idee der Farbe, die auf der Rückseite der Mauer des mittlerweile stillgelegten viktorianischen Wasserreservoirs wartete: ein dickes, schleimiges Grün, das weisse Kniesocken spektakulär einfärbte, wenn wir darin wateten.»
Analyse des Kunstbetriebs
Farbe ist mehr als ein optischer Eindruck. Sie schmatzt, stinkt und wabert – Eigenschaften, die Lumsden in lebendiger, bildhafter Sprache niedergeschrieben hat. Damit entfaltet ‹Ritt auf der Wildsau› bereits auf den ersten Seiten einen Sog, der tief hineinzieht in das Buch. Klassifiziert ist es als ‹Manifest für die Malerei›. Aber es ist mehr als eine Absichtserklärung oder ein öffentlicher Aufruf. Es ist eine prägnante Analyse des Kunstbetriebs, seiner Fallstricke, seiner Typen und Mechanismen, die weit über Lumsdens individuelle Situation hinaus gültig ist. Pointiert beschreibt die gebürtige Engländerin, wie Malerei aus ihrer Sicht gegenüber anderen Kunstformen noch immer ins Hintertreffen gerate und welch schweren Stand insbesondere die figurative Malerei in der Schweiz noch immer habe. Sie erstellt ein Bestiarium der Personen an Schlüsselstellen im Kunstmarkt und im Ausstellungswesen, das mitunter so nah am unmittelbar Erlebten ist, dass Namen nicht genannt werden müssen, um zu erahnen, wer gemeint ist.
Zugleich ist das Buch ein feministischer Text. Es zeigt aus Sicht der Frau die ungleich grösseren Herausforderungen im Kunstbetrieb für Künstlerinnen. Und nicht zuletzt ist es ein persönlicher Essay mit literarischen Qualitäten. Geschrieben hat ihn Rachel Lumsden während der Corona-Pandemie, in einer Zeit also, in der sich mitnichten ein wunderbarer, entschleunigter Arbeitsraum auftat, der nur darauf wartete mit neuen Kunstwerken gefüllt zu werden. Stattdessen war es für viele Künstlerinnen und Künstler eine Zeit der fehlenden Resonanz, einer «seltsam leeren Denkblase», wie es Rachel Lumsden nennt.
Hitze, Trockenheit, Stille – Malerei kann alles zeigen
Der Text ist sprachlich und inhaltlich ein Wurf und wurde von der Grafikerin Katrina Wiedner in eine sehr schöne Form gegossen. Die Publikation mit silbergrauem Textilumschlag, einem Buchschnitt in Metallisch-Pink und leuchtend abgestuftem Vorsatzpapier erscheint pünktlich zu Rachel Lumsdens Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau. Wenngleich es kein Ausstellungskatalog ist, liefert das Buch doch eine passende Lektüre zur Betrachtung der gezeigten Arbeiten.
In ‹Dragonfly›, 2020, beispielsweise manifestiert sich, was Lumsden über das sinnliche Potenzial der Farbe schreibt. Das Gemälde zeigt ein Stück flaches Land mit zwei Wassertürmen auf hohen Stützen, die den nahen Horizont durchbrechen. Im Vordergrund markiert Gestrüpp die Grenze zwischen Szenerie und Betrachtungsposition. Zwei Personen – eine zu Fuss, eine auf dem Velo – ziehen ihrer Wege. Das Motiv ist unspektakulär, umso eindrücklicher ist die evozierte Stimmung. Gelb, Grün, Petrol, sehr helles, fast graues Violett und Braun verbinden sich zu einem eingefrorenen Irisieren. Lasuren zeugen von feuchtem Farbauftrag, zugleich wirkt das Pigment staubig. Virtuos entwirft Rachel Lumsden die Stimmung eines Tages, an dem es viel zu früh schon sehr heiss ist und spät am Abend kaum abkühlt. Sie porträtiert die Trockenheit, die Wärme, die Stille, das Licht – die ganze Vielfalt an Eindrücken. Das kann nur die Malerei; wenn man sie lässt. Oder wie es die Künstlerin im Gespräch ausdrückt: «Ich kann mit Ölfarben Atmosphäre kreieren, ohne zu beschreiben, aber ich muss der Farbe Freiraum geben. Wird das Mittel Farbe zu sehr kontrolliert, stirbt es. Man muss bereit sein, etwas anderes zuzulassen.»
Zeitgeschehen und Alltag
Aus dem Spiel zwischen gesteuerter und «zugelassener» Farbe ergibt sich der reiche Klang der Gemälde Lumsdens. Die Motivik ist dabei mehr als Mittel zum Zweck: «Das Oszillieren zwischen Motiv und Malerei ist mir sehr wichtig.»
Die Künstlerin greift hochaktuelle Sujets auf wie auch kleine beiläufige Beobachtungen, die sie malerisch transformiert. So fanden sowohl der verheerende Brand des Sozialwohnungsobjekts Grenfell Tower in London 2017 oder das gestrandete Containerschiff im Suezkanal 2021 Eingang in ihr Œuvre als auch das zeitlose Bild einer Drossel in einem Vogelbeerbaum: «Ich wähle den visuellen Inhalt meiner Bilder weniger aus strategischen Gründen, sondern weil er in mir Resonanz erzeugt. Weshalb etwas in mir widerhallt, ist eine weitere Frage, deren Antwort wohl in frühen oder früheren visuellen Erfahrungen begründet liegt.»
Lumsden recherchiert Themenfelder und legt Bildersammlungen an – aus Medienbildern und teils auch eigenen Fotografien. Einer solchen entstammt auch das Drosselbild: «Ich malte es als Kleinformat, weder illustrativ noch realistisch, sondern ‹painterly›, als Gesamterfahrung aus Kobaltblau, aufgetragener Farbe, Federn, Baum und Kadmiumbeere.» Im Kunstmuseum Thurgau ist eine grosse Version dieses im Manifest erwähnten Sujets zu sehen. Die Übersetzung ist mehr als eine Probe, ob das, was in Klein gut ist, sich im Grossformat bewährt. Sie zeugt auch von der Rebellion der Malerin: denn Rachel Lumsden sieht sich immer wieder mit der Annahme konfrontiert, Malerei dürfe nicht schön sein oder gutes Handwerk sei manieriert. Hier setzt das grosse Bild ein Zeichen: «Wenn etwas verboten wird, muss man es tun! Am besten in Gross.»
Die Schönheit der Malerei
Nun leuchten also das Kobaltblau und die kadmiumroten Beeren von dem knapp zwei Meter hohen und sieben Meter breiten Triptychon ‹Thicket›, 2020. Leider hängt es im Kunstmuseum Thurgau auf der Empore mit geringer Raumtiefe, sodass es nur aus der Nähe betrachtet werden kann. Überhaupt sind die Räume nicht einfach zu bespielen. Das Tonnengewölbe, die Bodenplatten, die eingebauten Wände, der Verputz und die Dachsparren sorgen für eine heterogene Ausgangslage. Umso mehr Gespür brauchte es von der Künstlerin, um ihre Arbeiten zu installieren: «Pausen sind notwendig und Verbindungen. Auch die Simultaneität ist mir wichtig. Ich habe verschiedene Gemäldekonstellationen ausprobiert.» Zentral platziert ist ‹Ground swell›, 2022: Das Signalorange einer Bohrinsel unter cyanblauem Himmel leuchtet in den langgestreckten Raum. An der gegenüberliegenden Stirnseite antwortet ‹Other side of the rain›, 2021, mit dem von Rost überzogenen Blau eines Schiffsrumpfes in schmutziggelber Gischt. Von der Seite grüsst ‹Root and branch›, 2023, mit einer idyllischen Sommerszene unter grünen Blättern. Alle Gemälde fügen sich zu einer Erzählung über die Kraft der Farbe und die Schönheit der Malerei.
Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstlerin in der Ausstellung am 13.8.2023 und ihrem Manifest ‹Ritt auf der Wildsau›.
Rachel Lumsden (*1968, Newcastle-upon-Tyne) lebt in Schaan und arbeitet in Arbon
1987–1991 BA Honours in Fine Art, Nottingham Trent University
1995–1998 MA in Painting, Academy Schools, London
2007–2019 Dozentin für Malerei an der Hochschule Luzern – Design & Kunst
Einzelausstellungen (Auswahl)
2023 ‹Landslide›, Centre d’art, Museum Villa Bernasconi, Lancy
2022 ‹Mr. Wolf›, Galerie Bernard Jordan, Paris; ‹Absence of fondness›, Coleman Projects, London
2019 ‹Underwater Cocktail Party›, Haus der Kunst, Solothurn; ‹Continental Drift›, Architektur Forum Ostschweiz, St. Gallen
2018 ‹Return of the Huntress›, Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona
2017 ‹Rachel Lumsden›, Kunsthaus Pasquart, Biel
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2022 ‹Vertrauen›, Helmhaus Zürich; ‹(Un) Certain Ground›, Kunsthaus Pasquart, Biel
2020 ‹Pinsel, Pixel und Pailletten – Neue Malerei›, Kunstmuseum Thurgau
2019 ‹Stadt, Berg, Fluss›, Kunstmuseum Singen
2017 ‹London meets Altdorf›, Haus für Kunst Uri