Inside Outside
by Kristin Schmidt
Beton, Stein, Stahl und Glas, rechte Winkel und Geraden – zeitgenössische Architektur ist im Idealfall zweckmässig, ihrer Funktion zugeordnet und klar lesbar. Ist sie in Gebrauch, im Umbau oder vor dem Abbruch können sich die Verhältnisse ändern. Raumgrenzen verschieben sich, temporäre Elemente treten in den Vordergrund, Sichtachsen entstehen neu oder werden geschlossen. Charakteristisch für den dicht bebauten Raum sind ausserdem Beziehungen: Neues interagiert mit Bestehendem, Blicke gehen von Innen nach Aussen und umgekehrt. Nahes und Dahinterliegendes trifft im gebauten Gefüge aufeinander. Susanne Albrecht-Amsler widmet sich diesen Nachbarschaften und Wechselwirkungen. Die 1954 geborene Künstlerin analysiert den Stadtraum und spürt Übergangszonen und deren ästhetische Besonderheiten auf. Ein orangefarbener Bauzaun beispielsweise vor gelbgrauer Fassade und blauem Himmel setzt nicht nur eine funktionale Grenze, sondern auch einen Komplementärkontrast. Das Pink einer Treppenbrüstung hingegen ist ein naher Verwandter von Himmelblau und hat das Potential zur Dissonanz. Diese Farbkombination findet sich auch in einem leerstehenden Ladengeschäft im St.Galler Gebäudekomplex Neumarkt. Hier wurden Buchstaben und Linien über die Pfeiler gesprayt: in Pink und in Hellblau. Sie ziehen sich auf ungefähr gleichbleibender Höhe durch den Raum, von Pfeiler zu Pfeiler. Ursprünglich zur Kennzeichnung notwendiger baulicher Massnahmen angebracht, entfalten die Markierungen dank Susann Albrecht-Amslers fotografischem Blick ein neues Potential: Die Linien lassen sich als als lebendige Setzung im Raum lesen und damit als Parallele zu einem künstlerischen Gestus. Als solche haben sie ausserdem die Kraft, die lineare Ästhetik eines achtlos platzierten Stromkabels zu betonen, das sich gleich einer schwarzen Linie über den Boden schlängelt.
Susann Albrecht-Amsler lenkt die Aufmerksamkeit gezielt auf derartige Entsprechungen zur künstlerischen Praxis oder sogar zu konkreten Beispielen aus der Kunstgeschichte: Wenn sie beispielsweise eine temporär angebrachte, quadratische Sperrholzplatte mittig ins fotografierte Bild setzt oder zwei markante Kreuze aus schwarzem Klebeband ablichtet, schwingt die Erinnerung an Malewitschs suprematistische Kompositionen mit. Die Fotografie des Ladengeschäftes mit den beiden schwarzen Kreuzen auf den Glastüren gehört zugleich zu einem anderen Themengebiet, das Albrecht-Amsler vertieft untersucht: die Ausblicke und Durchblicke, deren Verschränkung und Spiegelungen. Glaswände trennen in zeitgenössischen Geschäftsbauten grosse Raumbereiche voneinander ab. Sie sind darauf angelegt, möglichst maximalen Einblick in Verkaufsflächen zu gewährleisten und selbst unsichtbar zu bleiben. Doch die Perfektion des Verschwindens gelingt nie vollständig – Susann Albrecht-Amsler zeigt die feinen Brüche auf: wenn sich Oberlichter spiegeln, ein ornamentales Fenstergitter reflektiert wird oder eine rückwärtige Fassade als Reflexion auf der Scheibe erscheint.
Dort, wo bauliche Öffnungen nicht als wandfüllende Glasflächen gestaltet sind, sondern als deutlich umgrenzter Bereich, ergeben sich wiederum andere künstlerische Fragestellungen. Susann Albrecht-Amsler widmet sich hier den räumlichen Verschränkungen. So trennt ein aus Holzlatten provisorisch zusammengefügtes Andreaskreuz zwei Bereiche, aber gerade dadurch treten diese separierten Zonen in Beziehung zueinander. In einer Aufnahme aus Rom zeigt ein ovales Fenster nur einen kleinen Teil des Aussenbereiches und betont auf diese Weise den Ausschnittcharakter. In einer anderen Fotografie eines Fensters zerteilen kleinteilige Sprossen die Aussicht in mehrere Dutzend Segmente. Auch eine verspiegelte Fassade in Rom will nicht sich selbst, sondern ihre Umgebung zeigen. Doch die Fugen zwischen den Scheiben und die zweiflügelige, ebenfalls verspiegelte Tür erhalten nicht nur Sichtbarkeit der Fassade als bauliches Element: Diese Unterbrechungen der Fläche gliedern obendrein die wiedergegebene Umgebung in einzelne Felder. So fotografiert die Künstlerin drei Personen, die sich alle in derselben räumlichen Situation befinden, so, dass sie durch die Fugen je ein einzelnes, gespiegeltes Feld einnehmen. Gemeinsam mit der Aufnahme einer floral verzierten, zerbrochenen Ofenkachel ist dieses Bild das Bindeglied zu einer anderen grossen Werkgruppe in der Arbeit Susann Albrecht-Amslers – den fragmentierten Räumen. Sowohl bei der gefundenen Ofenkachel als auch bei der verspiegelten Fassade ist die Fragmentierung des Gezeigten bereits in der Ausgangssituation vorhanden. Bei den zusammengesetzten Fotografien hingegen ist die Fragmentierung das Ergebnis einer teils zufallsbedingten, teils gesteuerten Arbeitsweise der Künstlerin. Ausgangspunkt sind auch hier Aufnahmen des gebauten Raumes: Brücken, der Innenraum eines Antiquariates oder eines Haushaltsgeschäftes, eine Fussgängerzone, die mit Regalen gefüllte Hauptpost in Rom oder die zur provisorischen Bibliothek umgebaute Hauptpost in St.Gallen. Die Künstlerin hat die Motive mit der Digitalkamera fotografiert und kleinformatige Schwarzweissabzüge erstellt. Diese wiederum vergrössert sie besonderen Verfahren: Das Bild wird auf einem einfachen Kopiergerät Stück für Stück in A3-grosse Blätter übersetzt. Die Künstlerin agiert als Regisseurin der Ausschnitte, der Blickachsen und des Gesamteindruckes. Sie fragmentiert und setzt zusammen, sie wertet und gewichtet. Bei jedem Kopierschritt entstehen an den Rändern der einzelnen Blätter – dort, wo der Druckbereich des Gerätes endet – Leerstellen. Diese zerschneiden als weisse Linien das Bild. Wo diese Linien das Motiv trennen und welche Details gemeinsam auf einem Ausschnitt bleiben, ist die Entscheidung der Künstlerin. Sie wertet und gewichtet. Sie choreographiert ihre Aufnahmen. Mal betont die sie zufällige Anordnung der Personen im Stadtraum, mal Blickachsen, bauliche Details oder situatives Zusammentreffen von Dingen und Menschen. Sowohl in Albrecht-Amslers Werkgruppe der zusammengesetzten Fotografien als auch in ihrer frühen Radierung oder ihren unbearbeiteten Aufnahmen des Stadtraumes äussert sich das künstlerische Nachdenken über den Raum: Wie bewegen wir uns im Stadtraum? Wie treten die mobilen und die immobilen räumlichen Objekte miteinander in Kontakt? Ist dieses Zusammentreffen inszeniert oder zufällig? Was sind seine Qualitäten? Susann Albrecht-Amsler lenkt das Augenmerk auf jene Stellen des gebauten Raumes, die sich der Planung entzogen haben, auf Fehlstellen oder ästhetische Zufälle. Damit arbeitet sie den Reichtum der städtischen Umgebung heraus: Genaues Hinsehen lohnt sich immer.
Text für «Fragmentierte Räume» von Susann Albrecht-Amsler, Verlagsgenossenschaft St.Gallen, 2023