Sung Tieu – Bürokratisierte Menschen

by Kristin Schmidt

Die Plattenbausiedlung Gehrenseestrasse in Berlin steht kurz vor dem Abriss. Sung Tieu stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur. Ausgehend von ihrer persönlichen Familiengeschichte untersucht die Künstlerin soziopolitische Auswirkungen von Migration und Bürokratie.

Winterthur — Die Bürokratie hat eine abgründige Sprache. Sie kennt Wörter wie «Arbeitskräftesicherungskonzeption», «Bezirksplankommission» und spricht in Bezug auf das Herkunftsland der Menschen von «Deckungsquelle». Diese und andere monströse Begriffe finden sich in Dokumenten, die Sung Tieu im Kunstmuseum Winterthur präsentiert. Sie geben einen Einblick in die DDR-Verwaltungssprache im Umgang mit Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern aus Vietnam.
Sung Tieu ist 1987 in Vietnam geboren und hat die Situation ihrer Landsleute in der DDR nicht selbst erlebt. Sie kennt sie aber aus Erzählungen ihrer Familie und hat von 1994 bis 1997 in einem Block gelebt, der im sozialistischen Berlin für die angeworbenen Arbeitskräfte gebaut wurde. Sie präsentiert die rigide Hausordnung, für deren Einhaltung ein «vietnamesischer Gruppenleiter» zu sorgen hatte, zeigt eine Kamerafahrt über die Fassade des inzwischen leerstehenden Wohnheimes, stellt nachgebaute Zimmerwände in den Ausstellungsraum und hat die Einrichtungsgegenstände der 14-quadratmetergrossen Einheit, die von drei Personen bewohnt wurde, in Quader aus Buchenholzimitat übersetzt. Das Ganze ergibt ein ebenso stimmiges wie beklemmendes Bild der damaligen Verhältnisse. Aber Sung Tieus Thema ist grösser. Sie thematisiert nicht nur die Wohn- und Arbeitsbedingungen, sondern die Gesamtsituation der vietnamesischen Menschen in der DDR: Der sozialistische Staatsapparat sah nicht vor, dass die vietnamesische Gemeinschaft Kontakte knüpft und heimisch wird, stattdessen wurde der Aufenthalt befristet gemäss der «Konzeption zur Ablösung der in Betrieben der DDR beschäftigten ausländischen Werktätigen». Sung Tieu symbolisiert die Ein- und Ausgrenzung mit hohen, nahezu blickdichten Metallzäunen. Dazwischen platziert sie in DDR-Kombinaten hergestellte Gebrauchsgegenstände, deren Ausfuhr nach Vietnam streng reglementiert wurde, wie die gezeigten Dokumente belegen. Ausserdem hat die Künstlerin eines der grossen Fenster im Erweiterungsbau fast vollständig verdecken lassen. So kappt sie die Verbindung zwischen innen und aussen. Licht dringt aber immer noch durch schmale Schlitze herein – genauso wie sich die Verbindung zwischen den «ausländischen Werktätigen» und ihrem zeitweiligen Lebensumfeld nicht vollständig blockieren liess. Sung Tieus Ansatz ist ebenso reduziert wie atmosphärisch und transportiert eindrücklich ein wichtiges, aber wenig präsentes Thema.