Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Was Sie schon immer über den Kunstbetrieb wissen wollten

Kunst und Kommerz, Kunst und Kopie, Kunst und neue Medien – Ansätze für theoretische Auseinandersetzungen gibt es viele. Aber selten werden sie so schwungvoll in die Praxis übersetzt wie in der aktuellen Ausstellung der Kunst Halle Sankt Gallen.

St.Gallen — Bunt, unterhaltsam, fotogen – die in der Kunst Halle Sankt Gallen ausgestellten Werke machen Spass, sehen gut aus oder beides. Basketbälle liegen griffbereit am Boden. Plüschtiere grinsen in den Raum. Ein paar Meter weiter fährt ein Zombie auf der Harley vor. Spiegelwände vervielfachen raumhohe Bilderlebnisse und Mona Lisa leuchtet sanft vor sich hin. Die Kunst ist vergnüglich, bietet leichte Einstiege; anspruchslos ist sie allerdings nicht. Der Künstler Cory Arcangel hat gemeinsam mit Kunsthallendirektor Giovanni Carmine eine Ausstellung kuratiert, die in drei Räumen fast alles über Kunstrezeption erzählt, was sich zu erzählen lohnt. Wer sich beispielsweise in eines der drei bequemen Sofas fallen lässt, erhält in Videos von Jason Musson gemeinsam mit dem Plüschhasen Ollie einen Crashkurs in angewandter Kunstgeschichte: Eignet sich Kunst zur Selbstinszenierung? Unbedingt! Lässt sich Genialität erlernen? Mach es wie Picasso! In einem von karikierten Kunstwerken geschmückten Fernsehstudio tritt der spanische Meister gleich selbst auf und verrät seine Strategien. Solche braucht es auch dann, wenn der Markt die Kunst zu vereinnahmen droht. Barbara Kruger wehrt sich mit ‹Don´t Be a Jerk›, 2017. Sie reagiert auf die Übernahme ihrer Lettern durch eine Skatermarke, in dem sie im Gegenzug Skateboards in Kunstwerke transformiert. Das Kunstkollektiv Bernadette Corporation wiederum spielt mit den Logiken von Werbung, Ware und Wirtschaft, wenn es violett schimmernde Basketbälle mit transformierten Logos produzieren lässt. Auch die Digitalisierung der Kunst und deren massenhafte mediale Aneignung und Verbreitung werden thematisiert. So streamt beispielsweise Emily Sunblad das Datenblatt zu einem ihrer Werke aus dem Kunsthaus Zürich in die Kunst Halle Sankt Gallen: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist nicht mehr an einen Ort gebunden. Und es kann darüber hinaus aufgeblasen, in Bewegtbild und in Kulissen zur Selbstdarstellung übersetzt werden. Cory Arcangel persifliert im letzten Raum der Ausstellung mit ‹All I EAT IN A DAY›, 2024 den Trend zu immersiven Ausstellungen: gross, grösser, riesig, aber basierend auf Reproduktionen. In diesem Falle ist ein klassischer Picasso-Katalog in ein Spiegelspektakel verwandelt. Das funktioniert: Prompt werden die Mobiltelefone gezückt und die Kameras aktiviert. Diese Ausstellung liefert nicht einfach Theorien, sondern Beispiele, Erlebnisse und humorvolle Kritik.

All I Eat IN A DAY, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 1. Dezember 2024
k9000.ch

Marcel van Eeden — Investigative Kunst

Das Kunst Museum Winterthur wird zum Auftraggeber für Kunst: Marcel van Eeden hat für die Villa Flora eine Zeichnungs- und Fotoserie erarbeitet. Er widmet sein künstlerisches Interesse der früheren Hausherrin Hedy Hahnloser. Van Eedens Projekte basieren auf gründlichen Recherchen und vielfältigen Bildquellen. Er fügt historische Zeitungsausschnitte, Postkarten, Magazine, Werbematerialien und Fotos zu Bilderzählungen. Sie sind stets vor dem Jahr 1965 angesiedelt, dem Geburtsjahr des Künstlers, und liefern dichte Porträts aus der zeit des frühen 20. Jahrhunderts.

Wer die Ausstellungsräume der vor kurzem wieder eröffneten Villa Flora betritt, wird von einem heiteren Porträt ebendieser Villa begrüsst. Henri Charles Manguin hat es 1912 gemalt. Er bettet das Haus hat das Haus von Hedy und Arthur Hahnloser ins dunkelgrüne Laub der Bäume, zwischen Blumenrabatten und einer Pergola. Freundlich weiss leuchtet die Fassade unterm orangeroten Dach. Die Gegenthese zu dieser Idylle findet sich ein Stockwerk darüber. Dort zeigt Marcel van Eeden derzeit eine andere Sicht auf ‹Die Villa› – so der Titel seiner Arbeit für das Winterthurer Museum. Das erste Blatt der Serie stimmt ein auf alle folgenden: Die Buntfarben fehlen, ebenso die Bäume und der Garten. Scharf hebt sich das Weiss der Fassade vom Schwarz der Fensteröffnungen ab. Auch die Veranda liegt vollständig im Dunklen. Düster und abweisend präsentiert sich das Wohngebäude, bezeichnet ist es im Stil der Stummfilmzeit mit der Texteinblendung «The Villa». Und wie in einem Film beginnt mit diesem Bild eine Erzählung. Sie führt ins frühe 20. Jahrhundert zurück, springt ins Jahr 1958 und wieder zurück.

Bilder und Texte aus der Vergangenheit

Keines der Werke von Marcel van Eeden spielt nach 1965, dem Jahr seiner Geburt. Es gehört zur konzeptuellen Auseinandersetzung des Künstlers mit Geschichte, die Vergangenheit aus der Gegenwart zu betrachten – eine Vergangenheit, in der er selbst noch nicht auf der Welt und also ins Geschehen nicht involviert war. Aus dieser Distanz beobachtet er die Geschichtsschreibung, registriert Konstrukte und legt sie dar, fügt hinzu und hebt heraus. Für das Winterthurer Projekt stellt er Hedy Hahnloser in den Mittelpunkt seiner Arbeit: «Ich habe das Buch über Hedy Hahnloser gelesen und nach Haken und scharfen Kanten in der Geschichte gesucht. Irritierend ist beispielsweise das Verhältnis von Hedy Hahnloser zu ihrem Vertrauensarzt Heinrich Zangger. Ich habe die These entworfen, dass sich Rainer Maria Rilke, Hahnloser, Zangger und Albert Einstein getroffen haben.» Es ist belegt, dass Rilke in Winterthur gelesen hat: «Ein voller Raum mit vielen Leuten ist also sehr wahrscheinlich.» Der Schriftsteller sprach 1919 im Casinotheater über Cézanne. Marcel van Eeden lässt ihn jedoch über die Sphinx sprechen und verwendet dafür Textstücke aus den ‹Duineser Eelgien›: «Alle Texte der Serie sind Zitate, die ich zusammen gefügt habe zu einer Geschichte. Ich verwende stets existierende Quellen.» Hier gilt das gleiche Prinzip wie bei den Bildquellen: «Die Texte sind nie jünger als ich und nie von mir selbst.»

Im Strom der Zeit bleiben

Er fügt kurze Fragmente aus profanen Quellen zu neuen Texten zusammen, zitiert Tagebucheinträge, Briefe und Lyrik. So sind in ‹Die Villa› zwei Strophen aus Else Lasker-Schülers Gedicht ‹Die Sphinx› zu lesen im Rahmen eines Textes, der sonst Petrarca zitiert. Marcel van Eeden ist es einerseits wichtig, Frauen zu Wort kommen zu lassen, andererseits wird mit der expressionistischen Literatin ein weiterer Bezug zur Moderne gesetzt – zu jenen künstlerischen Kreisen, in denen das Ehepaar Hahnloser verkehrte. Was heute als Klassische Moderne bezeichnet wird, war damals dezidiert zeitgenössisch und genau aus diesem Grund interessant für Hedy Hahnloser. Ihre Kunstsammlung ist in der Auseinandersetzung künstlerischen Strömungen ihrer Zeit entstanden. Daran knüpft das Kunst Museum Winterthur mit der aktuellen Ausstellung in der Villa Flora an: Um das Haus und die Sammlung lebendig zu halten, sollen regelmässig Künstlerinnen und Künstler eingeladen werden, ihre aktuelle Sicht auf den Ort zu zeigen und ihn so mit der heutigen Zeit zu verbinden. Marcel van Eeden ist der erste in dieser Reihe. Thematisch hatte er völlig freie Hand und merkte schnell, wie gut sich die Auseinandersetzung in seine künstlerische Arbeit fügt.
Anlässlich der Verleihung des Hans-Thoma-Preises 2023, der seit van Eedens künstlerischen Rechercheergebnissen in Landespreis für Bildende Kunst Baden-Württemberg umbenannt ist, deckte der Künstler die engen Verbindungen zwischen dem Maler und dem antisemitischen Kulturkritiker August Julius Langbehn auf: «Ich bin auf die Freundschaft zwischen Hans Thoma und Julius Langbehn gestossen. Daraus ergab sich für meine Arbeit das Thema des Nationalsozialismus. Daran schliesst die Winterthurer Arbeit an, weil Heinrich Zangger wieder vorkommt.» Heinrich Zangger war ein Schweizer Gerichtsmediziner und setzte sich für Arbeitssicherheit, Katastrophen- und Umweltschutz ein. Van Eeden benennt jedoch auch dessen andere, oft negierte Seite: Zangger pflegte Beziehungen zu NS-Ärzten und gehörte zu den Mitbegründern der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission in Berlin, die später Teil der Gestapo wurde. Und er hatte Verbindungen zu Winterthur: «Heinrich Zangger war in gewisser Weise der Dealer für Hedy Hahnloser. Sie hat immer nach Heilung gesucht und er hat ihr Schmerz- und Schlafmittel verschrieben.» In van Eedens Serie ist unter anderem ein Porträt Zanggers wiedergegeben, ein Brief Einsteins an Zangger und ein Zitat aus Zanggers Schriften zur Rassentheorie. Aber Hedy Hahnloser schafft es schliesslich, sich von ihrem Hausarzt zu distanzieren. Dies verknüpft Marcel van Eeden mit Hedy Hahnlosers Reise nach Ägypten: Inspiriert von Rilkes Worten und begleitet von der letzten Strophe von Else Lasker-Schülers Gedicht, macht sich die Winterthurer Kunstsammlerin auf, um die Sphinx zu sehen. Zuvor haben viele andere Personen kurze Auftritte in der 46-teiligen Serie.

Eine fiktive Rahmenhandlung

Es entfaltet sich ein dichtes Gewebe aus Orten, Gedanken, Begegnungen. Alles ist eingebettet in Marcel van Eedens charakteristische Bildsprache. Der Künstler zeichnet mit Negrostift, einer Mischung aus Kohle und Bleistift. Die Linien sind weich, Schattierungen mildern selbst starke Kontraste. Die mit vielen Graunuancen durchsetzte Schwarz-Weiss-Ästhetik passt zu den historischen Quellen und gleicht oft derjenigen der frühen Fotografie. Damit gehen die Zeichnungen und Fotografien in der Serie eine perfekte Symbiose ein: Marcel van Eeden arbeitet seit einiger Zeit mit dem Gummidruckverfahren aus der Frühzeit der Fotografie: «Ich benutze für meine Fotografien die alte Technik, weil ich sie zu Hause selbst anwenden kann. Ich will alles mit eigenen Händen machen.» Fotografiert hat der Künstler selbst im Umfeld der Villa Flora, siedelt die Fotografien jedoch in einer Rahmenhandlung im Jahr 1958 an: Er lässt eine unbestimmte Person zur Geschichte der Hahnlosers recherchieren.
Die Fotografien sind innerhalb der vier Räume umfassenden Ausstellung in einem Raum zusammengefasst, aber inhaltlich und motivisch verschränkt sich die Bilderzählung immer wieder. Und sie wird auch in situ mit der Villa Flora und der Sammlung verbunden: Perfekt fügen sich die Blätter in den kleinräumigen Wohnteil des Hauses mit seinem Täfer, den Wandschränken, den Holzjalousien. Und nahe einer der Sphinx-Zeichnungen ist das ‹Ritratto di Madame Hahnloser›, 1944 von Marino Marini platziert. Mehrmals wiederum taucht Hedy Hahnloser auch in den Zeichnungen van Eedens auf – unter anderem neben einer Sphinx.
Immer wieder wurde die grosse Sammlerin selbst zum künstlerischen Sujet. Mit van Eedens sorgfältig recherchierter Bilderzählung wird sie in ihrem Haus als eigenständige Persönlichkeit mit vielfältigen Interessen und einem reich verzweigten Bekanntenkreis und gewürdigt.

→ ‹Marcel van Eeden – Die Villa›, Villa Flora, Kunst Museum Winterthur, bis 5.1.2025
↗ kmw.ch

Ein sympathischer Koloss aus Blech

Einst eine Sensation, anschliessend nahezu vergessen: Der Teufener Maschinenmensch «Sabor». Das Zeughaus Teufen widmet der einstigen Weltneuheit eine Ausstellung. Mit dem Begleitprogramm schlägt sie eine Brücke zu den brennenden Fragen unserer Zeit: Künstliche Intelligenz, Robotik und die Zukunft menschlicher Schaffenskraft.

An der Landesausstellung 1939 in Zürich, an der Weltausstellung 1958 in Brüssel, in London, Haifa, Hamburg und New York – überall war «Sabor» unterwegs. Nur in Teufen war er nie ausgestellt. Ausgerechnet Teufen. Von hier stammt der blecherne Riese. Hier hat ihn August Huber im Jahr 1923 als zwölfjähriger Bub erdacht, konstruiert und gebaut. Anfangs noch aus Holz, aber bereits ferngesteuert. Die zweite Version, sieben Jahre später, hatte schon eine Metallhaut, konnte einen Tambour und eine Trommel schlagen. Gesteuert wurde sie von einer Fotozelle. Es folgte «Sabor III», aus drei wurde vier aus vier wurde «Sabor V»: Der Maschinenmensch aus Teufen. 2,37 Meter misst er. 270 Kilogramm ist er schwer. 500 Meter Kabel trägt er in seinem Bauch.

Beweglicher Riese

Seit Jahren steht «Sabor» in der Technikausstellung des Primeo Energie Kosmos in Münchenstein. Von dort kehrt er nun für ein Vierteljahr nach Teufen zurück und präsentiert sich in seiner ganzen Grösse: Zwei Antennen ragen rechts und links aus seinem Kopf. Darunter der Hals und ein breiter Brustkorb. Kniee hat er nicht, dafür tragen ihn riesige Schuhe. Damit konnte sich «Sabor» ferngesteuert vorwärts bewegen. Er konnte seine Arme heben und senken, Feuer geben und Blumen überreichen. Wo er auftrat, wurde er bestaunt – und von den ganz Kleinen auch gefürchtet. Inzwischen ist er nicht mehr funktionstüchtig, aber eindrucksvoll ist er nach wie vor. Ein Besuch lohnt sich, auch weil die Ausstellung im Zeughaus Teufen weit mehr als eine Maschine präsentiert.
Lilia und David Glanzmann, das Leitungsduo des Zeughauses, haben sich auf die Spuren des Originals gemacht, sind den Entwicklungsschritten nachgegangen, haben sich durch Archive gegraben, nach Zeitzeugen gesucht, Korrespondenz durchforstet und viele Bilder und Geschichten entdeckt. Das Material ist in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten wird «Sabor» in seiner Zeit verortet und zugleich der Frage nachgegangen: Warum kam ausgerechnet ein Junge im Appenzellerland auf die Idee, einen Roboter zu bauen? Sogar einige Jahr bevor in Fritz Langs Film «Metropolis» der menschenähnliche Roboter Maria auftrat und eine breite Öffentlichkeit in die Kinos lockte.

Technikspezialisten in Ausserrhoden

Die Faszination und das Wissen für Automatisierung im Appenzellerland könnte mit der Verbreitung der Web- und Stickereimaschinen zusammenhängen. So stammt August Huber aus einer Webereifamilie, besass technische Kenntnisse und übersetzte sie kreativ andere Form. Ein weiteres Beispiel für technisches Spezialwissen liefert der 1810 in Herisau geborene Johann Bartholome Rechsteiner. Er arbeitete in Deutschland für ein fahrendes Automatenmuseum und reparierte deren empfindliche Apparate. Und Johann Heinrich Krüsi aus Heiden, ausgewandert nach Amerika, arbeitete als rechte Hand des Erfinders Thomas Alva Edison und konstruierte 1870 die erste Sprechmaschine, den Vorläufer des Grammophons. «Sabor»-Erfinder August Huber war also nicht der einzige, er steht aber im Mittelpunkt der Ausstellung, ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Der dritte Teil der Ausstellung befasst sich mit den Entwicklern und Steuermännern «Sabors» – Frauen waren keine darunter. Denn «Sabor» konnte nicht autonom handeln wie etwa HAL 9000 aus Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey». Wenn der Teufener Maschinenmensch beispielsweise sprach, kamen die Worte aus der Zentrale, die zuvor die Fragen via Mikrofon empfangen hatte. Ständig wurde «Sabor» weiterentwickelt, zuletzt erhielt er einen Astronautenhut und einen weissen Anstrich.

Von Hula-Hoop zu ChatGPT

«Sabors» Geschwister werden im vierten Kapitel der Schau vorgestellt: Vom Pagen Kilian, dem «Hula-Hoop-Gritli», der «Jonglier-Susanne» und dem «Strick-Lineli» gibt es allerdings nur noch Fotografien – dafür aber sehr schöne. So sind auch die Reisen mehr als nur dokumentiert. Ihnen ist das fünfte Kapitel der Ausstellung gewidmet. Sehenswerte Bildstrecken zeigen, wie «Sabor» das Publikum faszinierte. Viele der Fotografien sind Originalprints, teilweise waren sie noch nie ausgedruckt. Somit ist die Ausstellung eine Entdeckungsreise durch umfangreiches und viel bisher unveröffentlichtes Material. Der Rechercheaufwand war immens und noch immer gibt es ungelöste Rätsel: Wer beispielsweise hat «Sabors» Kopf aus Kupfer gefertigt? Ist die Ähnlichkeit mit den Kostümen an der Metal Party 1929 am Bauhaus in Dessau zufällig? Und wer von der Geschichte aus nach vorn blicken will, kann das ebenfalls im Zeughaus Teufen tun. Das Rahmenprogramm verbindet «Sabor» mit Künstlicher Intelligenz und bietet Anlässe zu Robotik und Roboterethik.

Zeughaus Teufen, bis 9. Februar 2025

Geschöpft, gedruckt, gebunden

Gut Gestaltetes aus Papier, auf Papier und zwischen zwei Buchdeckeln ist im November wieder in Frauenfeld versammelt: Die 16. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse ist wieder in der Shedhalle im Eisenwerk zu Gast.

Abgesänge auf das gedruckte Wort gab es in den letzten Jahren einige. Doch es hält sich, in mehrfacher Hinsicht: Was zwischen zwei Buchdeckeln gebunden ist, überdauert die Zeiten anders und wahrscheinlich besser als alle Digitalisate. Nicht nur Bibliotheken sammeln nach wie vor Bücher. Auch am Bahnhof, im Zug, im Café sind wieder mehr junge Menschen mit gedruckten Büchern zu sehen. Suchen sie das Bleibende? Das Haptische? Das Schöne? Der Trend jedenfalls wird dem Einflussbereich der neuen Medien zugeschrieben. Was dort angepriesen wird, bekommt Likes und Follower. So erreicht nun sogar ein Urgestein von Antiquar wie Klaus Willbrand die jungen Menschen. Massenhaft. Aber auch dauerhaft? Vielleicht. Vielleicht existiert der Buchdruck aber auch nur in der Nische weiter. Die zu besuchen lohnt sich allerdings – für Profis und für Laien und im November wieder in Frauenfeld.
Für Profis und Laien
In Frauenfeld treffen sich im zweijährigen Rhythmus Druckkünstlerinnen, Gestalter, Grafikerinnen, Buchhersteller, Verlage aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein und Frankreich an der HPM. Als Handpressenmesse wurde sie vor über 30 Jahren vom Schriftsteller, Verleger und Druckkünstler Beat Brechbühl als Ausstellungs- und Verkaufsmesse gegründet. Das Kürzel HPM hat sie behalten, mit ihm hat sie sich etabliert und ihr Publikum gewonnen.
Als Frauenfelder Buch- und Druckkunst-Messe gibt es sie weiterhin und in gewohnt hoher Qualität und stimmiger Atmosphäre: In der Shedhalle im Eisenwerk trifft die Aura des einstigen Industrieorts auf die kreative Produktion von heute. Früher wurde hier schwere körperliche Arbeit verrichtet, jetzt rascheln die Seiten und die Blätter. Aber schwere Maschinen gibt es immer noch. Eigens für die HPM werden Druckmaschinen und Pressen nach Frauenfeld gebracht. Damit kann vor Ort gedruckt werden. Wie in jedem Jahr gibt es Mit- und Selbermachangebote für Gross und Klein. Die Ausstellerinnen und Aussteller vermitteln die Freude an ihrem Handwerk gern weiter. Sie haben eine Letternschatzsuche organisiert, bieten Origami und Siebdruck an, Kalligraphie, Goldprägung oder Zeilenguss.
Das Beste aus der digitalen und der analogen Welt
Wie in jedem Jahr gibt es auch heuer einen Ehrengast an der Messe. In diesem Jahr ist das Dafi Kühne. Der 1982 in Glarus geborene Plakatgestalter und Buchdrucker wurde bereits vielfach national und international ausgezeichnet. Seine vielbeachteten Plakate sind stark von der Typographie geprägt: Statt mit Bildern arbeitet Kühne mit Schriften. Die Information übermitteln dabei nicht allein die Worte, sondern die Art der Buchstaben, ihre Ordnung, ihre Gestalt, Ausbreitung oder Überlagerung. Das Analoge und das Digitale schliessen sich bei Kühne nicht aus, im Gegenteil, wie er in einem Interview mit Claudia Demel anlässlich der HPM schildert: «Analoge und digitale Werkzeuge sind für mich grundsätzlich gleichwertig. Egal in welcher Form, ich verstehe die Arbeitsmittel als Verlängerung meiner Hände und Übersetzungswerkzeuge meiner Ideen. Ob digital oder analog, jedes Werkzeug verlangt spezifische Fertigkeiten und Erfahrungswerte.» Je nach Aufgabe entscheidet sich Dafi Kühne für analoge oder digitale Mittel oder kombiniert beides. In seinem Atelier in Näfels produziert er die Plakate oft in mehr als 10 Druckdurchgängen, und das bei Auflagen zwischen 200 und 800 Stück. Rund 40 Tonnen Werkzeuge und Material hat er dafür angesammelt, darunter sechs Druckmaschinen, einen Pantografen, um Holzschriften anzufertigen, einen Lasercutter, um Druckplatten zu gravieren, mehr als zwei Dutzend vollständige verschiedene Handsatzschriften und viele, viele Kleinwerkzeuge. An der Messe in Frauenfeld wird Dafi Kühne seine Arbeiten und die ihnen zugrundliegenden Prozesse auf einem grossen Tisch im Foyer präsentieren. Er zeigt, wie sich handwerkliche Tradition und digitale Medien aufs Beste verbinden lassen.

  1. – 17. November, www.buch-und-druckkunst-messe.ch

Tropfen, Klopfen, Wispern

Tarek Atoui ist Komponist und Künstler. Er konstruiert Klanglandschaften für Auge und Ohr. Im Kunsthaus Bregenz sind seine von Wind und Wasser inspirierten Werke zu sehen und zu hören.

Klänge sind Bewegungen. Die Luft fliesst, zirkuliert, wird durch enge Röhren oder zwischen schwingende Scheiben gepresst. Töne entstehen. Sie sind zu hören, aber auch zu sehen und zu spüren. Tarek Atoui ist beides wichtig. Der Pariser Künstler mit libanesischen Wurzeln inszeniert Musik nicht nur als Hörerlebnis, sondern als Klanglandschaft. In seiner Ausstellung im Kunsthaus Bregenz sind Töne zu sehen, Instrumente zu fühlen und das Zusammenspiel aller Sinne zu erfahren. Atoui verwandelt die drei Obergeschosse des Kunsthauses in Resonanzräume zu verschiedenen Themen. Der erste Stock ist dem Wind gewidmet, er ist mit «Andauernder Atem» überschrieben. Gebläse erzeugen einen Luftstrom, er wird über Schläuche zu einem zentralen Holzkasten geführt: Darin verbirgt sich eine Luftblase, sie hebt und senkt sich unter kleinen Steinquadern. Von hier aus verteilt sich die Luft zu unterschiedlichen Instrumenten. Der Künstler hat sie alle selbst gebaut. Sie bestehen aus Metallröhren und -ventilen, Holzkästen und Latexmembranen, Hantelgewichten oder Trommelfellen. Alle Elemente sind zu sehen, alles kann nachgebaut werden.

Arbeiten im Kollektiv

Die Einfachheit der Mittel und des Aufbaus sind ein künstlerisches Prinzip von Atoui genauso wie die demokratische Entstehungsweise: Seine Arbeit entwickelt er gemeinsam mit anderen Künstlern, mit Instrumentenbauerinnen, Studenten und Designerinnen, mit Tontechnikerinnen und Pädagogen, mit gehörlosen und hörenden Freiwilligen. Viele Menschen wirken mit und viele Menschen sollen angesprochen werden. Die «Wind Houses» beispielsweise richten sich an Hörende und Gehörlose gleichermassen. Diese Boxen aus Glas und Holz sind begehbare Orgelpfeifen. Ihr Frequenzbereich liegt am unteren Ende des Hörbereichs, die Klangvibrationen sind mit dem Körper zu spüren, dringen durch die bereit gestellten Filzpantoffeln durch die Fusssohlen. Die Boxen können dank beweglicher Holzbretter instrumentengleich gespielt werden. Leider nicht durch die Besucherinnen und Besucher. Aufführungen gibt es nur im Rahmen von Führungen und Performances. Reiche Klangerlebnisse bietet die Ausstellung trotzdem, auch im zweiten Obergeschoss. Es ist dem Wasser gewidmet.

Klänge aus grossen Hafenstädten

Tarek Atoui hat Geräusche und Gegenstände in verschiedenen Hafenstädten der Welt gesammelt. So laden Steine aus Athen und Stahlträger aus Abu Dhabi zum Sitzen ein, Holztürme sind von Porto inspiriert und hängende Plattformen von Sydney. Orte und Klänge mischen sich im Raum. Die Töne sind nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, wenn etwa Tropfen auf eine Wasseroberfläche treffen und dort kleine Ringe und Blasen entstehen lassen. Hydrophone nehmen die Klänge in den wassergefüllten Metall- und Keramikbecken auf und tragen sie in den Raum. Aufmerksames Zuhören wird belohnt, mit jedem Schritt verändert sich das Klanggefüge.
Das dritte Obergeschoss der Ausstellung ist dem Regen gewidmet, er kam allerdings erst mit Hindernissen in der Ausstellung an: Die Elemente der Installation waren unterwegs im Zoll stecken geblieben, so tönten zur Ausstellungseröffnung stellvertretend die «Horns of Putin»: Schwarze Kunststoffröhren füllten den Raum mit langanhaltenden Tönen. Welch ein Kontrast zu den koreanisch inspirierten Klängen von «The Rain». Rhythmisch, flüchtig, leicht fügen sie sich mit dem Wind und dem Wasser der anderen beiden Stockwerke zu einem grossen Klangbild im Kunsthaus Bregenz.

bis 12.1.
www.kunsthaus-bregenz.at

Jay Chung und Q Takeki Maeda/John Miller

Glarus – Pyramiden sind mathematische Körper oder bauliche Zeugen alter Kulturen. Sie sind entweder variabel aus Linien konstruiert oder stehen, fest aus Steinen gefügt, im Zentrum von Vermutungen, Untersuchungen und Spekulationen. Was gilt? Es kommt drauf an. Jay Chung und Q Takeki Maeda interessieren sich für solche Konstruktionen, Interpretationen und Aneignungen. Ihrer Ausstellung im Kunsthaus Glarus legen sie ein Werk zugrunde, das selbst als Spielfeld taugt zwischen Faktischem und Mehrdeutigkeit: ‹GNOMONS 髀› bezieht sich auf einen der ältesten chinesischen, mathematischen Texte, bekannt als ‹Die Neun Kapitel der Rechenkunst›. Die Wurzeln dieses Handbuchs reichen bis ins erste vorchristliche Jahrtausend zurück. Die darin enthaltenen 246 Texte aus den Anwendungsgebieten Bautechnik, Landwirtschaft und Handel sind nicht nur Rechenaufgaben, sondern lassen Rückschlüsse zu über das Zusammenleben im antiken China. Jay Chung und Q Takeki Maeda übersetzen ausgewählte dieser mathematischen Problemstellungen in ein komplexes System aus Zeichnungen, Objekten und Fotografien. So stehen gebündelte Aluminiumstangen für die Geschwindigkeit, die Einzelteile eines Pfeiles herzustellen. Kleine, paarig angeordnete Polyeder aus Quarzsand veranschaulichen den Wechselkurs zwischen zwei Gütern. Fotografien brachliegender Felder verweisen darauf, wie eine Fläche berechnet werden kann aus dem zu Fuss abgeschrittenen Umfang. Alle sorgfältig platzierten Elemente sind gleichwertig und passen in ihrer unaufdringlichen Präzision zur klaren, filigranen Architektur des Kunsthaus Glarus. Das ihnen zugrundeliegende Geflecht an Assoziationen erschliesst sich zwar schwerlich auf den ersten Blick, hat aber dafür das Potential umso länger nachzuwirken. Dagegen bietet die parallele Ausstellung von John Miller einen schnelleren Zugang. In seinen Bildern überblendet der Künstler urbane Motive mit ungegenständlichem Gestus und entwirft einen amerikanischen Typus heroischer Landschaftsmalerei. Im Video ‹Maybe Next Time›, 2024 fasst er heutige Dilemmata zusammen: Verlorene Mobiltelefone, kranke Haustiere, drückende Deadlines, Unwohlsein – Satz für Satz formiert sich vor grauer Stadtkulisse. Die Entschuldigungen, Ausflüchte und Malaisen spiegeln ein bekanntes, aktuelles Lebensgefühl. Damit gibt es eine Klammer zwischen den voneinander unabhängigen Ausstellungen: In beiden scheinen Realitäten des Zusammenlebens auf – mal die des antiken China, mal die Hier und Heute. KS

Jay Chung und Q Takeki Maeda, ‹GNOMONS 髀›, bis 24.11.
John Miller, ‹The Ruin of Exchange›, bis 24.11.

kunsthausglarus.ch

Auf neuen Pfaden durch Appenzellische Traditionen

Vanessá Heer lebt seit Februar als Stipendiatin der Dr. René und Renia Schlesinger Stiftung im Atelierhaus Birli im ausserrhodischen Wald. In ihrer aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle Wil unterwandert sie einen alten Brauch des Appenzellerlandes mit neuen Gesten, Gesängen und Beteiligungen.

Wil — Zöpfe sind hübsch. Zöpfe sind praktisch. Zöpfe sind ein Politikum. Immer wieder in der Weltgeschichte wurden sie verordnet oder verboten. Heute tauchen sie in Parlamentsdebatten vor allen als alte Zöpfe auf, die abgeschnitten werden sollen: Mit der Redewendung wird die Abkehr von überholten Einrichtungen oder Bräuchen gefordert. Vanessà Heer (*1989) will alte Bräuche nicht gleich abschaffen. Aber sie will sie öffnen für zeitgemässe Sichtweisen und neue Beteiligungen. Die in der Ostschweiz aufgewachsene Zürcherin widmet sich insbesondere dem Silvesterchlausen im Appenzellerland. Die Tradition dieses Brauches ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert schriftlich verbürgt. Damals zogen verkleidete Gruppen am Nikolaustag polternd und scheppernd durch das Land. Seither hat sich der Brauch mehrfach gewandelt. Was geblieben ist: Er gilt als ausgesprochene Männerangelegenheit, so ist es auch in den Ausführungen in der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz festgehalten. Muss das so sein? Muss das so bleiben? War das wirklich immer so? Lustvoll unterwandert Vanessá Heer ungeschriebene Gesetze. Sie hat einen Schuppel – appenzellisch für Gruppe – gegründet und ist damit zu fünft durch den Alpstein gezogen. Gemeinsam wurden Verkleidungen entworfen, Choreografien und Kompositionen entwickelt. Heer ist von Naturtönen und -klängen fasziniert und hat mit der Gruppe neue Gesänge ausprobiert. Zugleich setzte sich der Schuppel in Gesprächen mit dem Brauchtum auseinander und erinnerte sich an den Kampf um das Frauenstimmrecht, in dem der Ostschweizer Künstler H.R. Fricker (1947–2023) eine besondere Rolle spielte. All das ist in einem Video festgehalten. In der Kunsthalle Wil wird es auf eine grosse Leinwand projiziert. Damit steht es im räumlichen Zentrum der Ausstellung, zugleich ist es gleichberechtigter Teil einer raumgreifenden Installation: Zöpfe aus Flachs, Hanf, Sisal, Wolle oder Haaren liegen auf dem Boden der Kunsthalle, hängen über den Stahlträgern des Obergeschosses, schlängeln sich auf dessen Brüstung und entlang des Geländers. Sie winden sich aus dem Fenster heraus und wieder hinein in den Ausstellungsraum. Sie sind mehrere Meter lang oder kurz und buschig, mit eingeflochtenen Gräsern, Blüten oder Zweigen. Sie stehen für die Kulturgeschichte des Zopfes einerseits und für das starke, gut miteinander verbundene, sichtbare und keineswegs ausschliesslich männliche Kollektiv. 

«Vanessà Heer – Vo Schand und Schuppel», Kunsthalle Wil, bis 6. Oktober
kunsthallewil.ch

Weisse Wannen, stilles Wasser: Der Basler Künstler Max Leiß zeigt in der Kunsthalle Arbon den Bodensee als Ort der Arbeit und der Freizeit

Max Leiß erweist dem Bodensee Reverenz. Für seine Recherchen ist er mit dem Kanu während einer Woche dem Ufer entlanggefahren. Der in der Schweiz und in Frankreich lebende Künstler verwandelt die Kunsthalle Arbon in ein «Seestück».

Campingplätze, Badis, Museen, Jachthäfen, Velowege ­­­­– das Bodenseeufer wird durch Freizeitangebote geprägt. Zugleich steht es für Arbeits- und Werkplätze. Es bietet kleinen und grossen Unternehmen Platz und ist durchzogen von Wirtschaftswegen. Beides gehört gleichermassen zum Bodensee und beides wird von Max Leiß in seiner Schau «Seestück» in der Kunsthalle Arbon verwoben.

Bereits das Gebäude der Kunsthalle trägt beide Welten in sich. Einst diente es als Fabrikations- und Lagerhalle. Heute ist es ein Kulturort mit Ausstellungen, die sich immer wieder mit der Industriegeschichte des Hauses auseinandersetzen. Auch Max Leiß hat sich von der Vergangenheit inspirieren lassen, als die Firma Schädler in der Halle noch Schubkarren produzierte und lagerte.

Schubkarren als Scharnier zwischen Natur und Kultur

Der in Basel und Marseille lebende Künstler hat gebrauchte Karetten zusammengetragen, die Räder und Holme demontiert und die verbleibenden Teile weiss gestrichen. In verschiedenen Positionen – aufrecht, gekippt, verkehrt herum – sind sie auf dem schrundigen Boden der Halle platziert. Manche der Wannen sind mit Wasser gefüllt. Sie muten wie kleine künstliche Teiche an und stehen doch in denkbar grossem Kontrast zu natürlichen Wasserstellen: Das klare Wasser in den weissen Behältern ist still und ohne Leben.

Leiß inszeniert die Schubkarren als Scharnier zwischen Natur und Kultur – so wie sie auch in ihrer eigentlichen Funktion verwendet werden: Wenn die Welt in eine neue Form gebracht wird, dienen sie bei den Bau- und Gartenarbeiten als Transportmittel. Jetzt sind sie zu Kunstobjekten verwandelt und ordnen sich in die lange Geschichte der künstlerisch transformierten Alltagsgegenstände ein.

Kaum noch unberührte Natur

Die kleinen, weissen Bassins bilden nicht nur einen Gegensatz zur Natur und zum Industriecharme der Kunsthalle, sondern auch zum so viel grösseren Bodensee. Auch ihn integriert Max Leiß in seine Ausstellung. Mit dem Kajak ist der Künstler eine Woche lang dem Ufer des Sees entlanggefahren. Die auf dieser Reise entstandenen Filmaufnahmen und das verwendete schmale Boot zeigt er im Untergeschoss der Halle.

Wie bei einem Pfahldorf stehen hier die Stützen dicht an dicht, während der gleichmässige Paddelschlag vom Sound des Videos ins Ohr dringt. Die Aufnahmen zeigen das Wechselspiel von Freizeit und Arbeit am Bodensee: die Uferstellen, die zum Baden einladen, deren Nähe zu bebauten Zonen, den Schilfgürtel und dann wieder Zeichen der Industrialisierung, die Stille, aber auch die Lichter am anderen Ufer.

Das Video zeigt deutlich: Unberührte Natur am Bodensee gibt es kaum, der Mensch hat hier fast überall die Hand im Spiel. Doch die Vielfalt ist gross und bietet Raum für lohnende Erkundungen. Leiss hat für die Projektion den passenden Ort gewählt: Das Dunkel des Untergeschosses erlaubt förmlich, hinab- und einzutauchen in diese Vielfalt.

Um das «Seestück» des Künstlers abzurunden, muss nicht nur aufgetaucht, sondern bis ins Obergeschoss der Kunsthalle hinaufgestiegen werden. Hier zeigt Leiß Fotografien, die am Rhein in der Nähe von Basel entstanden sind. Damit verweist er darauf, dass der Bodensee kein sich geschlossener Wasserraum ist. Die Wasserstrasse zieht sich von hier aus weiter, nimmt andere Formen an und hat erneut industrielle und kulturelle Bedeutung.

Der Sommer geht, die Kunst kommt.

Am Sonntag tat der Sommer noch einmal so, als müsse er nie abtreten. Es war ein perfekter Tag für die Badi – und für die Kunst. Beide trafen im Freibad Heiden aufs Schönste zusammen, denn der «Streunende Hund» war hier zu Gast.

«Papa, wieso hat´s da so Fotos?» Etwas ist anders in der Badi Heiden. Zwischen den blauen Türen der Umkleidekabinen stehen gerahmte Fotos am Boden. Die Schliessfächer grüssen mit poetischen Botschaften. Auf einem Handtuch schwimmt jemand durch die Wiese. Kunst hat sich am vergangenen Sonntag im Schwimmbad Heiden unter die Badegäste gemischt. Nicht gross und knallig, sondern leise und schön, unterhaltsam und nachhaltig – und überall dort, wo ein weisses Fähnchen im Boden steckte. Darauf abgebildet ist ein Hund: das Symbol des Kollektivs «Streunender Hund». Seit 2019 sind unter diesem Namen Künstlerinnen, Künstler und andere Kulturaktive gemeinsam in der Ostschweiz unterwegs. Ihre Kunstwerke und Aktionen in der Badi Heiden sind alle für diesen Ort entstanden. Dabei war die Ausgangslage nicht einfach, denn die 1932 eröffnete Anlage ist denkmalgeschützt. Nirgends darf ein Nagel in die Wand geschlagen, etwas fest geklebt oder aufgemalt werden. Umso ideenreicher haben die Kollektivmitglieder und ihre Gäste die Kunst platziert. Ein Beispiel sind die am Boden platzierten Fotos von Wassili Widmer, die alle Mitglieder des Kollektives an einem regnerischen Frühsommertag in der Badi zeigen. Ein anderes sind die «Tropfsteine» von Sven Bösiger: Von einem dünnen, zerknitterten Aluminiumblech rinnt Wasser auf ein zweites und erinnert an einen erfrischenden Sommerregen. Auf den Treppenstufen liegt ein bedrucktes Neoprentuch von Donia Jornod, darauf glitzerten kleine Wasserpfützen im Licht. Einige Meter weiter trägt einer der schattenspendenden Bäume ein Kleid. Laura-Maria Drage hat es ihm angezogen. Die kommunizierenden Schliessfächer sind die Idee von Gabriela Falkner. «Schön, Dich hier oben zu sehen!» oder «Psst. Ich bin bereits im Winterschlaf.» verkünden sie in einfacher Schrift auf weissen Postkarten. Der schwimmende Mensch als Motivdruck auf einem Badetuch: Damit erweitert Mirjam Kradolfer das Becken bis auf die Wiese. Florian Gugger hingegen hat den Alpstein in die Badi geholt: Als Epoxy-Plastik glänzt er am Beckenrad in der Sonne.
Mehrere Künstlerinnen und Künstler luden die Badegäste ein, Teil ihrer Kunst zu werden. Fridolin Schoch bot einen Workshop an, in dem Fächer bemalt werden konnten. Harlis Schweizer malte direkt auf die Haut: Wer wollte, konnte ein Stück Badi auf dem Körper mit nach Hause tragen – als Original der Künstlerin. Auch von Birgit Widmer gab es etwas zum mitnehmen: ihre Zeichnung einer Meereswelle, gedruckt auf Seidenpapier. Das Duo kappenthuler/federer lichtete Interessierte mit Lochkameras vor ihrem Lieblingsplatz in der Badi ab. Der Technikraum des Bademeisters diente ihnen als Dunkelkammer. Die Beteiligten schwärmen vom unkomplizierten Zusammenspiel mit Gemeinde und Badi-Verantwortlichen. Dies wird am 1. Februar eine Fortsetzung finden: In fünf Monaten nämlich wird der «Streunende Hund» zum zweiten Mal in der Badi Heiden vorbeikommen. Er wird das Bad aus dem Winterschlaf wecken und neue oder weiterentwickelte Arbeiten werden hinzukommen.

Zehnmal künstlerische Schaffensjahrzehnte

Vier Künstlerinnen und sechs Künstler stellen neben- und miteinander im Museum zu Allerheiligen aus: Das Miteinander besteht im biografischem Bezug zur Region Schaffhausen und dem Alter – alle sind in den 1940er Jahren geboren. Das Nebeneinander findet mit sorgfältig gewählten Räumen für jede der künstlerischen Positionen statt.

Schaffhausen — Eine Würdigung, eine Überblicksschau, eine Kabinettausstellung – «Generation im Aufbruch» ist ein besonderes Projekt. Es versucht nicht, die Werke in einen Dialog zu zwingen oder sonstige Querbezüge zu konstruieren, sondern zeigt jede Position separat. Das entspricht einerseits dem Bestreben, jede Position in ihrer Eigenständigkeit zu unterstreichen. Andererseits kommt es der heterogenen Herangehensweise der Ausstellenden entgegen, die sich im Vorfeld unterschiedlich intensiv einbrachten: Manche entschieden sich für einen intensiven Austausch mit dem Kurator Julian Denzler, andere wählten ihre Werke selbst aus und arbeiteten weitestgehend autonom.
Eigens für die Präsentation wurden kurze Videoporträts gedreht. Sie erzählen oder interpretieren nicht einfach, was zu sehen ist. Stattdessen sprechen die Künstlerinnen und Künstler über Haltungen, Motivationen, Inspirationen oder glückliche Schaffensmomente.
Die Ausstellung beginnt bereits neben dem Museum mit den Objekten des Eisenplastikers Vincenzo Baviera: Sie bestehen aus Kraftwerks-Isolatoren und bringen eine neue Zeitebene in den mittelalterlichen Kreuzgang. Renate Eiseneggers Fotografien und Tuschezeichnungen speisen sich aus Wut und Engagement und zeigen den weiblichen Menschen malträtiert, untersucht, behandelt, maskiert. Im Raum daneben fesseln die mit lebendigem Strich hingeworfene Szenen aus Operationssälen von Linda Graedel. René Moser zeigt seine «Schreine» aus Eisenblech und René Eisenegger eine Wandinstallation aus gefundenen Materialien. Von Walter Pfeiffer, der vor allem als Fotograf bekannt ist, sind dichte Stilleben und Porträts in Gouache zu sehen. Erich Brändles Gemälde bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Beatrix Schären malt flammende, expressive Bilder zu existentiellen Themen, angeregt von der Kultur der Tairona in Kolumbien. Erwin Gloor hat jahrzehntelang mit gestischer Handschrift den Rheinfall porträtiert. Seit 2004 hat er sich dem fotorealistischen Gemälden zugewandt, die Ausstellung zeigt eine repräsentative Auswahl. Ursula Goetz´ künstlerische Position wird postum gewürdigt: Sie verstarb während der Ausstellungsvorbereitungen. Zu sehen sind ihre ungegenständlichen, austarierten Kompositionen in Acryl.
Zeichnungen, Malerei, Fotografie, Plastiken und Installationen – die Ausstellung zeigt Vielfalt und Qualität der Arbeit einer älteren Kunstgeneration.

‹Generation im Aufbruch›, Museum zu Allerheiligen, bis 20.10.
allerheiligen.ch