Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Malerin und Moritatensängerin

Als Maria Lassnig 2014 im Alter von 94 Jahren stirbt, ist sie eine Malerin von Weltrang. Ihre Werke sind in vielen wichtigen Sammlungen und Ausstellungen präsent. Aber auch als Medienkünstlerin war Lassnig wegweisen. Das Magazin 4 in Bregenz zeigt jetzt eine Auswahl ihrer Kurzfilme.

Maria Lassnig bringt Gemälde zum Sprechen. Die Malerin zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Doch in ihrem Animationsfilm «Art Education» lässt sie Figuren anderer Künstler zu Wort kommen. So klagt das Modell aus Vermeers berühmten Bild «Die Malkunst»: «Du behandelst mich wie ein Objekt.». Der Maler antwortet ihr unbeeindruckt: «Du bist jetzt ein Objekt.» Doch Maria Lassnig wäre nicht sie selbst, wenn sie es dabei belassen würde. Ein Rollentausch ist rasch vollzogen, der Maler wird selbst zum Modell. Auch Michelangelos berühmter Adam ist mit seiner Rolle unzufrieden und mit seiner Hautfarbe, aber Lassnig lässt Gott entgegnen, schwarz komme eben nicht vor in der Bibel.
Maria Lassnig blickte in ihrem Kurzfilm humorvoll und kritisch auf die Kunstgeschichte und deren Schieflagen. Ihre scharfsinnigen Analysen sind bis heute aktuell, aber viel zu wenig bekannt. Das will die aktuelle Ausstellung im Magazin 4 in Bregenz ändern.

Trickfilme kolorieren als Broterwerb

Zu sehen sind hier sieben der wichtigsten Filme Lassnigs und das frühe Gemälde «Informel». Es wurde 1980 durch die Stadt Bregenz angekauft. Es ist das Jahr, in dem Lassnig nach langen Aufenthalten in Paris und New York nach Wien zurückkehrt und an der Hochschule für angewandte Kunst eine Professur erhielt – als eine der ersten Künstlerinnen im deutschsprachigen Raum. Endlich konnte sie von ihrer Kunst leben. Zuvor hatte sie als Broterwerb für ein Trickfilmstudio Hintergründe koloriert. Ihre eigenen Filme sind aber keineswegs nur Nebenprodukte dieser Zeit. Sie sind eigenständige Werke und eng verwoben mit der Weltanschauung Maria Lassnigs, ihrer Malerei und ihrem Leben. «Couples» beispielsweise erzählt von Beziehungskonflikten, von körperlichen und emotionalen Spannungen, davon, wie Frauen geringgeschätzt werden, aber sich dennoch behaupten.
In ihren Filmen zeigt sich Lassnig als geübte Zeichnerin. Sie konstruiert und dekonstruiert Körper, sie erweckt Linien zum Leben und spielt mit den Sujets. Ein Stuhl wird zum Körper und wieder retour, ein Sessel beginnt zu quellen; Augen, Ohren, Nase, Mund wandern im Gesicht umher. Andere Sequenzen haben dokumentarischen Charakter wie etwa die Aufzeichnungen einer Vernissage: Menschen stehen vor Lassnigs Bildern. Sie reden und rauchen. Schaut jemand auf die Kunst? Oder hängen die Aktbilder – Zeugen einer Selbstvergewisserung und einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem gängigen Frauenbild – nur als Beiwerk angeregter Gespräche an den Wänden?

Kämpferische Künstlerin

Lassnig glaubt an die Kraft der Kunst. Eine Ausstellungseröffnung ist ein temporäres Ereignis, ihre Bilder jedoch bleiben und sind ab den 1980er Jahren in den grossen Ausstellungshäusern Europas genauso zu sehen wie an der Documenta Kassel und der Biennale Venedig.
Lassnig ist ihr Ruhm nicht zugefallen. Sie hat viel und konsequent gearbeitet und die männliche Dominanz in der Kunst ihrer Zeit nicht einfach hingenommen. Im Film «Kantate» arbeitet sie diesen ständigen Kampf um ihr Werk und die Anerkennung auf. Im Stil eines Moritatensängers erzählt sie in 14 Strophen ihr Leben. Sie spart den Ehekrieg der Eltern ebensowenig aus wie die Enttäuschungen in Beziehungen oder das postfaschistische Europa, besingt aber auch die Gemeinschaft starker Künstlerinnen in New York. Als 73jährige blickt sie in wechselnden Kostümen auf ihr Leben zurück, abgeklärt ist sie da aber noch lange nicht, sondern voller Witz und Ironie, die sie noch 22 weitere Jahre durchs Leben tragen werden.

RADAR: Der Performance Art Funds

Ein neues Förderinstrument für Konzeption, Produktion und Diffussion in der Darstellenden Kunst

Warum hat die Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung den PAF als neues Fördergefäss gegründet?
Bianca Veraguth: Die Stiftung hat drei Förderschwerpunkte: Bildung, Soziales und Kultur. In letztgenanntem unterstützen wir grosse und kleine Vorhaben beispielsweise in der Sparte Musik, aber insgesamt fehlte uns die strategische Schärfung wie das in den anderen Bereichen bereits der Fall ist. Bei Gesprächen mit Förderstellen, Stiftungen und Kulturaktiven hat sich schnell die schwierige Situation der hiesigen Freien Szene gezeigt. Wir haben uns daraufhin entschieden, eine Lücke zu füllen: die kontinuierliche und breit gefächerte Unterstützung der Freien Szene und als zweites strategisches Standbein das Kulturerbe der Ostschweiz.

Was heisst es, ein neues Fördergefäss aufzubauen?
Bianca Veraguth: Wir sind sehr offen vorgegangen und haben zunächst den Kriterien für das Gefäss und dessen finanzielle Ausstattung bestimmt. Mit Ann Katrin Cooper haben wir den Insiderblick in die Freie Szene gewinnen können. Zudem war es uns wichtig, eine externe Jury einzuberufen für eine unabhängige professionelle Beurteilung 
Ann Katrin Cooper: Ich wurde beauftragt, ein Konzept zu entwickeln, auf dieser Basis wurden in der Fördervereinbarung die wichtigsten Rahmenbedingungen festgehalten. Wir haben uns auch Flexibilität und Lernprozesse zugestanden und werden die Arbeit regelmässig überprüfen, um zu erfahren, ob die Instrumente wirklich greifen und die erhoffte Wirkung erzielen. 

Was sind die Besonderheiten dieses neuen Fördergefässes?
Bianca Veraguth: Wir haben uns entschieden, ein in sich geschlossenes, neutrales Gefäss aufzubauen. Wir wollten einen Mehrwert erzielen, indem wir die Konzeption, die Produktion, Weiterbildungen, Verstetigung und die Diffusion unterstützen.
Ann Katrin Cooper: Wichtig ist uns eine nachhaltige und substantielle Unterstützung: Wir fördern die Künstlerinnen und Künstler aufeinanderfolgend mit unterschiedlichen Förderwerkzeugen und in allen Phasen des künstlerischen Prozesses, einschliesslich der Weiterbildung. Sie wird in der Förderung oft nicht berücksichtigt. Alle Unternehmen ermöglichen Weiterbildungen, und in der Freien Szene ist es ebenfalls wichtig, sich aktuellen gesellschaftlichen und technischen Veränderungen stellen zu können. Zudem bieten wir, wo es sinnvoll ist, Beratungen an, damit das ganze Potential der unterstützen Projekte zum Tragen kommt.

Wie fördert der PAF die Diffusion?
Ann Katrin Cooper: In vielen Kantonen des Fördergebiets sind Gastspielhäuser rar. Hier nützen die nationalen Programme nichts, bei denen sich die Institutionen für Koproduktionen und Gastspiele austauschen. Wir müssen also viel früher beginnen. Vielleicht braucht es künftig eine Person, die sich insbesondere um das Diffusionsmanagement kümmert und die Förderung eines Netzwerks. In der Jury haben wir erfahrene Profis, die sich hier einbringen können.

Wie wird die Performance-Kunst definiert? Wird abgegrenzt zwischen Performancekunst und performativer Kunst?
Ann Katrin Cooper: Darüber haben wir lange diskutiert. Uns geht es weniger darum, wo das Geschehen stattfindet, ob im Ausstellungs- oder im Theaterraum, sondern dass es stattfindet. Die Performanceszene in der Ostschweiz ist sehr klein im Vergleich zur Westschweiz, deshalb zieht der PAF nicht von vornherein scharfe Grenzen. Wir wollen ermöglichen! 
Bianca Veraguth: Qualitative Kriterien und inhaltliche Freiheit sind uns wichtiger als Sparten.

Bianca Veraguth, MAS Cultural Management und MAS Communication Management & Leadership, arbeitet als Geschäftsführerin der Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung und war für zahlreiche Kulturinstitutionen wie -förderer tätig.

Ann Katrin Cooper, MA Angewandte Kulturwissenschaften, ist Kulturvermittlerin, künstlerische Leiterin des Panorama Dance Theaters, Gründerin des POOL – Raum für Kultur, Geschäftsführerin des PAF und Beraterin von Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, Rubrik RADAR, No. 50 | 2024/3

Lisa Schiess, Bildbogen, Obacht Kultur

IL LEONE DELL’ARSENALE, 2011 bis 2022
Fotografien

«Plötzlich, daheim am Arbeitstisch, schaut mich ein Löwe an über der Fotokopie vom Odradek.» Lisa Schiess hatte 2011 eine kopierte Fotografie aus ihrem Buch «Odradek oder die Laufmasche im System» mit zur Biennale Venedig genommen und in einer Mauernische platziert in einer der Backsteinsäulen des Arsenale. Diese Nische ist ein Zufallsprodukt; der Zahn der Zeit hat sie in die Säule genagt. Dabei hat er – ebenfalls zufällig – den Kopf eines Löwen geformt. Lisa Schiess entdeckt ihn und erweist ihm seither die Referenz. Der Löwe steht für vieles, was die in Waldstatt und Zürich lebende Künstlerin in ihrer Arbeit untersucht: LEONE verändert sich kontinuierlich und ist auch für Lisa Schiess der Anlass eines dynamischen Langzeitprojektes. Er ist ein Objet trouvé und zugleich eine Inspirationsquelle. Er ist ortsgebunden und lässt sich als Verweis auf das Wappentier Venedigs lesen, zugleich eignet er sich zur Auseinandersetzung mit Themen wie prozessuale Kunst, partizipative Aktion, Vergänglichkeit und Gegenwartsbezug.
Seit über zehn Jahren fordert Lisa Schiess Künstlerinnen, Freunde und Bekannte dazu auf, LEONE zu besuchen und dort eine Blitzaktion fotografisch festzuhalten. Diese Aktionen – dokumentiert auf lisaschiess.kleio.com – verbinden sich mit ihrer eigenen Arbeit vor Ort. So hat sie ihn mit einer
Inschrift in die offizielle Ausstellung integriert als niederschwelliges, aber wirksames Biennale-Hacking. Andere Beteiligte haben dem Löwen einen Kuchen gebracht, sind mit Gesten oder Gaben in einen Dialog mit ihm getreten. Jedes Jahr erhält der Löwenkopf ein neues Biennale-Umfeld, jedes Jahr wieder begeben sich Menschen auf die Suche nach ihm und Lisa Schiess’ offenes Kunstwerk existiert weiter.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, No. 50 | 2024/3

Beatrice Dörig, Bildbogen, Obacht Kultur

«Multiversum lll», 2023, mit Ram Samocha, Brick Lane, London
«Liegende Acht Vl», 2023, Brighton UK
«Moon is the Oldest Performer», 2024, mit André Meier, Trompete/Elektronik, Kunsthalle Wil

Die Zeichnung ist eine fragile Kunstform. Vielfach werden Zeichnungen für Studien, Skizzen oder Entwürfe genutzt. Für Beatrice Dörig steht die Zeichnung im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Und die in Herisau aufgewachsene Künstlerin treibt den fragilen Charakter des Mediums auf die Spitze. Im Gegenzug steigert sie das Format ins Monumentale: Während ihres Atelieraufenthaltes in England zeichnete Beatrice Dörig am Meer in Brighton und auf eine öffentliche Wand in London. Dort, in der Brick Lane, arbeitete sie gemeinsam mit dem britischen Künstler Ram Samocha. Beide liessen ihre Zeichen, Linien, Striche ineinander fliessen, fügten Schicht um Schicht hinzu, bis ein dichtes Linienbild gewachsen war. Erstaunlich lange blieb es auf der Wand erhalten, bis die Fläche wieder von Streetart vereinnahmt wurde. Von noch viel kürzerer Dauer waren Beatrice Dörigs Zeichnungen am Strand: «Das Meer spült die Zeichnung in jedem Moment wieder weg. In jedem Moment habe ich die Form aufs Neue gesucht. Wieder und wieder. Zeichnen ist suchen.» Das Temporäre ist ein wichtiger Aspekt in ihrer Arbeit. Ein anderer ist der körperliche Einsatz, wenn sie wand- oder sogar raumfüllende Linien zeichnet. Besonders intensiv war die Auseinandersetzung mit der Natur: Nicht nur hat das Wasser die Zeichnung kontinuierlich verschwinden lassen, zusätzlich bestand der Strand aus kleinen Kieseln, was die körperliche Anstrengung vervielfachte. Beatrice Dörig nahm in Brighton die bereits früher thematisierte liegende Acht wieder auf. Das Zeichen für Unendlichkeit ist der bewusst gewählte Widerspruch zur Endlichkeit der Zeichnung.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, No. 50 | 2024/3

Notes on Kim Lim – zwei künstlerische Positionen im Zusammenklang

Vergessene Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts gehören seit einigen Jahren zu den Neu- und Wiederentdeckungen in Museen, an Biennalen oder der Documenta. Eine dieser Wiederentdeckten ist Kim Lim. Die Künstlerin Daiga Grantina zeigt im Kunstmuseum Appenzell ihren Blick auf die Britin.

Kim Lim wurde 1936 in Singapur geboren, ging 1954 zum Kunststudium nach London – und blieb. Bis zu ihrem Tod 1997 arbeitete sie als Bildhauerin, fotografierte und zeichnete. Ihr Werk ist in zahlreichen Sammlungen vertreten und wurde doch zu ihren Lebzeiten selten ausgestellt, vor allen nicht ausserhalb Grossbritanniens. Daiga Grantina arbeitet ebenfalls im dreidimensionalen Bereich. Der Begriff Bildhauerin klingt aber angesichts ihrer fragilen Werke aus Textilien, Bindfäden, Kunststoff und Naturmaterialien veraltet. Sie ist 1985 in Saldus in Lettland geboren und lebt in Paris. Sie studierte Kunst in Hamburg und Wien und hat in ihrem Lebenslauf bereits viele internationale Ausstellungen vorzuweisen.

Ein gutes Ausstellungsrezept

Wie lässt sich das Werk zweier Künstlerinnen aus so unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen gemeinsam ausstellen? Kann dabei mehr herauskommen als ein zeitgleiches Nebeneinander? Es kann, wenn die Zutaten stimmen: die Qualität der künstlerische Positionen und die klare Architektursprache des Kunstmuseum Appenzell. Aber die Ingredienzen sind nicht alles. Sie müssen auch im richtigen Verhältnis stehen. Dafür hat Stefanie Gschwend, seit zwei Jahren Direktorin des Kunstmuseums, die Künstlerin Daiga Grantina gebeten, ihren Blick auf Kim Lims Werk zu zeigen. Zunächst hat Grantina den Nachlass Lims studiert und schnell entdeckt, dass die Werke aus Holz und Stein mehr sind als steife, strenge Formen. Kim Lim bezieht sich zwar auf die klassische Moderne, hat aber auch fernöstliche Referenzen eingefügt. Wasser, Wind, Wellen und das einfallende Licht sind wichtige Komponenten ihrer Arbeit. Diese Elemente interessieren auch Grantina. Sie lässt sich von der Wasseroberfläche inspirieren oder integriert Vogelfedern in ihr Werk. Im Kunstmuseum Appenzell treffen beispielsweise Grantinas «Blue Sun» und Lims «Intervalle» aufeinander. Grantina rückt die Sonne als Quelle des Lichts ins Zentrum: Eine halbkreisförmige, blaue Scheibe ist teilweise verborgen hinter einem zarten Schleier aus transparentem Wachs. Sie wird zum Gestirn des Ausstellungssaales. Kim Lim hingegen wählte die strenge geometrische Form: Lange Rechtecke sind von horizontalen Einschnitten unterbrochen. Mit dem Wechsel von Material und Leerstelle konstruierte die Künstlerin einen Rhythmus aus Licht und Schatten.

Licht und Poesie

Für die Präsentation im Kunstmuseum Appenzell hat Grantina in jedem der zwölf Ausstellungsräume zunächst ein Werk positioniert; entweder ein eigenes oder eines von Kim Lim. Davon ausgehend hat sie nach Verwandtschaften gesucht, andere Werke hinzugefügt und positioniert. Dabei hat sie auch auf die Fenster des Museums geachtet und auf die besondere Lichtsituation der Räume. Eigens für die Ausstellung hat die Künstlerin Sockel entworfen, die sie «Wandvorsprünge» nennt oder «Raumecho». Sie sind nicht freistehend, sondern an die Ausstellungswand angebaut. Ihre Stellflächen liegen auf über Augenhöhe und fangen das von oben einfallende Licht ein. Auf diesen hohen, lichten Flächen verlieren die Skulpturen und Objekte ihre Schwere und beginnen zu schweben.
Die poetische Grundstimmung der Ausstellung wird sich auch im geplanten Buch fortsetzen. Dafür tragen die Lyrikerin Ilma Rakusa Gedichte bei und die St.Galler Künstlerin Katalin Déer richtet ihren Blick auf die beiden Positionen. Zur Buchvernissage am 4. Mai 2025 wird ausserdem die polnische Klangkünstlerin und Komponistin Anna Zaradny eine klangliche Notiz gestalten.

Zwei Sammler, Künstler, Konstrukteure

Der Kunstraum Kreuzlingen zeigt mit «Kosmos» und «Self Storage» zwei Ausstellungen, die für sich stehen, sich aber verzahnen und ergänzen. Die beiden Künstler – Martin Spühler und Martin Anderegg – verbindet das Interesse am Potential des Aussortierten, Alten, für unbrauchbar Erklärten.

Im Pariser Musée d’Art Moderne zeigt der Maler Albert Oehlen seinen Blick auf den 2012 verstorbenen Bildhauer Hans Josephson. Im Kunstmuseum Appenzell präsentiert die Künstlerin Daiga Grantina ihre Sicht auf die 1997 verstorbene Bildhauerin Kim Lim in Wechselwirkung mit ihren eigenen Werken. Im Kunstraum Kreuzlingen hat Martin Anderegg den Metallplastiker Martin Spühler (1943–2023) in Szene gesetzt. Verstorbene Künstlerinnen und Künstler durch eine aktuelle künstlerische Brille zu betrachten, hat sich zu einem Trend entwickelt. Verwunderlich ist das nicht, denn der künstlerische Zugang ist ein anderer und freierer als jener von Ausstellungsmachern oder Kunstwissenschafterinnen. Wenn das Verständnis für den kreativen Prozess durch die eigene künstlerische Arbeit geprägt ist, erlaubt dies eine intensive, persönliche Auseinandersetzung mit dem Werk der Anderen. So hat Martin Anderegg für das Werk Martin Spühlers einen besonderen Filter installiert: Wer den Kunstraum Kreuzlingen betritt, steht einem roten, halbtransparenten Kunststoffvorhang gegenüber. Dieser schirmt den Ausstellungsraum ab und erfordert einen Umweg, bis sich schliesslich ein schmaler Durchgang auftut. Erst dann sind Spühlers Klangkonstruktionen in voller Pracht zu sehen: Die Drehteller mit Haken und Holzklöppeln. Die verfremdeten Flöten in einem Metallbehälter. Die umgebauten Pianos, deren Hämmerchen nicht auf Saiten schlagen, sondern gegen Löffel, Stahlfedern und etwas, das ein Kerzenständer gewesen sein könnte. Die «Streichelkanone», die «Tropfsäule», die «Stichorgel» und ihre Verwandten. Werden sie angeschlagen, gedreht, geschwungen oder mit dem Bogen gestrichen, tönen diese Klangplastiken in vielfältigen Klängen von glockenhell bis donnernd tief. Hier zu musizieren ist freilich nur Profis erlaubt, aber auch visuell geben die ungewöhnlichen Instrumente einiges her. Das geschwärzte Metall, die Beulen, Dellen und ausgefransten Kanten strahlen eine Endzeitästhetik aus.

Abfall wird Instrument

Martin Spühler, der seine künstlerische Arbeit als Puppenspieler begann, baute seine Musikobjekte aus Abfallmaterial. Er fand die Teile als Schrott in Mulden, suchte Gebrauchtes, Altes und Ausgedientes zusammen. Er hämmerte, lötete, schweisste. Darauf nimmt Martin Anderegg Bezug. Denn der rote Vorhang ist aus Werkstattfolien zusammengestückelt, wie sie beim Abschirmen von Schweissarbeiten zum Einsatz kommen. Sie sollen Funkenflug stoppen und das grelle Licht abschirmen. Martin Anderegg bestückt den roten Vorhang mit kleinen Magnetkettchen und verleiht ihm so einen Hauch Glamour. Diese Verfremdungseffekte sind kennzeichnend für seine Werke, die bis auf den roten Vorhang im Untergeschoss zu sehen sind. Diese Platzierung hat der Künstler treffend ausgewählt. Hier, in künstlichem Licht, unter niedriger Decke und zwischen rauen Betonmauern und -pfeilern entfalten Andereggs Werke ihren zuweilen unheimlichen, oft düsteren Charakter.

Gespenstisches im Halbdunkel

Auch Martin Anderegg hat eine Vorliebe für Aussortiertes, Übriggebliebenes, aus der Zeit Gefallenes. Er montiert alte Uhrengehäuse zu Zellen zusammen, die an fantastische Architekturen oder Labyrinthe erinnern. Masken montiert er auf Schuhe oder Handschuhe, gespenstisch blicken sie ins Halbdunkel. Einen rosafarbener Plüschelefant klammert er in achtfacher Ausfertigung ans Unendlichkeitszeichen.
Martin Anderegg kann alles verwenden. Von der Lampe bis zum Fahrzeugkatalysator, von Schlacke bis zu getrockneten Pflanzen. Zusätzlich vervielfältigt er Dinge im 3D-Druck, so setzt er beispielsweise mit Ratten- und kleinen Adlerfiguren zusätzliche Akzente. Andereggs Materialsammlung ist gross und ständig kommt Neues hinzu. Bei Martin Spühler ist das Werk zwar abgeschlossen, dennoch lebt es weiter. Dafür sorgt während der Ausstellungsdauer die Konzertreihe «Les Concerts de Noëlle» von und mit der Musikerin Noëlle-Anne Darbellay. Zeitgenössische Musik wird dann zusammen mit neuen, eigens für die Klangobjekte Martin Spühler konzipierten musikalischen Kreationen aufgeführt.

Samstag, 7. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº1, 18:00 – 20:00
Mit Réka Csiszér, Noëlle-Anne Darbellay, Olivier Darbellay und Stefan Wirth.

Samstag, 14. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº2, 18:00 – 20:00
Mit Max Murray, Matthias Klenota und Noëlle-Anne Darbellay.

Samstag, 21. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº3, 18:00 – 20:00
Mit Ariane Koch, Noëlle-Anne Darbellay, Justin Auer, Matthias Müller, René Camacaro und Juan Braceras.

Notiert: Heimspiel

Im Osten ist wieder «Heimspiel»-Zeit: Das jurierte Ausstellungsformat findet alle drei Jahre in Ostschweizer, Vorarlberger und Liechtensteiner Institutionen statt. In diesem Jahr wurden knapp 500 Bewerbungen eingereicht. Wie bereits 2021 wurden die Dossiers nicht von einem externen Gremium juriert, sondern von den Kuratorinnen und Kuratoren der beteiligten Häuser, die daraus jeweils eigenständige thematische Ausstellungen entwickelten. Unter dem Titel «Der Stoff, aus dem die Gegenwart besteht» sind im Werk2, der ehemaligen Webmaschinenhalle in Arbon, künstlerische Positionen versammelt, die sich im weitesten Sinne mit Textilien auseinandersetzen oder Stoffe thematisieren, die unsere Gegenwart prägen. Der Kunstraum Dornbirn zeigt mit «Ort und Raum» vier bildhauerische Positionen unterschiedlicher Generationen. Im Kunsthaus Glarus berührt «Gestalt» thematisch Bereiche an der Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Kunst Halle Sankt Gallen feiert mit «Uncanny Unchained: The Power of Weird» das Seltsame, das Unheimliche und das Extravagante gleich einem Kuriositätenkabinett. Im Kunstmuseum St.Gallen thematisiert in «La Reservoir» die Kunst als Quelle für Zukunftsideen und als Speicher für Veränderungen und Weiterentwicklung. AUTO – der Projektraum der Visarte Ost – fungiert in bewährter Weise als interaktive Dokustation mit allen eingereichten Dossiers.
 
diverse Orte, 14.12.2024–2.3.2025
heimspiel.tv

Notiert: Maschinenmensch aus Teufen

Die Idee humanoide Roboter zu bauen ist alt – und fortwährend aktuell angesichts von Personalengpässen in der Altenpflege, der Kinderbetreuung, an der Hotelrezeption. Der Maschinenmensch ‹Sabor› konnte immerhin Feuer geben, Blumen überreichen und sich ferngesteuert vorwärts bewegen. Er war der Hingucker an der Landesausstellung 1939 in Zürich, an der Weltausstellung 1958 in Brüssel, reiste nach London, Haifa, Hamburg und New York. Irgendwann in den 1970ern ging er vergessen und wurde schliesslich ins Elektrizitätsmuseum «Primeo Energie Kosmos» in Münchenstein gestellt. Nun kehrt er zurück an seinen Ursprungsort: ins ausserrhodische Teufen. Dort hat August Huber im Jahr 1923 als zwölfjähriger Bub die erste Version seines Roboters erdacht und immer weiter entwickelt. Funktionsfähig ist er inzwischen nicht mehr, eindrucksvoll aber nach wie vor, wie die aktuelle Ausstellung im Zeughaus Teufen zeigt. Sie präsentiert den fast zweieinhalb Meter grossen Metallkoloss und umfangreiches Archivmaterial in fünf Kapiteln. ‹Sabor› wird in einen historischen und geografischen Zusammenhang gestellt, seine Entwickler und Steuermänner erhalten Aufmerksamkeit ebenso wie seine Geschwister, etwa das ‹Hula-Hoop-Gritli› oder das ‹Strick-Lineli›. Im Kapitel zu ‹Sabors› Reisen ist eine bisher unpublizierte Fotostrecke des ‹LIFE Magazine›-Fotografen Ralph Crane zu sehen. Das Begleitprogramm schlägt die Brücke vom künstlichen Menschen zur künstlichen Intelligenz. ks

‹Sabor. Der erste Maschinenmensch aus Teufen›, Zeughaus Teufen, bis 9.2.
zeughausteufen.ch

Kreise Ziehen

Helene Sperandio und Cristina Witzig zeigen ihre jüngsten Werke in einer Doppelausstellung in der Lokremise St.Gallen.

Helene Sperandio und Cristina Witzig zeigen gemeinsam ihre aktuellen Werke in der Lokremise St.Gallen. Helene Sperandio verbindet ihre konzeptuellen Auseinandersetzung mit Malerei mit ihrem Interesse an der Geologie. Als Ausgangspunkt dienen ihr die intensiven vulkanischen Aktivitäten der Phlegräischen Felder in Pozzuoli, in der Nähe von Neapel. Die in Adliswil (bei Zürich) und Azmoos im St.Galler Rheintal lebende Künstlerin ist zu diesem Vulkanfeld gereist, hat Sedimente gesammelt und die aufsteigenden Schwefeldämpfe beobachtet. Sie hat sich mit der erdgeschichtlichen Bedeutung dieses Supervulkans beschäftigt und ihre künstlerische Arbeit auf der Basis ihrer theoretischen und empirischen Studien weiterentwickelt. In der Lokremise St.Gallen zeigt sie «Campi Flegrei», 2020–2022 – bestehend aus einem zwanzigteiligen Gemälde und einem zwanzigteiligen Aquarell. Gemalt sind beide ausschliesslich mit Erdpigmenten, die in einem ausgeklügelten Rhythmus aus insgesamt sechs Farben in je drei Farben pro Bild und Blatt verwendet werden. Im Gemälde fügen sich die Einzeltafeln mit diesem bewusst reduzierten Farbreservoir zum Porträt eines Steines vulkanischen Ursprungs, den sie von den Phlegräischen Feldern mitgebracht hat. Zu sehen sind seine rötlichen Einschlüsse und seine braunen Adern. Einer Wolke gleich schwebt er vor tiefer Dunkelheit und öffnet einen weiten Interpretationsspielraum, er lässt sich gleichermassen lesen als kleines Objekt, das kosmischen Ursprung in sich trägt, wie als Sinnbild für die unter der Erdoberfläche eingeschlossene Energie. Der dunkel homogene Hintergrund verändert sich von heiss leuchtendem Rot am unteren Rand des Bildes zu einem tiefen, noch immer von Rot durchdrungenem Grün nach oben hin. Der Übergang ist fliessend, unmerklich. Die Grundlage des sonoren Farbklanges des gesamten Gemäldes wird im zwanzigteiligen Aquarell auf Einzelblättern ausformuliert. Es ist ein Baukastensystem, das jedoch durch den Fluss der Wasserfarben nicht statisch bleibt. An manchen Stellen konzentrieren sich die natürlichen Pigmente, bilden körnige Farbinseln, an anderen ist der Farbauftrag fast vollständig durchsichtig, um sich an den Rändern wieder zu einer klaren Kontur zu sammeln. Dem Farbplan des Gemäldes entsprechend verändert sich der Dreiklang jeden Bildes von dominierendem Grün links oben zu rötlich warmen Farben links unten – damit sind diese Blätter ein abstraktes Porträt des vulkanischen Steines.
Auf den drei Kupfertafeln «CAMPIFLEGREI», 2024 ist die italienische Bezeichnung des Vulkanfeldes zu lesen. Jeder Buchstabe liegt dabei passgenau über dem vorherigen. So ergibt sich in jedem Bild der Serie ein dichtes typografisches Bild, dessen Überlagerungen ein Äquivalent bilden zur Geschichte des Ortes. Auch das Material selbst stellt den Bezug her: Die Erze des Kupfers sind magmatischen Ursprungs.
«Terra incognita», 2024 porträtiert die in den Phlegräischen Feldern austretenden Erdgase mit adäquaten Materialien: Auf Basaltgeweben malt Sperandio mit reinem Schwefelpigment und Goldschwefel, einer seit dem 16. Jahrhundert bekannten chemischen Verbindung zwischen Antimon und Schwefel. Die Künstlerin zeigt viermal einen Landschaftsausschnitt mit unterschiedlich aufsteigenden Gaswolken. Die Malerei und ihr Motiv gehen in diesen Bildern eine Symbiose ein: Sowohl mit dem Basaltgewebe als auch mit dem Schwefel als Farbmaterial ist ein enger Bezug zum Vulkanfeld gesetzt. Das Motiv eröffnet zugleich eine zeitliche Dimension. Einen anderen Weg geht Sperandio mit der Mikroskop-Fotografie: Das naturwissenschaftlich relevante Material wird hier nicht in seiner unmittelbaren Form, sondern als Motiv in die Kunst übertragen. «Fabula», 2024 ist das Resultat eines langen und sorgfältigen Auswahlprozesses, des gezielten Einsatzes von Licht und der Entscheidung für den richtigen Ausschnitt. Zu sehen sind die rötlich braune Grundfarbigkeit, kleine hell strahlende Einschlüsse, die Linie der Flüssigkeit auf dem Trägerglas und das flimmernde Licht. Die Farbigkeit und die Zusammensetzung des Bildes aus Konturen, weichen Übergängen, hellen und dunklen Partien steht in enger Verwandtschaft zu Sperandios Gemälden.
Sperandios Interesse an der Erdgeschichte trifft in der Ausstellung auf Cristina Witzigs Auseinandersetzung mit persönlicher und Gesellschaftsgeschichte. Die in Weinfelden lebende Künstlerin arbeitet mit fotografischen Archiven. Sie sammelt historisches Bildmaterial aus unterschiedlichen Quellen und erarbeitet thematisch und formal motivierte Zusammenstellungen: Frauen in Tracht, Männer im Anzug posieren neben Blumenarrangements oder in künstlich angelegten Landschaften, daneben Hochzeitsbilder oder Familienaufnahmen. Cristina Witzig wählt bei den Fotografien einen quadratischen Ausschnitt, damit lenkt sie die Aufmerksamkeit auf Details, auf eine einzelne Blüte, einen Ohrring oder eine auf die Hüfte gestützte Hand – kleine Symbole für Status, für den Wunsch nach Repräsentation, für zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein oder für die Ehrfurcht gegenüber der Kamera. Cristina Witzig transformiert die vorgefundenen Motive in einer weiteren Arbeitsstufe: Sie überträgt sie mit dem Pinsel und blauer oder roter Glasur auf Keramikkacheln. Mit der malerischen Transformation gleicht die Künstlerin das heterogene Ausgangsmaterial an: Manche der Fotografien stammen aus Fotoalben der eigenen Familie, andere sind Flohmarktfunde, es gibt professionelle Aufnahmen mit touristischem Hintergrund oder Bilder unbekannter Herkunft. Die monochrome Farbigkeit schafft eine gemeinsame Grundstimmung, zusätzlich gleicht der Duktus des Pinsels die Details und Konturen an. Die Farbe fliesst und wird anschliessend durch den Brennvorgang in dieser Bewegung verewigt.
Während die roten Kacheln Bezug nehmen zu den Werken Helene Sperandios – sowohl motivisch durch die Art der Pflanzen, wie sie auch in der Umgebung der phlegräischen Felder vorkommen, oder den heissen Qualm der Industrieanlagen, als auch durch die Farbigkeit, die den Rottönen in Sperandios Gemälden verwandt ist – sind die blauen Farbtöne historisch bestimmt: Die Kacheln sind verwandt mit den Azulejos, den quadratischen Fliessen, die auf der iberischen Halbinsel an Gebäudefassaden und Innenwänden zu finden sind. Cristina Witzig hat portugiesische Wurzeln, ihr ist diese Art der Gebäudegestaltung daher sehr gut bekannt. Sie hat die Kacheln in Portugal in einer dafür spezialisierten Werkstatt bemalt und anschliessend brennen lassen. Die Azulejos sind nicht nur Fassadenschutz, sondern zudem ein architektonisches Dekorelement; diesen Aspekt spiegelt Cristina Witzig auch in ihrer Arbeit: In ihrer Motivwahl zeigt sie das Bedürfnis der Menschen nach Dekor. Es drückt sich aus im Schmuck, in den Frisuren und im gesamten Habitus der porträtierten Personen wie auch in den Blumenarrangements.
Ein weiteres Bezugssystem eröffnet die Künstlerin mit der Farbigkeit der Kacheln: Das Blau steht in einer langen Tradition der Farbsymbolik. Im christlich-religiösen Kontext steht es für die Reinheit und das Göttliche, in Literatur und Kunst für Klarheit, Harmonie und Ruhe. Auch mit der Sehnsucht wird es in Verbindung gebracht und mit der Ferne. Diese Deutungsmöglichkeiten treffen auf die Inszenierung von Exotik in den vorgefundenen Fotografien, auf die Symbolik eines Hochzeitskleides oder die Weite eines Landschaftsausschnittes. Und das Blau der Keramikkacheln reiht sich ebenso ein in Cristina Witzigs Schaffen: Auch in ihren Arbeiten mit Wasserfarben auf Papier wählt sie oft blaue Farbtöne. Und in ihrem Stop Motion Film «Der Kuss» kreist ein grosser blauer Punkt um eine liegende Frau. Sie blickt in die gleiche Richtung wie die Menschen vor dem Monitor, zu sehen sind ihr Rücken, ihr Hinterkopf, nicht ihr Gesicht. Damit wird sie – wie die prominenten Rückenfiguren der Kunstgeschichte etwa bei Caspar David Friedrich – zur Projektionsfläche für die Gedanken, Assoziationen, Stimmungen der sie betrachtenden Menschen. Der blaue Punkt trägt diese Assoziationen mit sich. Mit seinem Kreisen lenkt er die Blicke und bildet gleichzeitig die Brücke zum Ausstellungsmotto.

Saaltext für die Doppelausstellung in der Lokremise St.Gallen vom 22. bis 24. November

Wenn aus Treibgut Druckgrafik wird

Die 16. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse präsentierte künstlerisches Handwerk aus fünf Ländern im Eisenwerk Frauenfeld: Über 50 Ausstellerinnen und Aussteller aus den Bereichen Grafik, Buchkunst, Buchbinderei, Papierhandwerk und Druck sorgten für eine stimmige Atmosphäre. Laien und Profis schätzen den Austausch gleichermassen.

«Es lohnt sich, so ein Plakat zu kaufen. Er ist weltberühmt.» – Der so unter den Gästen Weiterempfohlene ist Dafi Kühne, Ehrengast der 16. Buch- und Druckkunst-Messe im Eisenwerk in Frauenfeld. Tatsächlich werden die Arbeiten des Glarner Gestalters international ausgezeichnet und ziehen stets die Aufmerksamkeit auf sich. So auch an der diesjährigen Werk- und Verkaufsschau in Frauenfeld, die auch unter dem Namen Handpressenmesse bekannt ist. Kühne sorgte für einen wirkungsvollen Auftakt im Foyer der Ausstellungshallen. Er hatte zahlreiche seiner Plakate mitgebracht und präsentierte sie schwungvoll den Schaulustigen.
Bereits am Freitag zog die Messe viele interessierte Laien und Profis an, auch Schulklassen gehörten zu den Gästen. Auffällig war die lange Verweildauer des Publikums an allen drei Messetagen.

Entdecken, Stanzen, Drucken
Die Besucherinnen und Besucher liessen sich von den zahlreichen Mitmachaktionen anregen. So hatte das Frauenfelder Antiquariat Vivarius ein Büchlein ausgewählt, bei dem die Seitenanzahl und das Druckjahr zu erraten waren. Der Preis: ein handverlesenes Bändchen aus dem Insel-Verlag. An anderen Messeständen wurde geprägt, gedruckt und gefaltet.
Percy Penzel beispielsweise hatte eigens die Linotype-Zeilensetzmaschine aus dem Typorama ins Eisenwerk gebracht. Bei Michael Diebold von Petite Ourse konnte ein Notizbuch mit goldgeprägten Initialen versehen werden. Und für alle, die ihre Messeeinkäufe stilvoll nach Hause transportieren wollten, bot Hagmann Siebdruck das Bedrucken von Baumwolltaschen an.
Viele der Ausstellerinnen und Aussteller reisten von weither an – die Handpressenmesse hat sich längst zu einem Treffpunkt in der Buch- und Druckkunstszene weit über die Schweiz hinaus entwickelt: Auch Vereine, Verlage, Werkstätten und Ateliers aus Frankreich, Deutschland, Österreich und Liechtenstein gehören zu den regelmässig Teilnehmenden. Fred Lautsch, der Ehrengast aus dem Jahr 2022, reiste aus Stralsund an und hatte Treibgut als Druckstock im Gepäck oder wie er es an seinem Messestand beschrieb: «Das ist das Meer.» Er hat die weichen Teile des Holzes ausgewaschen, so dass sich mit der stehengebliebenen Maserung grafische Druckkunstwerke gestalten lassen. Auch Barbara Brübach alias fettetypen hatte einen weiten Weg: Ihre Hochdruckwerkstatt ist in Niedersachsen. Die Gestalterin war zum zweiten Mal in Frauenfeld dabei und schätzt hier besonders den Austausch mit anderen Fachleuten, der im Alltag oft zu kurz kommt. So berichtete es auch Felix Flesche von der Letternpresse im bayerischen Wessling. Vor zwei Jahren war er als Besucher in Frauenfeld und nun erstmals mit einem eigenen Stand. Sein Schwerpunkt ist das Drucken mit Tagesleuchtfarbe auf kleinen Formaten. In Leonie Amslers Atelier Mirla stehen die Pflanzen im Mittelpunkt. Die Baslerin war ebenfalls neu als Ausstellerin an der Messe und präsentierte ihre Monotypien – ein selten gewordenes Handwerk, das an der Handpressenmesse am richtigen Ort ist. Jede Monotypie ist ein Einzelstück, genau wie die ausgestellten Künstlerbücher des Forum Künstlerbuch Basel.

Von der Streichholzschachtel zum Weltformat
Das Künstlerbuch darf vieles, was andere Bücher nicht können oder dürfen oder nur ausnahmsweise. Sie kommen in Streichholzschachtelform daher oder als Memory, als Leporello oder als handgemaltes Unikat. Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Schweiz publizieren hier. Die ganze Vielfalt der Druckkunst präsentiert druckwerk print and art. Der Verein betreibt in Basel ein offenes Atelier und Dorothee Dieterich betont: «Wir haben alles ausser Siebdruck.». Wie viele andere Ausstellerinnen und Aussteller arbeitet der Verein auch in der Vermittlung. Das gilt beispielsweise für die Handbuchbinderei Merten aus Gottlieben am Bodensee oder das Basler Kunsthandwerk «Buchbinden». Bei der ersten wurden alle angesprochen, die selbst gern von Hand schreiben: mit ebenso schönen wie praktischen Notizbüchern. Die zweitgenannte hat sich unter anderem auf das Binden von Partituren spezialisiert. Verlage wie der Zürcher Triest Verlag, die Verlagsgenossenschaft St. Gallen oder die Dahlemer Verlagsanstalt aus Berlin präsentierten gut gestaltete Bücher mit Covern von grafisch bis typografisch, von malerisch bis fotografisch. Andere Stände boten Kalender für das kommende Jahr und bei Annegret Frauenlob, die nach 2016 und 2022 zum dritten Mal an der Messe teilnahm, war zu erfahren, dass bereits der Kalender für 2026 in Planung ist. Dann findet auch die nächste Handpressenmesse statt. Das neue Team rund um die Co-Präsidentinnen Berrit Fuhrmann-Stieler und Karin Gubler ist bereits an der Arbeit für die nächste Ausgabe.

Rückblick Handpressenmesse 2024 (www.buch-und-druckkunst-messe.ch)