Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Karin Bucher und Thomas Karrer, Ohne Titel, 2018– 2023

Wie lebt man in einer Stadt, die keine Geschichte hat? Wie lebt man in einer Stadt, die zur Geschichte geworden ist? In Chandigarh sind beide Erfahrungen nahezu gleichzeitig möglich. Die Stadt wurde von Le Corbusier in den 1950er Jahren entworfen und unter seiner Leitung realisiert. Sie ist die gebaute Synthese von Idealismus und Optimismus. Karin Bucher und Thomas Karrer aus Trogen haben für ihren Dokumentarfilm «Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh» sechs Monate in der Stadt gelebt. Die Regisseurin und Szenografin Bucher und der Regisseur und Produzent Karrer haben unzählige Filmstunden aufgenommen und hunderte Fotos gemacht. Sie zeigen Leben und Stillstand in der musealisierten Planstadt: Der menschenleere Kapitol-Komplex ist der Kopf Chandigarhs. Sicherheitsbedenken und die strikte Umsetzung der UNESCO-Welterbe-Konvention lassen hier kaum Alltagsleben oder Veränderungen zu.
Die Wohnbezirke sind als Gartenstadt gestaltet. Der Mensch ist hier das Mass der Dinge, auch bei Weglängen und Strassenführung. Überall sind Bäume selbstverständlicher Teil der Umgebung. Zugleich treffen hier die in Europa herausgebildeten Konzepte Le Corbusiers auf traditionelle indische Lebensweisen. Der Film lenkt das Augenmerk auf diese Kontraste und auf die Schwierigkeiten einer Welterbe-Stadt: Im Stadtzentrum beispielsweise sind Fussgängerzonen und Einkaufspassagen angelegt. Doch die Menschen bevorzugen inzwischen die Shoppingmalls an der Peripherie. Die Stadt, in der jeder Kandelaber und jede Farbgestaltung vorgegeben ist und in der starke bewahrende Kräfte wirken, braucht neues Leben. Sie kann nur entwickelt werden, wenn sich Menschen den Stadtraum wieder aneignen können.

Bildbogen, Obacht, KULTURERBE, No. 47 | 2023/3

Monica Ursina Jäger

Wil — Wälder wandern. Langsam bewegen sie sich durch unermessliche Zeiträume, stetig und kraftvoll. Monica Ursina Jäger erforscht die Dynamik des Waldes, sein Leben und seine Resilienz. Die Zürich und London lebende Künstlerin ist seit 2016 Mitglied des Instituts für Umwelt und Natürliche Ressourcen der ZHAW. In ihrem Werk verzahnen sich wissenschaftliche und künstlerische Recherche auf stimmige und zugängliche Weise. In der Kunsthalle Wil zeigt sie im Erdgeschoss die Zwei-Kanal-Videoinstallation ‹Transient Traveller›, 2023. Nahaufnahmen von Moos, Rinde, Farn und Holzkohle stehen neben filmischen Bildern eines gefallenen Baumriesen. Überall rieselt, rinnt und tropft es – dieser Wald ist vital und ursprünglich. Gefilmt hat Jäger in einem der drei Urwälder der Schweiz, dem Bödmeren Wald im Muotatal. Und sie blendet die entscheidende Frage nicht aus, ob dieser Wald wirklich ein sogenannter Urwald ist: Im Obergeschoss thematisiert sie einen Streit aus den 1990er Jahren, als die Wissenschaft der Annahme widersprach, dieser Wald sei vom Menschen unbeeinflusst. Der entsprechende Aufsatz durfte nie erscheinen, um Tourismuslabels nicht zu gefährden. Die Kunst jedoch ist frei: Jäger präsentiert eine Kopie des damaligen Aufsatzes und lädt ein, darüber nachzudenken, wer Wissen gewinnt und wie es gewichtet wird.

Clemens von Wedemeyer – zwischen Fiktion und Realität

Ob Dokumentar- oder Spielfilm – das Kino öffnet Fenster in andere Wirklichkeiten, die es nur zweidimensional abbildet. Clemens von Wedemeyer führt die gefilmten Welt in den Raum zurück und verbindet Fiktion und Realität. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt Werke des Künstlers aus der eigenen Sammlung erweitert um zusätzliche Leihgaben.

Vaduz — Der Knochen fliegt. Er fällt nie herunter. Stattdessen ein Match Cut: Ein Raumschiff umkreist die Erde. Diese Szene aus Stanley Kubricks «2001: Odyssee im Weltraum» ist legendär. Die Wandlung des als Mordwerkzeug benutzten Knochens in einen Flugkörper, der Sprung durch Raum und Zeit wurde vielfach zitiert und bietet noch immer Stoff für philosophische und künstlerische Exkurse. Clemens von Wedemeyer interessiert sich besonders für die Verschränkung des realen und fiktiven Raumes im Film und für die filmische Reduktion des dreidimensionalen Raumes zugunsten eines neuen Erzählraumes. In seiner Arbeit ‹A Recovered Bone (2001: A Space Odyssey)›, 2015 geht er der Frage nach, wie das Verschwinden des Knochens neu interpretiert werden kann: Aus der Filmsequenz retuschiert er der Knochen weg – nur der parabelförmige Schwenk in den Himmel ist noch zu sehen. Das Video ist als Loop angelegt, so fährt der Blick wieder und wieder in den Himmel hinauf. Vor der Projektionswand liegt auf einem Sockel ein unförmiges Gebilde: Der Knochen ist doch gelandet. Seine Form wurde auf der Basis der Kubrickschen Filmbilder errechnet und in 3D ausgedruckt. Doch das Objekt gleicht nur vage einem Knochen. Von Wedemeyer findet damit ein treffendes Bild für die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit. Seit langem bewegt sich der 1974 in Göttingen geborene Künstler sich zwischen Kunst und Kino. Er entwickelt non-lineare Erzählungen, in denen sich Dokumentar- und Spielfilm verschränken. Beispielhaft dafür ist ‹Otjesd›, 2005: Einerseits werden Szenen mit russischsprachigen Ausreisewilligen vor der deutschen Botschaft in Moskau gezeigt, die jedoch in Berlin nachgestellt wurden. Andererseits ist das «Making of» dieses Filmes zu sehen, in das tatsächlich Aufnahmen aus Moskau integriert sind. Der Künstler geht von einem selbst beobachteten Ereignis aus, stellt dieses filmisch nach und thematisiert diesen Prozess in einer weiteren Erzählebene. Von Wedemeyer ermöglicht es, zwischen den Projektionen hin- und herzuwechseln und öffnet damit den Kinoraum. Die Leinwand ist nicht länger das zweidimensionale Fenster in eine filmische Realität, sondern ein räumliches Element. Eingebettet ist diese Doppelprojektion im Kunstmuseum Liechtenstein in eine Präsentation drei weiterer zwei- und dreidimensionaler Arbeiten des Künstlers. In ihrer Dichte und Konzentration webt die Ausstellung ein Netz zwischen den Werken und inhaltlichen Bezügen.

Dreher, Krieg, Winteler

Schaffhausen — Es knirscht. Knackt. Splittert. Plastik bricht unter den Schuhen. Der Boden ist voller bunter Teile. Wasserpistolen, Sammelfiguren, Bügelperlen, Bonbonspender, Überraschungseier und deren Inhalt, ein Vampirgebiss und Dekoblumen – Dinge ohne oder von geringstem Nutzwert. Hergestellt aus Kunststoff, oft für kurzfristiges Amüsement, schnell verbraucht und ebenso schnell vergessen. Isabelle Krieg hat diesen Plastiktinnef aufgehoben und im Vebikus ausgestreut. So dicht, dass kein Entkommen möglich ist – der kunterbunte Unfug ist überall. Und doch ist er nur ein Teil der Installation ‹Gimmick›, 2023. Ihr grösseres Element sind Schwemmhölzer aus dem Bodensee und aus Flüssen der Umgebung. Auch sie stehen für das Übriggebliebene, Ausgesonderte. Widerspenstig sind sie im Raum verkeilt als Gegenbild zum industriell gefertigten Unfug. Dieser inszenierte Kontrast mag etwas didaktisch anmuten, dennoch hat er seine Berechtigung, solange Wegwerfartikel aus Erdöl sorgenlos konsumiert werden.
Ob Erdöl in Autoreifen sinnvoller eingesetzt ist, darüber gehen die Meinungen auseinander und dieses heisse Eisen fasst auch Andrin Winteler nicht an. Ihn faszinierten Reifen als rotierende Objekte. In seiner Ausstellung ‹Pneu Pneus Pneuma›, 2023 hält er ihr Drehen an und verkehrt es ins Gegenteil: Ein Monitor, ein Scheinwerfer und mit diesem die Schatten kreisen um Autoreifen. Die Reifen selbst stehen still, sie sind ins ruhende Zentrum versetzt. Oder sie werden dank Bildbearbeitungsprogrammen einer Torsion unterworfen – in Endlosschlaufe, aber ohne langen Nachhall: Wintelers Werke sind primär optische und technische Spielereien. Sie werden im Obergeschoss des Vebikus gezeigt, genauso wie die dritte der drei parallelen Ausstellungen: Angelika Shaba Dreher fügt für ‹Euphoria› vier Werke und Werkgruppen stimmig zusammen. Verbindendes Element ist ein Hauch von Glamour. Die Künstlerin präsentiert einen raumgreifenden Fliegenvorhang, Webarbeiten und Objekte mit schimmernden Perlen. In den Vorhang und die gewobenen Bänder sind Wörter und Sätze eingearbeitet. Sie beziehen sich auf die aktuelle gesellschaftliche Diskussionen zur Aufklärung und Konstrukten des Zusammenlebens. Dreher wirft nicht mit Parolen um sich, sondern verweist mit neuen Wortschöpfungen auf die Schwierigkeit, das gegenwärtige Zeitalter und seine Herausforderungen begrifflich zu fassen: Wäre die Welt eine andere, könnten wir uns als ‹verfreigleichwahlwandt› begreifen?

Marion Strunk

Schaffhausen — Ein Faden ist eine Linie. Verarbeitet wird er zur Fläche, zur Form. Er kann Stoff, Schrift oder Ornament werden, Stickerei oder Kleidung. Marion Strunk arbeitet mit Nadel und Faden. Sie bestickt Fotografien oder umwickelt Objekte mit Wollfäden – beispielsweise einen inaktiven Lastzug in der ehemaligen Kammgarnstickerei Schaffhausen. Hier betreibt der Zürcher Kunstverein FAT (Femme Artist Table) seit Sommer diesen Jahres den FATpermanent Art Space. Diese Nutzung ist programmatisch, befanden sich doch hier bis 2014 die Hallen für Neue Kunst: Die damals gezeigten Werke stammten überwiegend von Männern. Noch immer schimmern an manchen Stellen Sol Le Witts Wandzeichnungen durch die weisse Farbe. Marion Strunk platziert darauf ihre bestickten Fotografien. Mal akzentuiert sie mit den Fäden Vorhandenes wie Leuchtreklame, Vegetation oder Schneeflocken, mal integriert sie neue Elemente ins Bild. Nachdem durch das Fotografieren die ablichtete Welt auf eine flächige Ansicht reduziert wurde, gibt Strunk den Sujets mit ihren Fadeninterventionen wieder ein räumliches Moment zurück. Zugleich stehen die wollig ausfasernden Fäden im Kontrast zur glatten Oberfläche der Fotografie. Dieser Gegensatz führt besonders bei abfotografierten textilen Oberflächen zu Wechselwirkungen zwischen Strunks Stickerei und dem Motiv.

Drastisches und Kosmisches in Appenzell

Das Kunstmuseum und die Kunsthalle Appenzell zeigen in zwei Einzelausstellungen das Werk von Zora Berweger und von Liz Craft. Während die Schweizer Künstlerin den Blick auf das spirituell Kosmische richtet, bleibt die Kalifornierin nah am Irdischen.

Zwei Frauen, beide sind Künstlerinnen, beide leben sie nicht mehr in ihrem Geburtsland, sondern inzwischen in Deutschland, beide stellen nun in Appenzell aus. Zwischen Zora Berweger und Liz Craft gibt es biografische Gemeinsamkeiten und künstlerische Parallelen. Zugleich sind beide Positionen sehr eigenständig und erhalten nun zu recht jede eine eigene Einzelausstellung. In der Kunsthalle Appenzell sind die Arbeiten von Zora Berweger zu sehen. Die Künstlerin wurde 1981 in Bern geboren, hat ausserrhodische Wurzeln und lebt seit 2006 in Leipzig. In der Schweiz hat sie regelmässig ausgestellt, beispielsweise 2014 im Nextex in St.Gallen.«Greeting the Unseen» ist ihre erste institutionelle Einzelausstellung. Berweger vergleicht sie mit einem Gewächs: Im Erdgeschoss der Kunsthalle siedelt sie den Wurzelraum an. Hier formuliert sie den inhaltlichen und formalen Ausgangspunkt.

Linien aus Neonschrift

Was in der Natur organisches Geflecht ist, drückt sich als raumfüllende Installation aus Neonzeichen aus. Die Künstlerin hat ihr eigenes minimalistisches System aus vertikalen und horizontalen Linien entwickelt. Es leuchtet aus dem Panoramafenster hinaus ins Dorf, spiegelt sich in der grossen Scheibe und bildet spontane Entsprechungen zu den Gipfeln und Graten des Alpsteins. Damit stehen die Zeichen für den Anspruch der Künstlerin, den Blick auf die ganze Welt zu richten – bis ins Kosmische hinaus. Dies zeigt sich auch in den Reliefs im ersten Obergeschoss. Sie tragen die Sonne im Zentrum. Ringförmig breiten sich Wellen und Strahlen aus, auch sie sind durchsetzt mit Zeichen. Dieses Stockwerk symbolisiert im Bild des Baumes den Stamm und damit jenen Ort, wo die Kräfte zusammenfliessen. Darüber folgt die Krone: In der dritten Etage platziert Zora Berweger Objekte, die Samen, Kapseln und Schoten gleichen: Sie können als Hinweis auf die Lebenskreisläufe gelesen werden.

Relief als Schnittstelle

Reliefs sind ein wiederkehrendes Element im Werk der Künstlerin. Sie verbinden das frühere malerische mit dem heutigen dreidimensionalen Werk. Sie sind die Schnittstelle zwischen Fläche und Raum. Genau das macht sie auch für Liz Craft interessant. Beide Künstlerinnen interpretieren das Thema Relief jedoch sehr unterschiedlich. Zora Berwegers Reliefs sind aus Salzteig – einem einfachen und leicht zu bearbeitenden Material. Liz Craft hingegen arbeitet mit Keramik. Die 1970 in Los Angeles geborene Künstlerin musste ihr grosses Atelier räumen und gestaltet seither Reliefs aus Fliessen. Auf diese Weise kann sie in kleineren Formaten arbeiten und dennoch nah an der Dreidimensionalität bleiben. In der ganzen Ausstellung hängen die Reliefs aus Fliessen, zumeist in Form von Sprechblasen. Darauf steht beispielsweise «Suck it Hippie» oder eine Rolle WC-Papier illustriert den sogenannten Brexit. Kommunikation ist das verbindende Thema dieser Werke wie auch der dreidimensionalen Objekte, die Craft nach wie vor erarbeitet. In den Kabinetten des Kunstmuseum Appenzell zeigt sie Figurinen mit Köpfen, die an das Computerspiel Pac Man erinnern, lebensgrosse Marionetten mit Köpfen aus Pappmaché, denen sie Münder und sechs Augen aufklebt, ein Einhorn, dessen Schweif von einem Skelett gekämmt wird, oder ein ramponiertes Velo. Es lehnt an einem übergrossen Penis und nimmt damit den«Ständer» auf vulgäre Weise wörtlich: Die künstlerische Sprache von Craft ist humorvoll, ausdrucksstark und zuweilen drastisch. Mit Witz und Verve analysiert sie Alltägliches und Politisches.

Inside Outside

Beton, Stein, Stahl und Glas, rechte Winkel und Geraden – zeitgenössische Architektur ist im Idealfall zweckmässig, ihrer Funktion zugeordnet und klar lesbar. Ist sie in Gebrauch, im Umbau oder vor dem Abbruch können sich die Verhältnisse ändern. Raumgrenzen verschieben sich, temporäre Elemente treten in den Vordergrund, Sichtachsen entstehen neu oder werden geschlossen. Charakteristisch für den dicht bebauten Raum sind ausserdem Beziehungen: Neues interagiert mit Bestehendem, Blicke gehen von Innen nach Aussen und umgekehrt. Nahes und Dahinterliegendes trifft im gebauten Gefüge aufeinander. Susanne Albrecht-Amsler widmet sich diesen Nachbarschaften und Wechselwirkungen. Die 1954 geborene Künstlerin analysiert den Stadtraum und spürt Übergangszonen und deren ästhetische Besonderheiten auf. Ein orangefarbener Bauzaun beispielsweise vor gelbgrauer Fassade und blauem Himmel setzt nicht nur eine funktionale Grenze, sondern auch einen Komplementärkontrast. Das Pink einer Treppenbrüstung hingegen ist ein naher Verwandter von Himmelblau und hat das Potential zur Dissonanz. Diese Farbkombination findet sich auch in einem leerstehenden Ladengeschäft im St.Galler Gebäudekomplex Neumarkt. Hier wurden Buchstaben und Linien über die Pfeiler gesprayt: in Pink und in Hellblau. Sie ziehen sich auf ungefähr gleichbleibender Höhe durch den Raum, von Pfeiler zu Pfeiler. Ursprünglich zur Kennzeichnung notwendiger baulicher Massnahmen angebracht, entfalten die Markierungen dank Susann Albrecht-Amslers fotografischem Blick ein neues Potential: Die Linien lassen sich als als lebendige Setzung im Raum lesen und damit als Parallele zu einem künstlerischen Gestus. Als solche haben sie ausserdem die Kraft, die lineare Ästhetik eines achtlos platzierten Stromkabels zu betonen, das sich gleich einer schwarzen Linie über den Boden schlängelt.
Susann Albrecht-Amsler lenkt die Aufmerksamkeit gezielt auf derartige Entsprechungen zur künstlerischen Praxis oder sogar zu konkreten Beispielen aus der Kunstgeschichte: Wenn sie beispielsweise eine temporär angebrachte, quadratische Sperrholzplatte mittig ins fotografierte Bild setzt oder zwei markante Kreuze aus schwarzem Klebeband ablichtet, schwingt die Erinnerung an Malewitschs suprematistische Kompositionen mit. Die Fotografie des Ladengeschäftes mit den beiden schwarzen Kreuzen auf den Glastüren gehört zugleich zu einem anderen Themengebiet, das Albrecht-Amsler vertieft untersucht: die Ausblicke und Durchblicke, deren Verschränkung und Spiegelungen. Glaswände trennen in zeitgenössischen Geschäftsbauten grosse Raumbereiche voneinander ab. Sie sind darauf angelegt, möglichst maximalen Einblick in Verkaufsflächen zu gewährleisten und selbst unsichtbar zu bleiben. Doch die Perfektion des Verschwindens gelingt nie vollständig – Susann Albrecht-Amsler zeigt die feinen Brüche auf: wenn sich Oberlichter spiegeln, ein ornamentales Fenstergitter reflektiert wird oder eine rückwärtige Fassade als Reflexion auf der Scheibe erscheint.
Dort, wo bauliche Öffnungen nicht als wandfüllende Glasflächen gestaltet sind, sondern als deutlich umgrenzter Bereich, ergeben sich wiederum andere künstlerische Fragestellungen. Susann Albrecht-Amsler widmet sich hier den räumlichen Verschränkungen. So trennt ein aus Holzlatten provisorisch zusammengefügtes Andreaskreuz zwei Bereiche, aber gerade dadurch treten diese separierten Zonen in Beziehung zueinander. In einer Aufnahme aus Rom zeigt ein ovales Fenster nur einen kleinen Teil des Aussenbereiches und betont auf diese Weise den Ausschnittcharakter. In einer anderen Fotografie eines Fensters zerteilen kleinteilige Sprossen die Aussicht in mehrere Dutzend Segmente. Auch eine verspiegelte Fassade in Rom will nicht sich selbst, sondern ihre Umgebung zeigen. Doch die Fugen zwischen den Scheiben und die zweiflügelige, ebenfalls verspiegelte Tür erhalten nicht nur Sichtbarkeit der Fassade als bauliches Element: Diese Unterbrechungen der Fläche gliedern obendrein die wiedergegebene Umgebung in einzelne Felder. So fotografiert die Künstlerin drei Personen, die sich alle in derselben räumlichen Situation befinden, so, dass sie durch die Fugen je ein einzelnes, gespiegeltes Feld einnehmen. Gemeinsam mit der Aufnahme einer floral verzierten, zerbrochenen Ofenkachel ist dieses Bild das Bindeglied zu einer anderen grossen Werkgruppe in der Arbeit Susann Albrecht-Amslers – den fragmentierten Räumen. Sowohl bei der gefundenen Ofenkachel als auch bei der verspiegelten Fassade ist die Fragmentierung des Gezeigten bereits in der Ausgangssituation vorhanden. Bei den zusammengesetzten Fotografien hingegen ist die Fragmentierung das Ergebnis einer teils zufallsbedingten, teils gesteuerten Arbeitsweise der Künstlerin. Ausgangspunkt sind auch hier Aufnahmen des gebauten Raumes: Brücken, der Innenraum eines Antiquariates oder eines Haushaltsgeschäftes, eine Fussgängerzone, die mit Regalen gefüllte Hauptpost in Rom oder die zur provisorischen Bibliothek umgebaute Hauptpost in St.Gallen. Die Künstlerin hat die Motive mit der Digitalkamera fotografiert und kleinformatige Schwarzweissabzüge erstellt. Diese wiederum vergrössert sie besonderen Verfahren: Das Bild wird auf einem einfachen Kopiergerät Stück für Stück in A3-grosse Blätter übersetzt. Die Künstlerin agiert als Regisseurin der Ausschnitte, der Blickachsen und des Gesamteindruckes. Sie fragmentiert und setzt zusammen, sie wertet und gewichtet. Bei jedem Kopierschritt entstehen an den Rändern der einzelnen Blätter – dort, wo der Druckbereich des Gerätes endet – Leerstellen. Diese zerschneiden als weisse Linien das Bild. Wo diese Linien das Motiv trennen und welche Details gemeinsam auf einem Ausschnitt bleiben, ist die Entscheidung der Künstlerin. Sie wertet und gewichtet. Sie choreographiert ihre Aufnahmen. Mal betont die sie zufällige Anordnung der Personen im Stadtraum, mal Blickachsen, bauliche Details oder situatives Zusammentreffen von Dingen und Menschen. Sowohl in Albrecht-Amslers Werkgruppe der zusammengesetzten Fotografien als auch in ihrer frühen Radierung oder ihren unbearbeiteten Aufnahmen des Stadtraumes äussert sich das künstlerische Nachdenken über den Raum: Wie bewegen wir uns im Stadtraum? Wie treten die mobilen und die immobilen räumlichen Objekte miteinander in Kontakt? Ist dieses Zusammentreffen inszeniert oder zufällig? Was sind seine Qualitäten? Susann Albrecht-Amsler lenkt das Augenmerk auf jene Stellen des gebauten Raumes, die sich der Planung entzogen haben, auf Fehlstellen oder ästhetische Zufälle. Damit arbeitet sie den Reichtum der städtischen Umgebung heraus: Genaues Hinsehen lohnt sich immer.

Text für «Fragmentierte Räume» von Susann Albrecht-Amsler, Verlagsgenossenschaft St.Gallen, 2023

Inside Outside

Über die Arbeit von Susann Albrecht-Amsler

Beton, Stein, Stahl und Glas, rechte Winkel und Geraden – zeitgenössische Architektur ist im Idealfall zweckmässig und klar lesbar. Ist sie in Gebrauch oder vor dem Abbruch, können sich die Verhältnisse ändern. Raumgrenzen verschieben sich, temporäre Elemente treten in den Vordergrund, Sichtachsen entstehen oder werden geschlossen. Es gibt neue Wechselwirkungen und Nachbarschaften. Susann Albrecht-Amsler widmet sich diesen Übergangszonen im gebauten Gefüge. Die Künstlerin analysiert den Stadtraum und spürt dessen ästhetische Besonderheiten auf. Ein orangefarbener Bauzaun beispielsweise setzt nicht nur eine funktionale Grenze zur benachbarten gelbgrauen Fassade, sondern auch einen Komplementärkontrast zum blauen Himmel. Das Pink einer Treppenbrüstung hingegen hat als naher Verwandter des Himmelblaus das Potential zur Dissonanz.
Pink und Blau finden sich auch in einem leerstehenden Ladengeschäft in der St.Galler Multergasse. Hier wurden in diesen beiden Farben Buchstaben und Linien über die Pfeiler gesprayt. Ursprünglich zur Kennzeichnung notwendiger baulicher Massnahmen angebracht, entfalten die Markierungen dank Susann Albrecht-Amslers fotografischem Blick ein neues Potential: Sie ziehen sich dynamisch durch den Raum und lassen sich als Parallele zu einem künstlerischen Gestus lesen. Ausserdem betonen sie die lineare Ästhetik eines achtlos platzierten Stromkabels. Susann Albrecht-Amsler lenkt die Aufmerksamkeit gezielt auf solche Details oder sogar auf konkrete Entsprechungen aus der Kunstgeschichte: Wenn sie beispielsweise eine quadratische Sperrholzplatte mittig fotografiert oder zwei markante Kreuze aus schwarzem Klebeband ablichtet, schwingt die Erinnerung an Malewitschs suprematistische Kompositionen mit.
Die Fotografie mit den schwarzen Kreuzen auf Glastüren gehört zugleich zu einem anderen Themengebiet, das die Künstlerin vertieft untersucht: Ausblicke und Durchblicke, deren Verschränkung und Spiegelungen. Sie porträtiert die feinen Brüche in den blanken Oberflächen, wenn sich Beleuchtungs- oder Architekturelemente spiegeln, oder die räumlichen Verschränkungen zwischen separierten Zonen dank gestalteter Öffnungen: In einer Aufnahme aus Rom zeigt ein ovales Fenster nur einen kleinen Teil des Aussenbereiches und betont auf diese Weise den Ausschnittcharakter. In einer anderen Fotografie zerteilen kleinteilige Fenstersprossen die Aussicht in mehrere Dutzend Segmente. Bei einer Fassade in Rom zerteilen Fugen zwischen den Scheiben die gespiegelte Umgebung: Albrecht-Amsler setzt drei Personen ins Bild, die sich in derselben räumlichen Situation befinden, aber durch die Fugen je eine einzelne Fläche einnehmen. Gemeinsam mit der Aufnahme einer floral verzierten, zerbrochenen Ofenkachel ist dieses Bild das Bindeglied zu einer anderen grossen Werkgruppe in der Arbeit Susann Albrecht-Amslers – den fragmentierten Räumen.
Sowohl bei der gefundenen Ofenkachel als auch bei der verspiegelten Fassade in Rom ergibt sich die Gliederung des Gezeigten bereits durch die Ausgangssituation. Bei den zusammengesetzten Fotografien hingegen ist die Fragmentierung das Ergebnis einer teils zufallsbedingten, teils gesteuerten Arbeitsweise. Ausgangspunkt sind auch hier Aufnahmen des gebauten Raumes: Passagen, der Innenraum eines Antiquariates oder eines Haushaltsgeschäftes, die Regale in der Hauptpost in Rom oder die zur provisorischen Bibliothek umgebaute Hauptpost St.Gallen. Die Künstlerin hat kleinformatige Schwarzweissabzüge der fotografierten Motive erstellt und diese in einem besonderen Verfahren vergrössert: Das Ausgangsbild wird auf einem einfachen Kopiergerät Stück für Stück in A3-Grösse übersetzt. Albrecht-Amsler agiert als Regisseurin der Ausschnitte, der Blickachsen und des Gesamteindruckes. Sie fragmentiert und setzt zusammen, sie wertet, gewichtet und kopiert erneut. In diesem Prozess entstehen an den Rändern der einzelnen Blätter – dort, wo der Druckbereich des Gerätes endet – Leerstellen. Diese zerschneiden als weisse Linien das Bild. Wo diese Linien das Motiv trennen und welche Details gemeinsam auf einem Ausschnitt bleiben, ist die Entscheidung der Künstlerin. Sie choreographiert ihre Aufnahmen und arbeitet solange am Bild, bis es ihrer damaligen Wahrnehmung des Ortes entspricht. Mal betont sie Blickachsen, mal bauliche Details oder ein situatives Zusammentreffen von Dingen und Menschen.
Ob in ihren Fotografien, den fragmentierten Arbeiten oder der Kaltnadelradierung «Falkenburgweg, St.Gallen» – Susann Albrecht-Amsler untersucht, wie wir uns im Stadtraum bewegen. In ihren künstlerischen Fotografien, wie auch in ihren dokumentarischen Ausstellungsaufnahmen eigener Werke interessiert sie, wie mobile und immobile räumliche Objekte miteinander in Kontakt treten. Darüber hinaus lenkt die Künstlerin das Augenmerk auf jene Stellen des gebauten Raumes, die sich der Planung entzogen haben, auf Zwischenräume, Fehlstellen oder ästhetische Zufälle. Damit arbeitet sie den Reichtum der städtischen Umgebung heraus: Genaues Hinsehen lohnt sich immer.

Susann Albrecht-Amsler, Fragmentierte Räume, VGS Verlagsgenossenschaft St.Gallen, 2023

Fernando Obieta und Gregor Vogel — ‹forever

Rapperswil — Seit fünf Jahren arbeiten Fernando Obieta und Gregor Vogel an ‹forever›. Für fünf Monate ist die Installation jetzt im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zu sehen. Diese zeitliche Entsprechung ist zufällig, passt aber perfekt, denn Zeit ist eines der grossen Themen der beiden Künstler. Andere Forschungsfelder sind Erinnerung, Datenspeicherung, Kontrolle und Macht. Im Zentrum ihres Werkes steht das Unsichtbare: digital gespeicherte Sounds und deren Wiedergabe.
Für die Ausstellung in der Reihe Seitenwagen – eine Förderplattform für Kunstschaffende unter dreissig Jahren – haben Obieta und Vogel ihre Untersuchungen nun in eine sichtbare Form gebracht. Im weissen Ausstellungskabinett hat das Künstlerduo fünf schwarze Stelen platziert, miteinander verbunden durch Kabelkanäle. Sobald drinnen gesprochen wird, draussen ein Gewitter niedergeht oder wie an der Vernissage ein Volksfest mit Blasmusik eröffnet wird, zeichnet ein Aufnahmegerät in der ersten Stele die Töne auf und schickt sie nach einem definiertem Zeitraster an die nächste Stele. Jede Stele spielt den Sound ab und sendet ihn gleichzeitig weiter, bis er schliesslich bei der ersten wieder ankommt. Jeder Soundtransport erfolgt nach einem anderen Intervall, die kürzeste Zeitangabe lautet «191 Sekunden = 3 Minuten 11 Sekunden», die längste «4793 Sekunden = 1 Stunde 19 Minuten 53 Sekunden». Dadurch, dass die erste Stele nicht nur die neuen Geräusche aufnimmt, sondern auch jene, die von den anderen Stelen wieder abgespielt werden, entsteht mit der Zeit ein dichter Klangteppich. Zumindest theoretisch – je nachdem, wie belebt die Ausstellung ist. Durch das repetitive Abspielen und Wiederaufnehmen wird der Ton schwächer und schwächer, wird mit Neuem überlagert, bis schliesslich auch das Neue leise schwindet. Damit haben Obieta und Vogel ein treffendes Bild für Erinnerungen gefunden: Sie produzieren die Geräusche nicht, sondern sammeln sie. Sie verleihen dem Raum ein Gedächtnis und lassen Aufzeichnungen wie Erinnerungen verblassen. Darüber hinaus formulieren sie Technologiekritik, indem sie beispielsweise offen lassen, ob, wo oder wofür die Daten gespeichert werden und was genau in den schwarzen Stelen passiert. Die Technik ist hochkomplex und bleibt verborgen. Zugleich animiert der interaktive Charakter der Installation, sich zu beteiligen, Töne eigens für ‹forever› zu erzeugen, immer im Bewusstsein, dass sie anschliessend nicht mehr kontrolliert werden können.

Sung Tieu – Bürokratisierte Menschen

Die Plattenbausiedlung Gehrenseestrasse in Berlin steht kurz vor dem Abriss. Sung Tieu stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur. Ausgehend von ihrer persönlichen Familiengeschichte untersucht die Künstlerin soziopolitische Auswirkungen von Migration und Bürokratie.

Winterthur — Die Bürokratie hat eine abgründige Sprache. Sie kennt Wörter wie «Arbeitskräftesicherungskonzeption», «Bezirksplankommission» und spricht in Bezug auf das Herkunftsland der Menschen von «Deckungsquelle». Diese und andere monströse Begriffe finden sich in Dokumenten, die Sung Tieu im Kunstmuseum Winterthur präsentiert. Sie geben einen Einblick in die DDR-Verwaltungssprache im Umgang mit Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern aus Vietnam.
Sung Tieu ist 1987 in Vietnam geboren und hat die Situation ihrer Landsleute in der DDR nicht selbst erlebt. Sie kennt sie aber aus Erzählungen ihrer Familie und hat von 1994 bis 1997 in einem Block gelebt, der im sozialistischen Berlin für die angeworbenen Arbeitskräfte gebaut wurde. Sie präsentiert die rigide Hausordnung, für deren Einhaltung ein «vietnamesischer Gruppenleiter» zu sorgen hatte, zeigt eine Kamerafahrt über die Fassade des inzwischen leerstehenden Wohnheimes, stellt nachgebaute Zimmerwände in den Ausstellungsraum und hat die Einrichtungsgegenstände der 14-quadratmetergrossen Einheit, die von drei Personen bewohnt wurde, in Quader aus Buchenholzimitat übersetzt. Das Ganze ergibt ein ebenso stimmiges wie beklemmendes Bild der damaligen Verhältnisse. Aber Sung Tieus Thema ist grösser. Sie thematisiert nicht nur die Wohn- und Arbeitsbedingungen, sondern die Gesamtsituation der vietnamesischen Menschen in der DDR: Der sozialistische Staatsapparat sah nicht vor, dass die vietnamesische Gemeinschaft Kontakte knüpft und heimisch wird, stattdessen wurde der Aufenthalt befristet gemäss der «Konzeption zur Ablösung der in Betrieben der DDR beschäftigten ausländischen Werktätigen». Sung Tieu symbolisiert die Ein- und Ausgrenzung mit hohen, nahezu blickdichten Metallzäunen. Dazwischen platziert sie in DDR-Kombinaten hergestellte Gebrauchsgegenstände, deren Ausfuhr nach Vietnam streng reglementiert wurde, wie die gezeigten Dokumente belegen. Ausserdem hat die Künstlerin eines der grossen Fenster im Erweiterungsbau fast vollständig verdecken lassen. So kappt sie die Verbindung zwischen innen und aussen. Licht dringt aber immer noch durch schmale Schlitze herein – genauso wie sich die Verbindung zwischen den «ausländischen Werktätigen» und ihrem zeitweiligen Lebensumfeld nicht vollständig blockieren liess. Sung Tieus Ansatz ist ebenso reduziert wie atmosphärisch und transportiert eindrücklich ein wichtiges, aber wenig präsentes Thema.