Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Das Künstlerkollektiv Streunender Hund weckt das Freibad Heiden für einen Tag aus dem Winterschlaf

Bereits im Sommer wurde die Badi zum Kunstort, nun steht das zweite Ausstellungsdatum an: mit neuen Kunstwerken und 16 Künstlerinnen und Künstlern.

Die Camera Obscura ist Rita Kappenthulers und Nathan Federers bevorzugter Fotoapparat. Und sie bauen sie am liebsten selbst. Eine lichtdichte Kartonschachtel genügt, darin dient ein kleines Loch als Objektiv. Dann wird das Fotopapier eingelegt und schon kann es losgehen: belichten und ab in die Dunkelkammer. Dafür braucht es kein Fotostudio, sondern zum Beispiel ein Bademeisterbüro – so wie im Freibad Heiden. Dort hatte das Künstlerkollektiv Streunender Hund im vergangenen Sommer Station gemacht. 
Das Kollektiv ist ein Zusammenschluss von Künstlerinnen und Künstlern, die seit 2018 immer wieder aussergewöhnliche Orte für ihre Kunstprojekte auswählen. Sie haben in der Stube eines Appenzellerhauses ausgestellt, in zwei Dorflokalen in Bühler oder in einem ausgedienten Bus. Für die aktuelle Schau hat sich der Streunende Hund das denkmalgeschützte Freibad in Heiden ausgesucht. Es ist eine Ausstellung in zwei Teilen: Im Sommer hat sie angefangen – an einem sonnig heissen Sonntag. Jetzt wird sie zu Ende gehen, an einem winterlichen Samstag im Februar. Dazwischen liegen fünf Monate künstlerischer Arbeit – allerdings nicht in der Badi Heiden, sondern in den Ateliers aller Beteiligten. So wie bei Rita Kappenthuler und Nathan Federer. 

Willkommene Abwechslung

Kappenthuler ist in Gais aufgewachsen und Bürgerin von Appenzell, Nathan Federer ist in Heiden zur Welt gekommen und hat lange in Berneck gelebt, ihr Atelier haben die beiden in St.Gallen, nahe dem Bahnhof Haggen. Das passt, denn beide sind viel unterwegs mit ihrer Kunst – und ihren Schachtelkameras. Von Italien bis Island reichen ihre Routen. In Sizilien experimentierten sie mit Selbstporträts, In Heiden lichteten sie die Badigäste ab, in Island nahmen sie die Polarsonne auf. Ausserdem zeichneten sie die Lavalandschaften und Erdspalten. Das war für beide eine tiefgreifende Erfahrung: «Wer bist Du, wenn sich die Erde unter Dir immer weiterbewegt? Was hält? Was ist sicher?» Die geologischen Zeichnungen führen sie in Grossformaten im Atelier weiter. Bei dieser intensiven künstlerischen Auseinandersetzung ist Abwechslung sehr willkommen: «Mit den Streunenden Hund können wir eine Zeitlang aus unserem Projekt ausreissen und etwas anderes machen.»
Für die Winterausstellung in Heiden hat das Künstlerduo die sommerlichen Camera Obscura-Aufnahmen in ein Heft gebunden, ausserdem hängen sie Sonnenzeichnungen in das Halbrund neben dem Kinderplanschbecken. Dort war im Sommer eine Wasser-Installation von Sven Bösiger aus Bühler zu sehen. Er wird jetzt beim kleinen Sprungturm einen Tropfstein aus dem Nichts wachsen lassen. Auch Fridolin Schoch ist Gast des Streunenden Hundes. Der Herisauer hatte im Sommer einen Malworkshop angeboten und Papierfächer zu einem Mobile verbunden. Im Winter wird ein übergrosser Fächer am Beckenrand bemalt: Alle neuen Kunstwerke tragen ihre Sommerversionen in sich. So auch bei Kollektivmitglied Harlis Schweizer aus Bühler: Im Sommer hat sie den Badegästen deren Lieblingsmotiv aus der Badi direkt auf den Körper gemalt. Jetzt hat sie die Bilder aus der Erinnerung wieder hervorgeholt und als Hinterglasmalerei festgehalten. Auf diese Weise sind sie nicht nur dem Vergessen entrissen, sondern zugleich wintertauglich festgehalten.

Keine Nägel, keine Löcher

Die Hinterglasbilder platziert Harlis Schweizer auf dem Fenstersims des zentralen Gebäudes und reagiert damit auf eine besondere Herausforderung in der Badi: Wie schon im Sommer dürfen an dem denkmalgeschützten Ensemble keine Löcher gebohrt, keine Nägel eingeschlagen, keine Farben aufgetragen werden. Umso erfinderischer müssen alle Beteiligten sein. Die Gaiserin Birgit Widmer beispielsweise installiert ein besticktes Leinenzelt auf der Rasenfläche des Schwimmbads. Sie erweist damit der norwegischen Malerin Anna-Eva Bermann die Referenz. Eine performative Lesung wird dieses Projekt begleiten.
Ebenfalls auf dem Rasen wird auch der Zürcher Martin Jung agieren: Mit seiner Kochperformance bereitet er dem Grünkern einen grossen Auftritt. Das Korn hat schon in früheren Zeiten viele durch den harten Winter gebracht und wird auch den Streunenden Hund und alle Gäste wärmen.

Durch Bilder reisen

Yves Netzhammer hat seinen ersten Langfilm realisiert. Der in Diessenhofen aufgewachsene Künstler thematisiert die Natur der menschlichen Beziehungen und betont die Künstlichkeit digital erzeugter Bilder, statt sie in detailreichen Imitationen verschwinden zu lassen.

Menschen ohne Gesicht, Geschlecht und Kleidung, Haut ohne Falten, Tiere ohne Fell: Der Künstler Yves Netzhammer verzichtet auf alles, was lebendigen Wesen ein einzigartiges Aussehen verleiht – in seinen Videos und Videoinstallationen ebenso wie in seinem ersten Langfilm «Reise der Schatten». Der von der Kulturförderung des Kantons Thurgau mitfinanzierte Film kommt am 16. Januar in die Kinos und ist ein grosses künstlerisches und filmisches Abenteuer. 
Künstler, die sich in die Filmwelt begeben, hat es zwar vereinzelt bereits gegeben, aber sie sind noch immer Exoten. Das liegt einerseits an den personellen und technischen Ressourcen, die ein Langfilm erfordert, andererseits aber auch an der inhaltlichen Struktur. Langfilme erzählen zumeist lineare Geschichten. In Netzhammers künstlerischen Videos hingehen fügen sich Einzelsequenzen aneinander. Verbunden sind sie durch die starke, einzigartige Bildsprache Netzhammers. Die gesichts- und geschlechtslosen Wesen agieren in symbolischen, abstrakten Räumen. Alles ist auf die Grundform reduziert: Geometrie statt Detail, Farbflächen statt Naturalismus. 
Funktioniert dies auch auf der Kinoleinwand und für ein Filmpublikum? Durchaus! Denn Netzhammer versucht nicht, mit computeranimierten Filmen um Naturnähe oder perfekt imitierte Realität zu konkurrieren. Stattdessen bleibt er seinem eigenständigen künstlerischen Ausdruck treu. Zudem ist sein Film ist nie vorhersehbar, jede Wendung ist möglich, nicht nur technisch, sondern auch gedanklich. Ein Nachen wird zu einer Kammer und wieder zum Boot. Die Sonne multipliziert sich, wird zum Kreis und wieder zur Sonne, dann zur Scheibe, die sich schliesslich als Himmel entpuppt. Ein Blutstropfen wird zur Drohne, ein Stacheldraht zu einer Ranke und wieder zum Stacheldraht. Metamorphosen sind in alle Richtungen möglich. Bildelemente mutieren, Szenen folgen rasch aufeinander, gegenständliche Elemente verwandeln sich in abstrakte Räume oder konkrete Landschaftsausschnitte, die anschliessend in sich zusammenklappen. Schnell kann aus einer Idylle ein Schockmoment werden.
Netzhammers Figur folgt einer Spur, oder wie es der Künstler beschreibt: «Sie versucht immer wieder, sich an ein Gegenüber heranzutasten und Beziehungen einzugehen, scheitert jedoch eins ums andere Mal». Es wird geschnitten, geritzt, zertrennt, gestorben, amputiert, penetriert. Mensch und Mensch oder Mensch und Affe begegnen einander mal auf Augenhöhe, als Gefährten, dann jedoch hilfsbedürftig und in deutlicher Rangordnung. Sie verlieren sich, finden sich wieder, das Drama beginnt von vorn. Das wird jedoch nie langweilig. Einerseits weil Netzhammer virtuos mit seinem künstlerischen Vokabular spielt und sich selten die nächste Verwandlung erahnen lässt. Andererseits berührt der Film nicht nur grundlegende existentielle Themen, sondern setzt sich auch mit hochaktuellen Fragestellungen auseinander: Welche Macht hat die Technik, wie bestimmt sie unser Leben? Drohnen beispielsweise sind im Film allgegenwärtig und lassen Mensch und Tier zu fremdgesteuerten Werkzeugen werden. Im Kontrast dazu bieten klassische, in der Kunstgeschichte oft genutzte Elemente Halt: Buch, Kerze und Spiegel leiten und heilen.
Netzhammers assoziative, traumhafte Erzählung entfaltet einen grossen Sog. Das liegt auch an der Musik von Anthony Pateras. Sie begleitet die Figuren massvoll und stimmig. Abgesehen von dieser Zusammenarbeit hat Netzhammers seinen Film in mehrjähriger Arbeit jedoch allein konzipiert, gestaltet und mit der Rechenleistung von 14 Computern realisiert. Und die zahlreichen Festivaleinladungen geben ihm recht: Der Aufwand hat sich gelohnt, der Erstling muss kein Einzelstück bleiben.

Zwei Künstlerinnen im Zusammenklang

Die Werke von Kim Lim sind in wichtigen öffentlichen Sammlungen vertreten, oft ausgestellt wurden sie zu Lebzeiten der Künstlerin nicht. Jetzt sind sie im Kunstmuseum Appenzell zu sehen: Daiga Grantina hat sich der Arbeit von Kim Lim künstlerisch assoziativ angenähert.

Appenzell — Zwei Positionen aus verschiedenen Räumen, Kontexten und Zeiten in einer dialektischen Zusammenschau – wie das funktionieren kann, zeigen Daiga Grantinas ‹Notes On Kim Lim›. Die 1936 in Singapur geborene Lim lebte ab 1954 bis zu ihrem Tod 1997 in London und arbeitete dort geschult an der Moderne und sich doch abgrenzend von dieser. Grantina, 1985 in Lettland geboren, lebt in Paris und untersucht mit abstraktem Vokabular Körper und Landschaften. Obgleich Jahrzehnte zwischen beiden Oeuvres liegen, sind die Bezüge stimmig und schlüssig. Das liegt nicht nur an den Werken selbst, sondern an Grantinas sorgfältiger Annäherung. Sie hat Lims Arbeiten im Londoner Nachlass eigehend studiert, Verwandtschaften entdeckt und lustvoll inszeniert. In jedem Raum des Kunstmuseum Appenzell hat sie zunächst ein Werk platziert und davon ausgehend nach passenden Zusammenklängen gesucht. So trifft beispielsweise Lims ‹Water Piece›, 1979 auf ‹Clinging, craving›, 2022: Die lebendige Patina der Bronzebecken findet ihren Widerhall in den Farbtupfen auf dem Edelstahlgestänge. Das Wasser spiegelt den Aussenraum neben dem Fenster des Museums. Dieses Scharnier zwischen innen und aussen korrespondiert mit der Durchlässigkeit des begehbaren Rahmens aus den geknickten Metallstäben.
Kim Lim drückt Poesie und Sanftheit in harten Materialien aus, in Marmorblöcken, Portland-Stein, Metall oder Holz. Bei Daiga Grantina sind die Werke weniger fest gefügt als flüchtig, schwer zu fassen in ihrer Form. Sie arbeitet mit Folien, Fäden, Silikon, Ästen, verbindet sie zu räumlichen Gesten in fragiler Balance. Beide Positionen verstärken einander gegenseitig: Die Präzision der einen Künstlerin trägt die Freiheit der anderen. Deren Energie wiederum wirkt zurück auf die feste, klar abzulesende Form der älteren Werke. Eine Brücke schlagen auch das Haus selbst und die Präsentation. Daiga Grantina hat Sockel entworfen, die sie «Wandvorsprünge» nennt oder «Raumecho». Diese vorkragenden, jeweils auf die gesamte Wandlänge gedehnten Konsolen heben die Skulpturen und Objekte auf über Augenhöhe. Sie fangen das Oberlicht des Hauses ein, werfen es zurück an die Wand und bringen die gezeigten Werke gleichsam zum Schweben. Die Atmosphäre in der Ausstellung ist beschwingt und doch konzentriert. Dazu passen die Stimmen im geplanten Künstlerinnenbuch: Katalin Déer wird eine fotografische Spur legen und Ilma Rakusa trägt Gedichte bei.

‹Daiga Grantina. Notes on Kim Lim›, Kunstmuseum Appenzell, bis 4.5.
kunstmuseum-kunsthalle.ch

Grün. Grüner. Wald!

Der Wald kommt gut ohne uns aus, wir aber nicht ohne ihn. Seiner zentralen Rolle für den Menschen widmen sich zwei Ausstellungen im Museum Appenzell und im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil.


Gäbe es keinen Wald, sähe das Museum Appenzell anders aus. Den Dachstock, die Treppen, die Einbauten, selbst den Grossratssaal und viele der Ausstellungsstücke gäbe es nicht. Denn sie sind aus Holz. Der Wald liefert den Rohstoff zum Bauen, zum Werken und für so vieles Andere. Mit Holz wird geheizt, geschnitzt, gedrechselt, auf Holz wird gemalt, gesessen und gegessen – und das seit langem schon. Aber Holz ist bei weitem nicht das einzige Gut des Waldes. Heute noch liefert er den Pilzfans einen Grund für ausgedehnte Streifzüge. Zu früheren Zeiten waren für die Einen Pilze, Beeren und Kräuter ein Grundbestandteil der Nahrung und für die Anderen war es das Wildbret. Von all dem und noch viel mehr erzählt die Ausstellung «Pöschelibock, Waldteufel und Laubsack» im Museum Appenzell. Den Laubsack beispielsweise kennen manche der heute über Achtzigjährigen noch als Schlafunterlage. Mit dem Pöschelibock wurde Restholz gebündelt – auch dieses war eine wichtige Wärmequelle. Der Waldteufel ist nicht etwa ein Fabelwesen, sondern ein Werkzeug zum Heben schwerer Stämme. Ihn und vieles mehr zeigt die von Kuratorin Birgit Langenegger sorgfältig zusammengestellte Schau als Exponat, anderes ist in historischen Aufnahmen zu sehen wie etwa die Rutsche, auf der die Stämme ins Tal donnerten. Spätestens hier wird deutlich, warum die ausgestellten Arbeitsstiefel so wehrhaft aussehen: Waldarbeit war oft Schwerstarbeit in unwegsamen Gelände.
Aber der Wald hat auch andere Seiten: Als er in weiten Teilen noch weg- und steglos war, galt er als verwunschener Ort. Unheimlich und gefährlich war er, finster und doch auch magisch. Damit bietet er idealen Märchenstoff. Erst im 19. Jahrhundert wird aus dem Wald der grosse Sehnsuchtsort der Romantik, bis er schliesslich von der Tourismus- und der Holzindustrie vereinnahmt wird. Auch diesen Kulturwandel klammert die Ausstellung nicht aus. So zieht im Bild «Ftan», 2012 von Hans Schweizer ein Sessellift eine Schneise durch den Wald. Harlis Schweizer hingegen lässt in ihrem Bild die Bäume bis ans Haus wachsen – oder hat sich das Gebäude in den Wald hineingefressen? Die zeitgenössischen künstlerischen Positionen bereichern die Ausstellung um wichtige Sichtweisen. Ueli Alder taucht den Wald in seinen Fotografien in aussergewöhnliches Licht: Detailscharf und pinkfarben präsentiert er sich und entzieht sich doch. Birgit Widmer übersetzt die Stille im Wald in formal reduzierte Bilder von Stämmen, Ästen und Zweigen. Marlies Pekarek ist zweien der prägendsten Märchengestalten auf der Spur: dem Wolf und dem Rotkäppchen. Eine ganze Wand füllt die St.Galler Künstlerin mit collagierten, verfremdeten historischen Illustrationen. Reine Idylle spricht aus zarten Zeichnungen der Illustratorin Käthi Bhend. Sie begeistern Kinder und Erwachsene seit Jahrzehnten. Auch Behnds grosses Vorbild Pia Roshardt ist in der Ausstellung vertreten, und ein Wald-ABC der Herisauerin Christine Gsell rundet die Ausstellung ab.
Wer dieser Waldvielfalt ein weiteres Kapitel hinzufügen möchte, sollte sich nach Rapperswil auf den Weg machen. Hier zeigt das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil «Denn in den Wäldern sind Dinge…». So schrieb es Franz Kafka an seinen Freund Max Brod im Jahr 1918 auf eine Postkarte und weiter: «… über die nachzudenken man Jahre lang im Moos liegen könnte.» So kontemplativ bleibt es in der Ausstellung nicht. Lutz & Guggisberg beispielsweise lassen es in ihren grünen Gemälden krachen. Hier ist die Welt aus den Fugen und mit der Waldidylle ist es auch nicht weit her. Allerhand merkwürdige Gestalten wuseln umher, was sie im Schilde führen, bleibt besser offen. Viviana González Méndez haben es die Gerüche des Waldes angetan. Akribisch notiert sie, wie lange es wonach duftet, und stellt den Umfang von Moderduft und Moosgeruch, von Tannenaroma und Faulgasen in Form unterschiedlich grosser Stoffflächen dar. Der Umweltforscher und Künstler Marcus Maeder überträgt die Töne einer Kiefer im Wallis in den Ausstellungssaal: Sie knackt unter dem Einfluss der Sommerhitze. Der Gang durch die Ausstellung wird zu einer Exkursion durch die Vielfalt der Kunst: So reich und vielgestaltig der Wald, so unterschiedlich die Materialien und künstlerischen Herangehensweisen: Pilze leuchten, Tiere verwesen, ein Traktor hat sich in die feuchte Erde gegraben. Es grünt, es blüht, es wächst und vergeht. Möge der Wald erhalten bleiben.

Denn in den Wäldern sind Dinge

Rapperswil — Der Wald brennt. Der Wald ist zu trocken. Der Wald stirbt. Er wird aufgeforstet. Er erholt sich und wächst. Der Wald steht unter Beobachtung. Wir brauchen ihn. Er stabilisiert das Klima, steile Hänge und wirkt sich günstig auf das menschliche Befinden aus. Er hat Kulturen geprägt und die Kunst inspiriert, denn der Wald ist für die Menschen nicht nur erholsam und nützlich, er ist auch märchenhaft und wundersam. Das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zeigt, wie dieser Themenreichtum mit formaler Vielfalt einher geht. Viviana González Méndez beispielsweise sammelt bei Streifzügen die Gerüche des Waldes ein. Akribisch notiert die in Baden und Bogota lebende Künstlerin Dauer und Art der Duftwolken und übersetzt dies in kunterbunte Textilflächen aus Gebrauchtkleidern. Marianne Engel ist dem Magischen in der Natur auf der Spur. Die Künstlerin lebt im Aargau nahe und mit dem Wald. In Rapperswil installiert sie in einer dunklen Kammer fluoreszierende Pilze, hält das Verwesen in Abgüssen und Abdrücken fest und zeigt Fotografien aus finsterer Nacht mit blitzhell ausgeleuchteten Fliegenpilzen oder knorrigen Ästen. Hier wird deutlich, warum der Wald in früheren Zeiten nicht nur positiv besetzt war, sondern als geheimnisvolle, ja gefährliche Zone galt.
Die Ausstellung in Rapperswil ist zwar eine Gruppenausstellung, setzt dabei aber auf grössere Werkgruppen der Künstlerinnen und Künstler. Dadurch können sich die Positionen besser entfalten und einen tieferen Eindruck hinterlassen. Von Monica Ursina Jäger, die sich sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch mit der Natur auseinandersetzt, sind drei Werkgruppen zu sehen und Lutz & Guggisberg zeigen neben Plastiken über dreissig grüne Gemälde. Darin explodiert, blitzt und strahlt es; Wesen wuseln, krabbeln und wundern sich; die Welt geht unter und wieder auf. Das macht Spass, auch wenn der Wald zur Nebensache gerät. Dafür wird er in ‹Mastering Bambi› des niederländischen Duos Persjin Broersen und Margit Lukács zum Hauptakteur. Sie zeigen eine digitale Version des Disney-Filmklassikers, aber ohne Bambi, Klopfer, Blume und all die anderen Tiere. Hier spielt der Wald sich selbst. Er ist physischer und fantastischer Raum. Er eignet sich für Projektionen und Reflexionen, oder wie es Franz Kafka an seinen Freund Max Brod im Jahr 1918 auf einer Postkarte schrieb: «Denn in den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man Jahre lang im Moos liegen könnte.» – was für ein passend gewähltes Motto für diese Ausstellung.

Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, bis 2.2.

kunstzeughaus.ch

Ana Lupas – Kunst unter dem Auge der Zensur

Ana Lupas gehört seit den 1960er Jahren zu den wichtigsten Künstlerinnen ihrer Generation in Osteuropa. Das Stedelijk Museum Amsterdam und das Kunstmuseum Liechtenstein widmen ihr die erste grosse Einzelausstellung. In Vaduz konzentriert sich die Schau auf wenige Werkgruppen, die dafür grossen Platz erhalten.

Vaduz — Ana Lupas entwickelte ihre künstlerische Arbeit unter herausfordernden Bedingungen. Sie wurde 1940 in Cluj-Napoca in Rumänien geboren und lebt bis heute dort. Der Staat jedoch ist seit der Rumänischen Revolution 1989 ein anderer. Bis dahin verlangte die kommunistische Diktatur, die Kunst in den Dienst ihrer Ideologie zu stellen. Unangepasstheit war verdächtig. Ana Lupas hat sich dennoch Freiräume erarbeitet. Ihr Werk ist verwandt mit der Konzeptkunst, mit neo-dadaistischen Strömungen und der Land Art. Eines ihrer bedeutendsten Werke entstand 1970 auf einer 3´000 Quadratmeter grossen Wiese in der Nähe ihres Wohnortes. Dort installierte die Künstlerin gemeinsam mit Freiwilligen ein geometrisches Raster aus Holzpfählen und spannte Seile dazwischen. Darüber wurden selbst gewebte Stoffbahnen in offenen Schlaufen gehängt. Die ‹Humid Installation› dauerte nur einen Tag und war doch ebenso monumental wie sorgfältig komponiert. Sie würdigte die Landschaft, die traditionelle, dem Verschwinden geweihte und oft den Frauen vorbehaltene Arbeit des Bleichens, Waschens und Trocknens von Tüchern. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die Aktion in historischen Aufnahmen und späteren Versionen von 1990 bis 2019. Mit jeder Variation werden die Materialien starrer: von wassergetränktem Leinen zu teergedrängten Tüchern bis zu Versionen aus Kunstharz, Metall und Ziegelsteinen. Damit verliert das Werk schrittweise seine subversive Qualität und Kraft. Die sich horizontal ausbreitende Grösse und Leichtigkeit weicht einer etwas angestrengten Künstlichkeit.
Weitere grosse Werkgruppen sind die 200 ‹Self Portraits›, 2000, für die Lupas Ausstellungsplakate mit ihrem Konterfei übermalt, die ‹Identity Shirts›, ab 1969, mit denen die Künstlerin Kleidungstücke und somit den Körper selbst in ein Bild verwandelt, oder die ‹Eyes›, 1974–1991: Augäpfel aus Porzellan mit weit aufgerissenen oder tränenden Augen, mit geklammerten oder vernähten Lidern. Platziert im ersten Saal des Obergeschosses blicken sie die Hereintretenden durchdringend an. Die Arbeit ist dem Sehsinn und den menschlichen Regungen gewidmet, lässt sich aber auch als Kommentar auf das in Rumänien omnipräsente Kontrollorgan, die Securitate, lesen. Hier zeigt sich, was für alle Arbeiten Lupas´ gilt: Sie zeugen einerseits von der besonderen Situation, in der Lupas´ ihr Werk entwickelt, und sind andererseits allgemeingültig.

‹Ana Lupas. Intimate Space – Open Gaze›, Kunstmuseum Liechtenstein, bis 16.3.
kunstmuseum.li

Ana Strika – Konstellationen in Karton

Ana Strika erarbeitet für ihre Ausstellungen grosse, begehbaren Installationen. Dafür baut die Zürcher Künstlerin im Vorfeld stets Modelle. In Friedrichshafen ist das Modell selbst zum Werk geworden: Die Künstlerin hat ein Stück aus Karton, Papier und kleinen Fundstücken arrangiert. Ein wichtiger Mitspieler ist ausserdem das Licht.

Friedrichshafen — Ana Strika (*1981) macht aus dem White Cube eine schwarze Kiste. Die Zürcher Künstlerin stellt als Stipendiatin der ZF-Kulturstiftung ihre Arbeit im Zeppelin Museum Friedrichshafen aus. Die Stiftung finanziert einen einjährigen Atelieraufenthalt und den Ausstellungsraum. Dessen Eingang liegt versteckt neben der Museumsgarderobe. Vom Foyer aus weist wenig auf ihn hin, er muss entdeckt werden. Diese Situation und die damit verbundenen Fragen hat Ana Strika als Ausgangspunkt ihrer ortsspezifischen Arbeit gewählt: Was ist ein verschachtelter Raum? Wie empfängt er die Eintretenden? Wie bewegen sie sich dort? Mit welcher Geschwindigkeit? Die fast völlige Dunkelheit des Raumes ist Teil ihres künstlerischen Konzeptes. Sie erfordert andere Bewegungen und aufmerksamere Beobachtungen. Wer sich jedoch nach einiger Zeit an die Schwärze gewöhnt hat, wird mit intensiven Raumerlebnissen belohnt. Ana Strika konstruiert eine Bühnensituation. Auf einer schwarzen Platte mit unregelmässig geschwungenem Grundriss baut sie Wände aus Kartonresten. Sie stehen zueinander in stumpfen und spitzen Winkeln, lassen kleine Gänge frei, bilden Plätze oder Sackgassen, erlauben Blicke durch unförmige Löcher. Im spärlichen, aber sehr gezielt genutzten Licht von oben zeichnen sich vielfältige Schatten ab. Manches ist in vollständiges Dunkel getaucht, anderes steht im sprichwörtlichen Rampenlicht: Zwischen den Kartonagen stehen Leitern aus Zweiglein und ein winziger Tisch, zwei Kügelchen liegen auf einem Kubus, auf einer Konsole ist die Schale einer halben Baumnuss zu sehen – kleine Dinge werden in ‹Die Vorstellung›, 2024 zu wichtigen Akteuren. Aber sie führen kein Stück auf, sondern performen ihre eigene Präsenz. Die Installation zu umrunden, gleicht dem Blättern in einem Bilderbuch: Mit jeder Bewegung öffnet sich ein neues Bild; eine neue Szene, die in ihrer Entrücktheit an die metaphysischen Bildräume de Chiricos erinnert und doch abstrakt bleibt. Damit wird das Ordnende der Sprache herausgefordert, die architektonischen Zellen zu benennen, die Behälter, Gerüste oder Türme. Dem poetischen Charakter der Installation tut dies keinen Abbruch, denn jede Beschreibung bleibt subjektiv und fragmentarisch; hier entfaltet der Titel ‹Die Vorstellung› seinen Doppelsinn: Ana Strika lässt die Dinge ihr eigenes stilles Stück aufführen und die Imaginationskraft tut ihr Übriges. Und wie im Theater ist die zentrale Erfahrung nur vor Ort möglich.

‹Ana Strika. Die Vorstellung›, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen, bis 26.1.
www.zf-kunststiftung.com

Georgia Sagri

Vaduz — Dualitäten auflösen, Grenzen niederreissen, Nationalitäten vergessen und die damit verbundenen Erwartungen, stattdessen Vergnügen empfinden bei jedem Schritt, jedem Geruch, jedem Klang – Georgia Sagri arbeitet an einer Vision. Den globalen Krisen, Spannungen und Kriegen setzt sie ein energisches Werk entgegen, das Verletzungen als Quelle für heilende Kraft interpretiert. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die 1979 in Athen geborene Künstlerin in seiner Reihe ‹Im Kontext der Sammlung› und kann dabei zurückgreifen auf die Arbeit ‹Dynamis/Soma in orgasm as sex (2017)›, 2023, die sich in der Museumssammlung befindet und Teil einer Serie für die documenta 14 war. Sie stellte Organe und Körperteile dar und umfasste zudem eine zehnteilige Atempartitur. Die Performances in Kassel und Athen haben ihre Spuren am Werk hinterlassen, die Georgia Sagri auf japanische Art geheilt hat: Mit der Kintsugi-Technik werden die Kratzer und Bruchstellen nicht kaschiert, sondern golden hervorgehoben. Das Versehrte erhält einen neuen ästhetischen und materiellen Wert und steht hier im Mittelpunkt der Ausstellung. Die Arbeit ist wie viele andere Werke der Künstlerin mit einer Performance verbunden und doch mehr als ein Requisit oder Relikt. Das gilt auch für ‹Stage of Recovery›, 2020/2024: Es ist einerseits als eigenständiges Objekt ausgestellt; andererseits verweist die hölzerne Plattform mit rot überzogenen Polstern auf das von Sagri entwickelte IASI – eine Erholungspraxis, um nach körperlich und mental anstrengenden Performances wieder zu Kraft zu kommen.
Wer im ‹Im Kontext der Sammlung› ausstellt, erhält Zugriff auf die Sammlungen des Kunstmuseums. Georgia Sangri hat sich entschieden, sechs Dauerleihgaben aus der Sammlung Veronika und Peter Monauni auszustellen. Die aus den 1950er Jahren stammenden Werke werden einzeln nacheinander für jeweils mehrere Wochen präsentiert. Jedes Werk ist mit einem Crop Mark, einem Platzhalter, markiert und von einem Text begleitet. Damit verbindet die Künstlerin die in der Kunst aufscheinenden historischen Wunden mit inneren und äusseren Konflikten. Sagris Untersuchung von Verletzungen und deren Folgen reicht bis auf die Aussenhaut des Museums: Auf der Gebäudehülle hat sie den ‹Deep Cut›, 2018 angebracht – einen anderthalb Meter langen Vinylsticker mit dem Bild eines blutenden Schnitts. Plastisch zeigt er, wie verletzlich nicht zuletzt ein Kunstort ist und wie Wunden nach Heilung rufen.

‹Georgia Sagri. Case_O Between Wars›, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, bis 9.2.
kunstmuseum.li

Malerin und Moritatensängerin

Als Maria Lassnig 2014 im Alter von 94 Jahren stirbt, ist sie eine Malerin von Weltrang. Ihre Werke sind in vielen wichtigen Sammlungen und Ausstellungen präsent. Aber auch als Medienkünstlerin war Lassnig wegweisen. Das Magazin 4 in Bregenz zeigt jetzt eine Auswahl ihrer Kurzfilme.

Maria Lassnig bringt Gemälde zum Sprechen. Die Malerin zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Doch in ihrem Animationsfilm «Art Education» lässt sie Figuren anderer Künstler zu Wort kommen. So klagt das Modell aus Vermeers berühmten Bild «Die Malkunst»: «Du behandelst mich wie ein Objekt.». Der Maler antwortet ihr unbeeindruckt: «Du bist jetzt ein Objekt.» Doch Maria Lassnig wäre nicht sie selbst, wenn sie es dabei belassen würde. Ein Rollentausch ist rasch vollzogen, der Maler wird selbst zum Modell. Auch Michelangelos berühmter Adam ist mit seiner Rolle unzufrieden und mit seiner Hautfarbe, aber Lassnig lässt Gott entgegnen, schwarz komme eben nicht vor in der Bibel.
Maria Lassnig blickte in ihrem Kurzfilm humorvoll und kritisch auf die Kunstgeschichte und deren Schieflagen. Ihre scharfsinnigen Analysen sind bis heute aktuell, aber viel zu wenig bekannt. Das will die aktuelle Ausstellung im Magazin 4 in Bregenz ändern.

Trickfilme kolorieren als Broterwerb

Zu sehen sind hier sieben der wichtigsten Filme Lassnigs und das frühe Gemälde «Informel». Es wurde 1980 durch die Stadt Bregenz angekauft. Es ist das Jahr, in dem Lassnig nach langen Aufenthalten in Paris und New York nach Wien zurückkehrt und an der Hochschule für angewandte Kunst eine Professur erhielt – als eine der ersten Künstlerinnen im deutschsprachigen Raum. Endlich konnte sie von ihrer Kunst leben. Zuvor hatte sie als Broterwerb für ein Trickfilmstudio Hintergründe koloriert. Ihre eigenen Filme sind aber keineswegs nur Nebenprodukte dieser Zeit. Sie sind eigenständige Werke und eng verwoben mit der Weltanschauung Maria Lassnigs, ihrer Malerei und ihrem Leben. «Couples» beispielsweise erzählt von Beziehungskonflikten, von körperlichen und emotionalen Spannungen, davon, wie Frauen geringgeschätzt werden, aber sich dennoch behaupten.
In ihren Filmen zeigt sich Lassnig als geübte Zeichnerin. Sie konstruiert und dekonstruiert Körper, sie erweckt Linien zum Leben und spielt mit den Sujets. Ein Stuhl wird zum Körper und wieder retour, ein Sessel beginnt zu quellen; Augen, Ohren, Nase, Mund wandern im Gesicht umher. Andere Sequenzen haben dokumentarischen Charakter wie etwa die Aufzeichnungen einer Vernissage: Menschen stehen vor Lassnigs Bildern. Sie reden und rauchen. Schaut jemand auf die Kunst? Oder hängen die Aktbilder – Zeugen einer Selbstvergewisserung und einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem gängigen Frauenbild – nur als Beiwerk angeregter Gespräche an den Wänden?

Kämpferische Künstlerin

Lassnig glaubt an die Kraft der Kunst. Eine Ausstellungseröffnung ist ein temporäres Ereignis, ihre Bilder jedoch bleiben und sind ab den 1980er Jahren in den grossen Ausstellungshäusern Europas genauso zu sehen wie an der Documenta Kassel und der Biennale Venedig.
Lassnig ist ihr Ruhm nicht zugefallen. Sie hat viel und konsequent gearbeitet und die männliche Dominanz in der Kunst ihrer Zeit nicht einfach hingenommen. Im Film «Kantate» arbeitet sie diesen ständigen Kampf um ihr Werk und die Anerkennung auf. Im Stil eines Moritatensängers erzählt sie in 14 Strophen ihr Leben. Sie spart den Ehekrieg der Eltern ebensowenig aus wie die Enttäuschungen in Beziehungen oder das postfaschistische Europa, besingt aber auch die Gemeinschaft starker Künstlerinnen in New York. Als 73jährige blickt sie in wechselnden Kostümen auf ihr Leben zurück, abgeklärt ist sie da aber noch lange nicht, sondern voller Witz und Ironie, die sie noch 22 weitere Jahre durchs Leben tragen werden.

RADAR: Der Performance Art Funds

Ein neues Förderinstrument für Konzeption, Produktion und Diffussion in der Darstellenden Kunst

Warum hat die Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung den PAF als neues Fördergefäss gegründet?
Bianca Veraguth: Die Stiftung hat drei Förderschwerpunkte: Bildung, Soziales und Kultur. In letztgenanntem unterstützen wir grosse und kleine Vorhaben beispielsweise in der Sparte Musik, aber insgesamt fehlte uns die strategische Schärfung wie das in den anderen Bereichen bereits der Fall ist. Bei Gesprächen mit Förderstellen, Stiftungen und Kulturaktiven hat sich schnell die schwierige Situation der hiesigen Freien Szene gezeigt. Wir haben uns daraufhin entschieden, eine Lücke zu füllen: die kontinuierliche und breit gefächerte Unterstützung der Freien Szene und als zweites strategisches Standbein das Kulturerbe der Ostschweiz.

Was heisst es, ein neues Fördergefäss aufzubauen?
Bianca Veraguth: Wir sind sehr offen vorgegangen und haben zunächst den Kriterien für das Gefäss und dessen finanzielle Ausstattung bestimmt. Mit Ann Katrin Cooper haben wir den Insiderblick in die Freie Szene gewinnen können. Zudem war es uns wichtig, eine externe Jury einzuberufen für eine unabhängige professionelle Beurteilung 
Ann Katrin Cooper: Ich wurde beauftragt, ein Konzept zu entwickeln, auf dieser Basis wurden in der Fördervereinbarung die wichtigsten Rahmenbedingungen festgehalten. Wir haben uns auch Flexibilität und Lernprozesse zugestanden und werden die Arbeit regelmässig überprüfen, um zu erfahren, ob die Instrumente wirklich greifen und die erhoffte Wirkung erzielen. 

Was sind die Besonderheiten dieses neuen Fördergefässes?
Bianca Veraguth: Wir haben uns entschieden, ein in sich geschlossenes, neutrales Gefäss aufzubauen. Wir wollten einen Mehrwert erzielen, indem wir die Konzeption, die Produktion, Weiterbildungen, Verstetigung und die Diffusion unterstützen.
Ann Katrin Cooper: Wichtig ist uns eine nachhaltige und substantielle Unterstützung: Wir fördern die Künstlerinnen und Künstler aufeinanderfolgend mit unterschiedlichen Förderwerkzeugen und in allen Phasen des künstlerischen Prozesses, einschliesslich der Weiterbildung. Sie wird in der Förderung oft nicht berücksichtigt. Alle Unternehmen ermöglichen Weiterbildungen, und in der Freien Szene ist es ebenfalls wichtig, sich aktuellen gesellschaftlichen und technischen Veränderungen stellen zu können. Zudem bieten wir, wo es sinnvoll ist, Beratungen an, damit das ganze Potential der unterstützen Projekte zum Tragen kommt.

Wie fördert der PAF die Diffusion?
Ann Katrin Cooper: In vielen Kantonen des Fördergebiets sind Gastspielhäuser rar. Hier nützen die nationalen Programme nichts, bei denen sich die Institutionen für Koproduktionen und Gastspiele austauschen. Wir müssen also viel früher beginnen. Vielleicht braucht es künftig eine Person, die sich insbesondere um das Diffusionsmanagement kümmert und die Förderung eines Netzwerks. In der Jury haben wir erfahrene Profis, die sich hier einbringen können.

Wie wird die Performance-Kunst definiert? Wird abgegrenzt zwischen Performancekunst und performativer Kunst?
Ann Katrin Cooper: Darüber haben wir lange diskutiert. Uns geht es weniger darum, wo das Geschehen stattfindet, ob im Ausstellungs- oder im Theaterraum, sondern dass es stattfindet. Die Performanceszene in der Ostschweiz ist sehr klein im Vergleich zur Westschweiz, deshalb zieht der PAF nicht von vornherein scharfe Grenzen. Wir wollen ermöglichen! 
Bianca Veraguth: Qualitative Kriterien und inhaltliche Freiheit sind uns wichtiger als Sparten.

Bianca Veraguth, MAS Cultural Management und MAS Communication Management & Leadership, arbeitet als Geschäftsführerin der Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung und war für zahlreiche Kulturinstitutionen wie -förderer tätig.

Ann Katrin Cooper, MA Angewandte Kulturwissenschaften, ist Kulturvermittlerin, künstlerische Leiterin des Panorama Dance Theaters, Gründerin des POOL – Raum für Kultur, Geschäftsführerin des PAF und Beraterin von Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, Rubrik RADAR, No. 50 | 2024/3