Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Düfte ausstellen? Funktioniert!

Teufen — Düfte gehen direkt ins Hirn. Sie sind vielfältig und flüchtig. Sie wecken Erinnerungen, lösen Emotionen aus und werden sehr individuell interpretiert. Lässt sich dieser olfaktorische Reichtum ausstellen? Das Zeughaus Teufen liefert die Antwort mit einer gelungenen Präsentation. Erarbeitet wurde sie vom Zürcher Parfümeur Andreas Wilhelm gemeinsam mit der Szenografin Clara Sollberger. Wilhelm kreiert Parfüms für Marken aus aller Welt und eigene Duftkollektionen. Für das Zeughaus Teufen hat er die Essenzen der Liebe herausgefiltert: Hingabe, Lust, Verliebtheit, Eifersucht, Vertrauen, Trauer und Unschuld sind als Duftnote in hunderte kleiner Flaschen abgefüllt. Ihnen gehört der grosse Auftritt in der Ausstellung. Wem der lichtdurchflutete Raum dennoch zuviel Ablenkung bietet, darf sich eine rotlederne Augenbinde umlegen, um sich vollständig auf den Geruchssinn zu konzentrieren. Den Gegenpart zu dieser Reduktion bildet der «Liebesrausch»: ein kleines, in rotes Licht getauchtes Kabinett. Hier ist der Geruchseindruck bombastisch und in seiner Intensität nur kurz auszuhalten. Woraus so ein Duftfeuerwerk entsteht, zeigt der Raum gegenüber: Wilhelms Labor ist temporär zu Gast in Teufen. Flaschen, Kanister und Rührgefässe, Zutatenlisten und Pipetten – betörende Düfte zu mischen, ist eine profane Angelegenheit. ks

‹Andreas Wilhelm – Liebe›, Zeughaus Teufen, bis 6.10.
zeughausteufen.ch

Seismografin des Weltgeschehens

Eva Wipf war ebenso eigenwillig wie hartnäckig. Ihr Werk entwickelte sie angesichts der weltpolitischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und in Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen. Das Kunstmuseum Thurgau zeigt eine gross angelegte Retrospektive der oft übersehenen Künstlerin.

Warth — ‹Zu lang im Bett mit Fantasien. Schade um mich…› Eva Wipf notiert diese Sequenz 1962. Ihre Gedankenwelt ist düster und hat viel mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten ihrer Zeit zu tun. Die 1929 geborene Künstlerin wuchs als Tochter eines evangelikalen Missionars auf und in die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges hinein. Sie beschäftigte sich Zeit ihres Lebens mit den Schrecken von Diktaturen, Kriegen und Verfolgung, aber auch mit religiösen Grundsätzen und mit ihrer Rolle als Künstlerin in einer patriarchalisch geprägten Umgebung. Eine Akademie hat Wipf nicht besucht, doch sie war eine regelmässige Ausstellungsgängerin, kannte das Werk von Giacometti, Cornell, Oppenheim, Dubuffet und vielen Anderen. Ihr Oeuvre aber verarbeitet nicht einfach das Gesehene, sondern entsteht aus einem eigenständigen Schöpferdrang.
Das Kunstmuseum Thurgau zeigt in der Karthause Ittingen eine gross angelegte Retrospektive der 1978 verstorbenen Künstlerin. Die Schau folgt ungefähr der Biografie, richtet das Augenmerk aber vor allem auf Themengebiete. So werden einerseits in sich geschlossene Werkkomplexe und andererseits Konstanten in Wipfs Arbeit deutlich. Kontinuierlich arbeitet sie an ihren Assemblagen: Gebrauchte Holzkisten füllt sie mit gefundenen Dingen und Materialien. Von der Matratzenfeder über Schwämme, Zithern, Knochen oder Computerplatinen bis zum Zaunfragment ist alles dicht und sorgfältig angeordnet, mitunter symmetrisch oder in mehren Ebenen. Die Assemblagen muten an wie kleine Schreine und beherbergen Wipfs Ansichten zur Welt. Ein Kasten widmet sich Dr. Mengele, ein anderer Napoleon, einer ist als «Altar für eine Bombe (Zitteraltar)», 1976 bezeichnet, es gibt das «Höllentor», 1973–1975, einen Kasten zu Auschwitz und einige zu christlichen Themen. Ordnung steht in ihnen nicht für Harmonie, sondern viel mehr für Zwänge, Automatismen oder Dogmen. Das malerische Werk Wipfs ist nicht weniger vielfältig. Hier verwirklicht die Künstlerin halluzinatorische Bildprogramme. Mal zeigt sie die Schöpfung kaputt, die Erde verwüstet, dann wieder baut sie kristalline Himmelsstädte oder entwirft Paradiesgärten. Doch auch diese sind keine bukolischen Idyllen, sondern dunkel und menschenleer. Wipfs Bildsprache erinnert an den magischen Realismus, den späten Surrealismus, die Art Brut, den Tachismus, aber ihre Synthese und künstlerische Unbedingtheit ist einzigartig. ks

‹Eva Wipf – Seismograf in Nacht und Licht›, Kunstmuseum Thurgau, bis 19.12.
kunstmuseum.tg.ch

Die Goldach als Landschaftsgärtnerin

Die Goldach rauscht am Chastenloch vorbei. Lukas Indermaur ist begeistert. Die Wassermassen im Juni 2024 sind auch für den Gewässerverantwortlichen des WWF Regiobüro AR/AI-SG-TG nicht alltäglich: «Jetzt strömen hier fünf Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch, normal für diese Jahreszeit sind ein halber bis ein Kubikmeter.» Aber es hat viel geregnet in diesem Frühsommer und die Hänge sind steil. Letztere sorgen für eine Besonderheit: «Durch die stark bewaldeten Hänge gelangen über den Uferbereich viele Stämme ins strömende Wasser. Aus flussmorphologischer Sicht ist das sehr gut.» Indermaur spricht von Strömungsschatten und Pionierhabitaten, von Initialräumen und dem Schwemmholz als Nukleus: Hinter den Stämmen entstehen stillere Wasserbereiche, dort siedeln seltene Tierarten wie beispielsweise Gelbbauchunke und Geburtshelferkröte. Je nach Hochwasser verändern sich deren Lebensräume jährlich und bleiben dadurch räuberfrei: «Das Hochwasser ist der Herzschlag einer Aue.»
In der Goldach spielt vieles ideal zusammen: Sie ist ein eher siedlungsferner Fluss, die landwirtschaftlichen Belastungen sind niedrig. Im Geotopinventar wird ihr sogar nationale Bedeutung zugemessen, denn der Goldachgletscher hat hier eine einzigartige Landschaft geschaffen mit riesigen Gletschertöpfen und Schmelzwasserrinnen: «Die Strudeltöpfe sind wie ausgestanzt.» Indermaur kennt diese Formationen von seinen regelmässigen Flusswanderungen. Auf dem Wegstück Richtung Zweibrücken kommt der Trogener Gewässerbiologe erneut ins Schwärmen: «Hier sind alle Ingredienzen, die eine Aue braucht: starker Abfluss, Schwemmholz, Geschiebe, Sandbank, Fische.» Wo Fische sind, sind auch Angler. Indermaur sieht das locker, denn «Fischer sind die Augen und Ohren am Gewässer.» Sie kennen den Fluss und spüren Veränderungen. Einzig den Besatz sieht er kritisch: «Hier hoch kommen Bachforellen nicht auf natürlichem Weg, das sind ausgesetzte Exemplare.» Die Seeforellen beispielsweise schaffen es drei bis vier Kilometer die Mündung hinauf. Die Goldach ist damit der drittwichtigste Zufluss für deren Population am Bodensee – von der Quelle bis zur Mündung ist der Fluss ein Primärlebensraum für viele. Damit das so bleibt, ist es am besten, den Fluss in Ruhe zu lassen: «Der Fluss ist sein eigener Landschaftsgärtner.»

Obacht Kultur, GOLDACH, No. 49 | 2024/2

Auftritt: Maria Tackmann, «Passage», 2024

Zieht sich über eine Landkarte eine blaue Linie, zeigt sie zumeist ein Fliessgewässer an – einen Bach, einen Fluss, einen Kanal. Stellenweise verläuft das blaue Band geradlinig, meist jedoch schlängelt es sich durch die kartografierte Landschaft. Das ist bei der Goldach nicht anders als beim Rhein oder dem Amazonas. Wie sich der Wasserlauf darstellt, ob feingliedriger oder auf eine einfache Linie reduziert, hängt vom Masstab der Karte ab. Wer digitale Karten verwendet, kann den angezeigten Massstab fast beliebig variieren. Was sich jedoch nicht verändern lässt: Verglichen mit gedrucktem Kartenmaterial ist das Format des Mobilgerätes klein. Es bietet entweder eine wenig detaillierte Überblicksansicht, oder eine Nahansicht ohne grösseren Zusammenhang: Der Bach- oder Flusslauf wird zu einem kurzen blauen Streifen. Maria Tackmann hat die Wirkung der Massstabsveränderungen anhand der Goldach ausprobiert. Zunächst ist sie ihr ein Stück vor Ort gefolgt, ist dem Ufer entlanggegangen, und – wo dies nicht mehr möglich war – im Wasser weitergewatet. Dann hat sie den Wasserlauf auf Satellitenkarten und topografischen Karten studiert. Sie hat den abgebildeten Verlauf der Goldach von der Quelle bis zur Mündung in 2´500 Einzelbilder zerlegt – so viele, wie die Auflagenhöhe des Obacht-Magazins beträgt. Sie hat mit Massstäben und Kartenrastern experimentiert und deren Einfluss auf die Gestalt der Goldach analysiert. Dabei hatte die seit 2021 in Wald lebende Künstlerin stets die zeichnerische Umsetzung dieser Studien im Blick: Welchen Abstraktionsgrad erhalte ich bei welchem Massstab? Wie lassen sich Fliessdynamik und Arbeitsprozess adäquat vereinen? Wie lässt sich die Goldach als Ganzes erfassen und in Teilen darstellen? Die Antwort auf diese Fragen liefert eine blaue, mit Wasserfarben und breitem Pinsel gezogenen Linie. Sie legt sich horizontal über das gefaltete Blatt Papier. Alles ist in dieser Linie enthalten: das Wasser selbst, das Blau der topografischen Markierungen für Fliessgewässer, die Andeutung eines Gewässerausschnittes, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem traditionsreichen Medium der Landschaftsmalerei, ihrem typischen Querformat und mit fernöstlichen Tuschezeichnungen. Das Blau ist kräftig und lebendig. Der Pinsel hat feine Linien innerhalb des Striches hinterlassen, an manchen Stellen ist der Farbauftrag dunkler, an anderen scheint das Papier stärker durch oder ist gar keine Farbe auf dem Papier haften geblieben. Jedes Blatt ist ein Unikat, jedes eine Landschaft.

Obacht Kultur, GOLDACH, No. 49 | 2024/2

Fridolin Schoch, Shapeshifting ideas, 2024, Digitalcollage, 390 x 265 mm

Schlingen, Schnörkel, Schlaufen – sie kringeln sich ohne Anfang und ohne Ende auf kleinen Quadraten mit dunkler Ölfarbe. Die Farbe ist dick und regelmässig von der Mitte aus zu den Rändern hin aufgetragen, so dick, dass sie glänzt. In diesem Glanz erhält jeder aufgeklebte Kringel einen Strahlenkranz aus reflektiertem Licht: Er wird zum Mittelpunkt eines Bildes. Fridolin Schoch hat die kleinen Schnipsel aus Verpackungsmaterial ausgeschnitten. Es sind die schimmernden Rückseiten von Reststücken, von übrig Gebliebenem, von Dingen, die nur dazu vorgesehen waren, andere Dinge einzuhüllen. Der Künstler hat ihnen Aufmerksamkeit geschenkt und ihr Überdauern gesichert. Mehr als zehn Jahre ist diese kleine Serie nun alt und erhält als Bildbogen einmal mehr eine neue Präsenz. Fridolin Schoch arbeitet regelmässig mit Material aus seinem Archiv, oft in Serien, verbindet Älteres zu Neuem, findet Bezüge zwischen bestehenden Werken und fügt Aktuelles hinzu. Für den Künstler ist das, wie in der Zeit zu reisen. Mit dem Fortbestehen der Kunst, kann sich der zeitliche Aspekt aber auch komplett auflösen.
Für den Bildbogen hat Fridolin Schoch eine Serie von kürzlich entstandenen Aquarellen eingescannt, Ausschnitte gewählt und das Material digital neu zusammengefügt. Die Vielfalt der Motive, ihre Addition, die Gestalt der Ausschnitte lässt einen dichten räumlichen Eindruck entstehen. Der Künstler verzichtet jedoch darauf, eine Blickrichtung vorzugeben: Alle Perspektiven sind richtig. Alle Motivelemente sind gleichwertig, ganz gleich, ob das Bild um 90° oder 180° gedreht wird. Jedes verwendete Aquarell ist eigenständig und zugleich Teil eines neuen, ebenfalls eigenständigen Werkes.

Bildbogen, Obacht Kultur, WIEDER UND WEITER, No. 48 | 2024/1

«Zum Glück gibt es die Malerei.»

Sonja Hugentobler malt die Weite. Ihre Gemälde bewegen sich zwischen Abstraktion und Landschaft, zwischen draussen und drinnen. Das Hauptmotiv der Bilder ist die Malerei selbst.

Fenster verbinden. Sie ermöglichen Blicke von innen nach aussen, von draussen nach drinnen. Sie zeigen die Welt in einem rechteckig gerahmten Ausschnitt. Anders die Bullaugen: Wer durch ein Bullauge blickt, sieht die Welt rund, sieht sie in ihrer Weite und erahnt vielleicht sogar die Erdkrümmung. Denn Bullaugen sind Fenster des Reisens, sie zeigen die Welt aus der Vogel- oder Schiffsperspektive. Mit diesem Blick beginnt Sonja Hugentobler ihre malerischen Erkundungen. So setzt sie in der Serie «Bullauge» oder in «Blickwinkel» in hochrechteckige Formate ein grosses Oval. Es rahmt eine lebendige Farbfläche. Sonja Hugentobler experimentiert hier mit Materialien und Tonwerten: Mal liegt eine wässrige, türkisfarbene Schicht wie ein Film über dunkler Ölfarbe und perlt ab. Mal ziehen sich helle Streifen Blitzen gleich über das Dunkel. Oder eine homogene Farbfläche liegt schwebend über hellerem Grund.
Die nahezu quadratischen Grossformate «Lookout» oder «Tapisserie» hingegen zeigen ein offenes Rund ohne eigene Umrandung. Wie ein Guckloch gibt es den Blick frei auf Andeutungen dessen, was die Seherfahrung als Landschaft klassifiziert. Diese Assoziation entsteht einerseits durch die mit locker gesetzten, ausfasernden Pinselstriche, die eine Küstenlinie formen oder bebautes Land. Andererseits wird sie hervorgerufen durch die verwendeten Farben: Hellblau, graublau, blassblau, türkis, hellgrau, azurblau – die Vielfalt der Töne erinnert an die Farben des Meeres und des Himmels. Ausserhalb der Tondi setzen sie sich in einer ungegenständlichen Fläche fort oder deuten wie in «Lookout» ein weiteres dreidimensionales Element an: Ist das ein Bullauge neben dem Bullauge? Sonja Hugentobler legt Fährten aus, reduziert sie wieder oder arbeitet sie deutlicher heraus: «Wenn etwas entsteht, entscheide ich, es entweder hervorzuheben oder im Ungefähren zu belassen.» Jedes der Bullaugen kann sowohl als gegenständliches Motiv aber auch als geometrische Bildform gelesen werden. In «Hafen für ein Geisterschiff» fehlen sie ganz. Oder ist das Auge dem Fenster so nahe gerückt, dass seine Grenzen nicht mehr zu sehen sind? Sonja Hugentobler porträtiert keine konkreten Situationen, sondern erforscht ihren Weg zum gemalten Bild.

Publikation, Bullaugen 1, Leporello, Trogen 2023

‹Allianzen›

Appenzell — ‹Plastique Plastic 6› war 1939 in Vorbereitung. Doch die sechste Nummer der Avantgarde-Zeitschrift erschien nie. Zu einschneidend war der Kriegsausbruch, war Sophie Taeuber-Arps Unfalltod 1943 und waren die Umbrüche in Europa nach dem Kriegsende. Bis 1960 gab es immer wieder vereinzelte Anläufe, an dem Heft zu arbeiten, dann war Schluss. Die Ausstellung ‹Allianzen› dokumentiert diesen Verlauf anhand von Briefen, grafischen Entwürfen und Texten. Sie sind teilweise zum allerersten Mal öffentlich zu sehen.
Im Zentrum der Arbeit an ‹Plastique Plastic› stehen Sophie Taeuber-Arp, Hans Arp und Max Bill. Die Künstlerin und ihre beiden Künstlerkollegen gehören zu den zentralen Figuren der europäischen Avantgarde. Sie standen in engem Austausch miteinander und pflegten darüber hinaus ein breites Netzwerk. Die Zeitschrift war ein Instrument dafür: Sie ermöglichte Kooperation und Zusammenarbeit innerhalb der konstruktiven und konkreten Kunst, richtete sich aber auch an weitere Interessierte. Die Ausstellung vereint über die Briefe und Skizzen hinaus Plakate, gemeinsame Mappenwerke und Reliefs, Malerei, Plastiken. Möglich wurde diese breit gefächerte Werkschau durch die Kooperation des Kunstmuseum Appenzell mit der Fondazione Marguerite Arp und der Sammlung von Chantal und Jakob Bill. Die Qualität der gezeigten Materialien und die sorgfältige Hängung verhindern, dass die Gemälde, Plastiken und Reliefs die naturgemäss weniger auf eine Ausstellung hin entwickelten Medien in den Schatten stellen. Dicht gehängte Grafiken und gut bestückte Vitrinen wechseln sich ab mit markant in Szene gesetzten Einzelwerken. Die künstlerischen Positionen sind nie isoliert voneinander zu sehen, jederzeit wird die Durchdringung der Werke mit der gemeinsamen Idee, die Vision einer universellen, alle Lebensbereiche umfassenden Gestaltung deutlich. Nur einmal hebt eine gelbe Wandfläche zwei Bilder von Sophie Taeuber-Arp besonders hervor. Die Künstlerin bringt darin geometrische Elemente in eine farblich und kompositorisch rhythmisierte Ordnung. Taeuber-Arp war hier wie in anderen Werken von ihrer früheren Arbeit als Textilentwerferin und den dazugehörigen Studien inspiriert und fand auf dieser Basis mitunter zu einer formal klareren und radikaleren Bildsprache als andere Konkrete. Nichtsdestotrotz: ‹Allianzen› porträtiert das produktive Miteinander, den Gedankenaustausch und die fruchtbare Arbeit in Netzwerken.

‹Allianzen – Arp / Taeuber-Arp / Bill›, Kunstmuseum Appenzell, bis 6.10.
kunstmuseum-kunsthalle.ch

Angela Anzi

Winterthur — Medusa lacht. Ein breites, schiefes Grinsen zieht sich über ihr fratzenhaftes Gesicht. Sie kennt die alte Geschichte, aber kann sie die Muster umschreiben, die den Frauen in einer patriarchalen Welt angedichtet werden? Mit den Fingern hat Angela Anzi Medusas Antlitz in eine flache Tonscheibe gezeichnet. Es ist kaum mehr als eine Andeutung aus schwungvoll gezogenen Furchen im weichen und schliesslich glasierten und gebrannten Material. Es führt weiblich gelesenes Begehren ebenso ad absurdum wie den männlichen Blick darauf. Die Keramik hängt als erstes Werk in der Ausstellung der Künstlerin im Kunstraum oxyd. Und es stimmt ein auf die Welt der mystischen Wesen, denen die in Basel lebende Künstlerin ihre künstlerischen Recherchen widmet. Sie lässt Sirenen singen, Nereiden locken und Hexen flüstern. Den jahrhundertelang von Künstlern idealisierten oder dämonisierten Gestalten antwortet sie mit Fratzen und Fragmenten: Ein Fischschwanz muss reichen, oder ein paar Vogelkrallen. Sprachfetzen dringen ans Ohr. Aus glänzenden Brüsten ergiesst sich Wasser schwallweise und anspielungsreich. Es glänzt und plätschert. Zwischen den Keramiken liegen Kabel, stehen Verstärker. Alles ist gleichberechtigt, die Technik, die Objekte, der Sound – aber auch die neuen Inhalte. Überholte Stereotypien werden nicht weitergeschrieben, stattdessen werden neue Bezugssysteme möglich.

‹Chanted Water›, oxyd – Kunsträume, Winterthur, bis 28.7.
oxydart.ch

Wachstum und Wandel

Reto Pulfers Schaffen gleicht einem Rhizom: Es ist ein dicht geflochtenes System aus Materialien, Motiven und Geschichten. Mit jeder Ausstellung wächst es, transformiert sich in neue Räume und enthält immer auch frühere Zustände. Aktuell die Kunst Halle Sankt Gallen eine Einzelausstellung des Künstlers.

St. Gallen — Brennnesseln sind Alleskönner. Sie dienen als Medizin, Färbemittel, Dünger, sie sind der Lebensraum vieler Arten, sie schmecken als Suppe oder Salat, sie lassen sich verarbeiten zu Textilien: Früher war Nessel das Leinen der armen Leute, und einem Märchen Hans Christian Andersens strickt ein Mädchen sechs Brennnesselhemden, um ihre in Schwäne verwandelten Brüder zu erlösen. Bei Reto Pulfer (*1981) ist die Brennnessel selbst eine Heldin. Er hat ihr einen Roman gewidmet und lässt sie auch in seinen textilen Arbeiten als Protagonistin auftreten. Sie lächelt, sie verliebt sich und erschrickt: «Ich bin außerhalb eines Musters!» ruft sie aus, wenn sie aus der Reihe eines wohlgeordneten Frieses tanzt, das mit feinen Linien auf ein grosses, rechteckiges Stück Stoff gezeichnet ist. Es hängt im dritten Raum der Kunst Halle Sankt Gallen und ist sowohl Einzelwerk als auch Teil einer alle Räume umfassenden Installation. Selten fügen sich Werke aus über zehn Jahren künstlerischer Arbeit mit neuen und eigens vor Ort entwickelten Installationen so organisch zusammen wie in der Ausstellung ‹Fachzustand›.
Grossflächige Tücher – zusammengenäht aus vielen einzelnen Laken, Hemden, Pyjamas, Reststücken, oder vollständig aus Gardinenstoff oder aus Käseleinen bestehend – hängen von der Decke und an den Wänden der Kunsthalle. Wie Zelte und Baldachine spannen sie sich durch die ehemaligen Lagerhallen, lassen den architektonischen Rahmen verschwinden und neue, intimere Räume entstehen. Die Textilien sind fleckig, weil Pulfer sie mit Walnuss, Holunder oder Brennnessel färbt. Sie sind akkurat gestreift, monochrom oder weiss, wenn sie industriell gefärbt oder gebleicht sind. Nicht nur die unterschiedliche Oberflächengestaltung, die Texturen und Muster, sorgen für ein lebendiges Bild, sondern auch die Nähte und Flicken, die Schnüre und Bänder der Aufhängung und vor allem die Notizen und Zeichnungen des Künstlers auf dem Stoff. Der gebürtige Berner hat sein reiches Werk als Autodidakt entwickelt. Er näht und webt nicht nur, sondern arbeitet mit Wort, Sound und Bildmotiv. Er lässt Pflanzen und Insekten erzählen, er zeichnet die Fauna und Flora seines Gartens als ‹Erfassung der Spezien durch Individuen›, wie eine seit 2023 entstehende Arbeit heisst. Sie wird weiter wachsen wie der Garten des Künstlers und wie jener, den er vor den Fenstern der Kunsthalle angelegt hat: Alles gedeiht und wandelt sich und schreibt die Geschichte weiter.

Reto Pulfer ‹Fachzustand›, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 18.8.
k9000.ch

Kurz vor dem Schuss

Anne Imhof stellt in den Metropolen Europas und Nordamerikas aus, nun ist sie in Bregenz zu Gast. Die deutsche Künstlerin steht für Coolness, Härte und Kollaborationen. Die aktuelle Schau hält jedoch auch fragile und intime Momente bereit.

Bregenz — Ein ungefähr Zwanzigjähriger räkelt sich auf der Matratzen eines Metallbettes. Selbstbewusst und befangen zugleich agiert er vor der Kamera. Schliesslich wird ihm eine Handfeuerwaffe gereicht, er hält sie sich an die Schläfe – er drückt nicht ab. Später richtet er die Pistole auf die Umrisslinien seines Körpers auf der Matratze und drückt ebenfalls nicht ab. Er kokettiert mit dem Tod, aber das Leben gewinnt. Die Szene stammt aus einem mehr als zwanzig Jahre alten Video von Anne Imhof. Im Kunsthaus Bregenz ist es gemeinsam mit fünf weiteren frühen Videos der deutschen Künstlerin zum ersten Mal in musealem Kontext ausgestellt. Imhof tritt auch selbst in diesen Filmen auf; aufgenommen wurden sie in ihrer damaligen Wohnung, die gleichzeitig Studio, Proberaum und Gym war. Arbeit, Leben, Liebe – alles fliesst in den Videos zusammen. Allen gemein ist der Charakter des Unfertigen, Brüchigen, Unvollkommenem. Nichts ist auf Perfektion getrimmt. Damit verleihen die Filme der Bregenzer Ausstellung sehr persönliche Momente. Mit der Verletzlichkeit der gezeigten Körper, den improvisierten Szenen können sie sich in der souverän gestalteten Schau behaupten.
Anne Imhof versteht die Architektur Zumthors und arbeitet mit ihr und gegen sie. Die Lichtdecken, die natürliches Oberlicht in alle drei Obergeschosse führen, sind verschlossen. Stattdessen brennt Kunstlicht. In der ersten und zweiten Etage taucht es den Saal in Signalrot, zuoberst hingegen in kaltes Weiss. Wo Zumthor trennende Wände oder Türen vermieden hat, platziert Imhof sogenannte Crowd control barriers: Absperrungen, die an Konzerten oder auf Festivals die Menschenmassen kanalisieren und stoppen. Die Barrieren reichen bis über Kopfhöhe und erlauben nur wenige Durchblicke. Ihre Aufstellung variiert leicht von Raum zu Raum und lässt im zweiten Obergeschoss Platz für die abgesenkte Decke: Imhof legt das Skelett der Lichtdecke frei. Die räumlichen Eingriffe und Barrieren bilden die Bühne für Imhofs Gemälde: Hyperrealistische Bilder von Explosionen und verfremdete Darstellungen des eingangs geschilderten Selbstmordmotivs. Die davor auf einen Sockel gehobene Ducati lässt sich ebenfalls als Verweis auf das Kokettieren mit dem Tod lesen. Mit dem Titel ‹My Own Private Idaho› bezieht sich das Werk jedoch auf den gleichnamigen Film und steht wie der Ausstellungstitel ‹Whish You Were Gay› für Imhofs Beschäftigung mit Queerness.

‹Anne Imhof – Whish You Were Gay›, Kunsthaus Bregenz, bis 22.9.
kunsthaus-bregenz.at