Karin Bucher und Thomas Karrer, Ohne Titel, 2018– 2023
by Kristin Schmidt
Wie lebt man in einer Stadt, die keine Geschichte hat? Wie lebt man in einer Stadt, die zur Geschichte geworden ist? In Chandigarh sind beide Erfahrungen nahezu gleichzeitig möglich. Die Stadt wurde von Le Corbusier in den 1950er Jahren entworfen und unter seiner Leitung realisiert. Sie ist die gebaute Synthese von Idealismus und Optimismus. Karin Bucher und Thomas Karrer aus Trogen haben für ihren Dokumentarfilm «Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh» sechs Monate in der Stadt gelebt. Die Regisseurin und Szenografin Bucher und der Regisseur und Produzent Karrer haben unzählige Filmstunden aufgenommen und hunderte Fotos gemacht. Sie zeigen Leben und Stillstand in der musealisierten Planstadt: Der menschenleere Kapitol-Komplex ist der Kopf Chandigarhs. Sicherheitsbedenken und die strikte Umsetzung der UNESCO-Welterbe-Konvention lassen hier kaum Alltagsleben oder Veränderungen zu.
Die Wohnbezirke sind als Gartenstadt gestaltet. Der Mensch ist hier das Mass der Dinge, auch bei Weglängen und Strassenführung. Überall sind Bäume selbstverständlicher Teil der Umgebung. Zugleich treffen hier die in Europa herausgebildeten Konzepte Le Corbusiers auf traditionelle indische Lebensweisen. Der Film lenkt das Augenmerk auf diese Kontraste und auf die Schwierigkeiten einer Welterbe-Stadt: Im Stadtzentrum beispielsweise sind Fussgängerzonen und Einkaufspassagen angelegt. Doch die Menschen bevorzugen inzwischen die Shoppingmalls an der Peripherie. Die Stadt, in der jeder Kandelaber und jede Farbgestaltung vorgegeben ist und in der starke bewahrende Kräfte wirken, braucht neues Leben. Sie kann nur entwickelt werden, wenn sich Menschen den Stadtraum wieder aneignen können.
Bildbogen, Obacht, KULTURERBE, No. 47 | 2023/3