Inside Outside
by Kristin Schmidt
Über die Arbeit von Susann Albrecht-Amsler
Beton, Stein, Stahl und Glas, rechte Winkel und Geraden – zeitgenössische Architektur ist im Idealfall zweckmässig und klar lesbar. Ist sie in Gebrauch oder vor dem Abbruch, können sich die Verhältnisse ändern. Raumgrenzen verschieben sich, temporäre Elemente treten in den Vordergrund, Sichtachsen entstehen oder werden geschlossen. Es gibt neue Wechselwirkungen und Nachbarschaften. Susann Albrecht-Amsler widmet sich diesen Übergangszonen im gebauten Gefüge. Die Künstlerin analysiert den Stadtraum und spürt dessen ästhetische Besonderheiten auf. Ein orangefarbener Bauzaun beispielsweise setzt nicht nur eine funktionale Grenze zur benachbarten gelbgrauen Fassade, sondern auch einen Komplementärkontrast zum blauen Himmel. Das Pink einer Treppenbrüstung hingegen hat als naher Verwandter des Himmelblaus das Potential zur Dissonanz.
Pink und Blau finden sich auch in einem leerstehenden Ladengeschäft in der St.Galler Multergasse. Hier wurden in diesen beiden Farben Buchstaben und Linien über die Pfeiler gesprayt. Ursprünglich zur Kennzeichnung notwendiger baulicher Massnahmen angebracht, entfalten die Markierungen dank Susann Albrecht-Amslers fotografischem Blick ein neues Potential: Sie ziehen sich dynamisch durch den Raum und lassen sich als Parallele zu einem künstlerischen Gestus lesen. Ausserdem betonen sie die lineare Ästhetik eines achtlos platzierten Stromkabels. Susann Albrecht-Amsler lenkt die Aufmerksamkeit gezielt auf solche Details oder sogar auf konkrete Entsprechungen aus der Kunstgeschichte: Wenn sie beispielsweise eine quadratische Sperrholzplatte mittig fotografiert oder zwei markante Kreuze aus schwarzem Klebeband ablichtet, schwingt die Erinnerung an Malewitschs suprematistische Kompositionen mit.
Die Fotografie mit den schwarzen Kreuzen auf Glastüren gehört zugleich zu einem anderen Themengebiet, das die Künstlerin vertieft untersucht: Ausblicke und Durchblicke, deren Verschränkung und Spiegelungen. Sie porträtiert die feinen Brüche in den blanken Oberflächen, wenn sich Beleuchtungs- oder Architekturelemente spiegeln, oder die räumlichen Verschränkungen zwischen separierten Zonen dank gestalteter Öffnungen: In einer Aufnahme aus Rom zeigt ein ovales Fenster nur einen kleinen Teil des Aussenbereiches und betont auf diese Weise den Ausschnittcharakter. In einer anderen Fotografie zerteilen kleinteilige Fenstersprossen die Aussicht in mehrere Dutzend Segmente. Bei einer Fassade in Rom zerteilen Fugen zwischen den Scheiben die gespiegelte Umgebung: Albrecht-Amsler setzt drei Personen ins Bild, die sich in derselben räumlichen Situation befinden, aber durch die Fugen je eine einzelne Fläche einnehmen. Gemeinsam mit der Aufnahme einer floral verzierten, zerbrochenen Ofenkachel ist dieses Bild das Bindeglied zu einer anderen grossen Werkgruppe in der Arbeit Susann Albrecht-Amslers – den fragmentierten Räumen.
Sowohl bei der gefundenen Ofenkachel als auch bei der verspiegelten Fassade in Rom ergibt sich die Gliederung des Gezeigten bereits durch die Ausgangssituation. Bei den zusammengesetzten Fotografien hingegen ist die Fragmentierung das Ergebnis einer teils zufallsbedingten, teils gesteuerten Arbeitsweise. Ausgangspunkt sind auch hier Aufnahmen des gebauten Raumes: Passagen, der Innenraum eines Antiquariates oder eines Haushaltsgeschäftes, die Regale in der Hauptpost in Rom oder die zur provisorischen Bibliothek umgebaute Hauptpost St.Gallen. Die Künstlerin hat kleinformatige Schwarzweissabzüge der fotografierten Motive erstellt und diese in einem besonderen Verfahren vergrössert: Das Ausgangsbild wird auf einem einfachen Kopiergerät Stück für Stück in A3-Grösse übersetzt. Albrecht-Amsler agiert als Regisseurin der Ausschnitte, der Blickachsen und des Gesamteindruckes. Sie fragmentiert und setzt zusammen, sie wertet, gewichtet und kopiert erneut. In diesem Prozess entstehen an den Rändern der einzelnen Blätter – dort, wo der Druckbereich des Gerätes endet – Leerstellen. Diese zerschneiden als weisse Linien das Bild. Wo diese Linien das Motiv trennen und welche Details gemeinsam auf einem Ausschnitt bleiben, ist die Entscheidung der Künstlerin. Sie choreographiert ihre Aufnahmen und arbeitet solange am Bild, bis es ihrer damaligen Wahrnehmung des Ortes entspricht. Mal betont sie Blickachsen, mal bauliche Details oder ein situatives Zusammentreffen von Dingen und Menschen.
Ob in ihren Fotografien, den fragmentierten Arbeiten oder der Kaltnadelradierung «Falkenburgweg, St.Gallen» – Susann Albrecht-Amsler untersucht, wie wir uns im Stadtraum bewegen. In ihren künstlerischen Fotografien, wie auch in ihren dokumentarischen Ausstellungsaufnahmen eigener Werke interessiert sie, wie mobile und immobile räumliche Objekte miteinander in Kontakt treten. Darüber hinaus lenkt die Künstlerin das Augenmerk auf jene Stellen des gebauten Raumes, die sich der Planung entzogen haben, auf Zwischenräume, Fehlstellen oder ästhetische Zufälle. Damit arbeitet sie den Reichtum der städtischen Umgebung heraus: Genaues Hinsehen lohnt sich immer.
Susann Albrecht-Amsler, Fragmentierte Räume, VGS Verlagsgenossenschaft St.Gallen, 2023