Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

ICH TIER WIR/Jeannette Vogel

St.Gallen — Rosa, rund, riesig steht das Tier auf dem Papier. Ist es ein Schwein? Ein Fuchs? Egal; es ist ein schönes Geschöpf. Die Umrisslinie hat Jeanette Vogel hier wie in ihren anderen Tierzeichnungen mit sicherer Hand gezogen, die Binnenfarbe markant gesetzt. Ein grosses Konvolut ihrer Werke hat das St.Galler openart museum vor einigen Jahren von einer Zürcher Klinik als Schenkung erhalten. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt Ausschnitte daraus zu zeigen: Das Museum für Art Brut, Outsider Art und Naive Kunst präsentiert mit ‹Ich Tier Wir› eine als interdisziplinär deklarierte Wanderausstellung. Sie wurde gemeinsam mit dem Schaffhauser Museum zu Allerheiligen und dem Naturama Aargau entwickelt. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier ist facettenreich und wird sehr unterschiedlich bewertet. Die Zusammenarbeit der Institutionen ist deshalb ein richtiger Schritt, aber daraus entsteht noch nicht automatisch Interdisziplinarität. Die zeitgenössische Kunst steht in der Ausstellung ebenso für sich wie die Bauernmalerei oder die dokumentarischen Videos. Besser funktioniert die Interaktion der Disziplinen in den Arbeiten der Masterstudierenden im Fach Transdisciplinarity der Zürcher Hochschule der Künste. Sie untersuchen künstlerisch und wissenschaftlich die Gefangenschaft von Tieren. Ob die Haltung von Nutztieren oder Tiere als Projektionsfläche für Emotionen – vieles kann die Ausstellung nur andeuten, aber Denkanstösse liefert sie allemal.


open art museum, bis 27.7.
www.openartmuseum.ch

Wolfgang Tillmans: Weltraum

Dresden, Paris — Unvoreingenommen, interessiert, zugewandt – so begegnet Wolfgang Tillmans (*1968) der Welt mit seiner Kamera. Das beiläufige Stillleben auf dem Fensterbrett ist der nächtlichen Metropole ebenbürtig, das Gestrüpp am Strassenrand dem Kernforschungszentrum CERN. Alles ist wertvoll, nichts bedeutungslos. Seit fast vier Jahrzehnten beobachtet Tillmans auf einzigartige Weise die Dinge, Menschen und Zustände. Langweilig wird dieser alles umfassende Blick nie, das liegt an der ihm innewohnenden Empathie und daran, wie er präsentiert wird: Der Künstler hat für seine Fotografien eine charakteristische Art der Hängung entwickelt und zeigt sie aktuell im Dresdner Albertinum. Hier, im grossen Saal, in dem jüngst das Werk Caspar David Friedrichs als abgedunkeltes Kammerstück inszeniert wurde, ist jetzt alles hell und licht. Auch die zusätzlichen Wände durchtrennen den Raum nicht, sondern vergrössern ihn: Sie schaffen Inseln, ohne den Fluss der Ausstellung zu unterbrechen. Themen, Orte, Zeiten gehen ineinander über und werden in immer wieder neue Beziehungen gesetzt. Sorgfältig wählt Tillmans die Formate, Positionen und Präsentationsart. Die Bilder sind gerahmt oder an die Wand gepinnt, mehrere Meter breit oder passen in ein Fotoalbum. Bisher nicht gezeigte Werke hängen neben solchen, die als Coverbild populär geworden sind. 150 Werke sind in der atmosphärischen Schau versammelt. Wer noch mehr sehen will: Bevor das Centre Pompidou für fünf Jahre wegen Bauarbeiten schliesst, stellt Tillmans mit einer Carte blanche in den 6000 m² der Bibliothèque publique d’information aus.

Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, bis 29.6.
www.albertinum.skd.museum
Centre Pompidou, Paris, bis 22.9.
www.centrepompidou.fr

«Auf der Strasse» – Rein ins Museum

Vaduz — Programmatisch steht eine Frage am Anfang der Ausstellung: «Weisse Wände?» hatte irgendwer irgendwann auf eine Wand gesprayt, irgendwo in einer Stadt. Ovidiu Anton hat die Umrisse des Schriftzuges auf Papier übertragen und das Blatt mit dicht gesetzten Strichen bis zum Rand hin ausgefüllt. So bildet das ursprüngliche, anonyme Graffiti eine Leerstelle und fragt inmitten der weissen Wände des Kunstmuseum Liechtenstein nach ebensolchen: Das Gebäude ist als klassischer White Cube konzipiert. Ausgerechnet hier ist nun die Strasse eingezogen mit ihrem Dreck, ihren Widersprüchen, ihrem Leben: «Auf der Strasse» widmet sich den Räumen in der Stadt – Räumen, in denen spaziert und protestiert wird, wo sich Menschen treffen – zufällig oder absichtlich, wo sie verweilen oder weiterziehen. Diese Orte sind für die Menschen gemacht oder richten sich gegen sie, indem Sitzmobiliar das Liegen verunmöglicht oder dem Autoverkehr der Vorrang gegeben wird. Diese Orte werden gepflegt oder verwahrlosen, sie sind ideologisch aufgeladen oder verbaut.
Die Kunst setzt sich seit langem mit dieser Vielfalt auseinander. Ihr Material ist jenes der Strasse, sie verwendet Abfälle, Übrigbleibsel oder das städtische Mobiliar. Sie thematisiert Zustände und Verhaltensweisen in oft fragilen oder temporären Arbeiten und mit Aktionen, die oft nur fotografisch oder filmisch dokumentiert sind. Diese heterogene Fülle in einer musealen Ausstellung schlüssig und angemessen zu präsentieren, ist ein herausforderndes Unterfangen. Das Kunstmuseum Liechtenstein reagiert darauf mit einer klaren inhaltlichen Struktur, die gleichzeitig freie Zuordnungen erlaubt und sich in einen Parcours einfügt, der zum Innehalten ebenso einlädt wie zum Flanieren. Die Ausstellung ist in vier Themenblöcke unterteilt: Sie beginnt mit dem Auflesen und Sammeln. Der nächste Raum ist dem Gehen gewidmet, der dritte dem Pflegen und Putzen und der vierte schliesslich dem Leben auf der Strasse und dem Protest. Diese Einteilung lässt Raum für unterschiedliche Lesarten – viele der über zwei Dutzend künstlerischen Positionen sind in mehreren Themenfeldern vertreten. In jedem Raum bilden klassisch gewordene Werke aus den 1950er bis -60er Jahren einen inhaltlichen und optischen Ankerpunkt, darunter Arbeiten von Agnès Varda, Adrian Piper, Stanley Brouwn oder der Situationistischen Internationale. Daneben werden Künstlergrössen wie Pope L. oder Francis Alÿs gewürdigt, und junge Positionen wie Martina Morger oder Majd Abdel Hamid erhalten einen Platz. Mit dieser gelungenen Zusammenschau wird die Kunst, die draussen, auf den Bürgersteigen, Plätzen und Strassen entstanden ist, schlüssig in den musealen Kontext überführt.


Kunstmuseum Lichtenstein, bis 31.8.
www.kunstmuseum.li

Schön und schräg: Keramik in der Kunst

Das Kunstmuseum Appenzell präsentiert als erstes Museum der Schweiz eine internationale Schau zu Keramik in der zeitgenössischen Kunst. Die ausgestellten Werke von 13 Künstlerinnen und Künstlern zeigen die grosse Vielfalt der Materialien Ton und Porzellan.

Keramik kann Vieles. Sie kann Gefäss sein oder Zahnersatz. Sie kann im Baugewerbe eingesetzt werden oder in der Autoindustrie. Keramik ist ein Gebrauchsmaterial, seit Jahrtausenden. Aber Keramik kann mehr als einem Zweck dienen. Tier- und Menschenfiguren aus Ton gehören zu den frühesten Kunstwerken der Menschen. Und das Material fasziniert Künstlerinnen und Künstler noch immer, wie die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Appenzell zeigt. Sie versammelt 13 aktuelle Positionen. Die Auswahl haben die Kuratorinnen der Ausstellung gemeinsam getroffen: Stefanie Gschwend, Direktorin des Museums, und Felicity Lynn, Fachbereichsleiterin Gestaltung und Kunst an der Hochschule der Künste in Bern. Die beiden kennen sich von ihrer gemeinsamen Arbeit am Kunsthaus Centre d’art Pasquart in Biel. Für «Klang der Erde» haben sie sich aus der langen Liste möglicher Positionen auf jene konzentriert, die experimentell an die Keramik herangehen. Immer wieder werden dabei auch die Grenzen zum Handwerk ausgelotet.

Skurrile Lampen und rauchende Frösche

Die elf Räume des Kunstmuseums sind unterschiedlichen Themen zugeordnet. Sie reichen von «Architektur und Symbolik», über «Zerbrechliche Monumente» oder «Natur und Lyrik» bis zu «Humor und Abgrund». Dies erfährt, wer mit dem Begleitbüchlein durch die Ausstellung geht. Wer sich hingegen ganz aufs Schauen verlässt, wird diese Einordnungen nicht vermissen. Denn die Themen sind keine zwingenden Übertitel. Ohnehin taucht vieles mehrmals auf, so etwa die Architektur als Motto, aber die künstlerischen Positionen: Alle Künstlerinnen und Künstler sind mit mehreren Werken vertreten. Die skurrilen Lampen von Carmen D´Apollonio sind beispielsweise in drei Räumen zu sehen. Die in Zürich geborene Künstlerin verbindet das Künstlerische mit dem Funktionalen: Die Objekte leuchten nicht nur. Auf ihnen wuchern Pilze, oder ein überdimensionaler Wurm zwängt sich durch ein Lock im Lampensockel. Schräg und humorvoll sind auch die Keramiken von Lindsey Mendick aus England. Aus einer Tasche lässt sie verdorbene Lebensmittel quellen oder platziert auf Bierdosen blaue Frösche mit Zigarettenstummeln im Maul. Die Künstlerin untergräbt lustvoll die Vorstellungen davon, was nützlich und was dekorativ ist. Die Glasuren für ihre Arbeit stellt sie selbst her und verwendet sie in üppiger Fülle.

Individualisten statt Massenproduktion

Den denkbar grössten Gegensatz zu dieser Pracht der Formen und Farben bilden die Werke von Edmund de Waal. Der Engländer lotet das poetische Potential von Alltagsobjekten aus. Für seine von Japanischer Keramik inspirierte Kunst wurde er ebenso mit Preisen bedacht wie für seine Bücher. Er zeigt in Appenzell Gefässe in schlichten Formen und ausschliesslich in schwarz oder weiss. Sie stehen mannshoch im Raum oder sind dünnwandig in schmalen Vitrinen angeordnet zusammen mit Folien aus Gold oder Silber. Jedes der Gefässe ist Teil eines grösseren Ganzen und doch ein Individualist. Das gilt auch für die «Hochhäuser» der Berliner Künstlerin Isa Melsheimer. Wie Kakteen ragen sie grün und schmal in die Höhe. Zu fünft bilden sie eine kleine Siedlung und stehen trotzdem für sich mit ihren Nuancen in Grösse, Gestalt und Glasur. Melsheimer schätzt diese Vielfalt des Materials, die sich ohnehin nur bedingt beeinflussen lässt. Davon berichtet auch Claire Goodwin, die aus Birmingham stammt und in Zürich lebt: «Das Resultat lässt sich nie vorhersehen. Selbst beim gleichen Ton und derselben Temperatur im Brennofen, kann etwas völlig Unterschiedliches herauskommen.» Goodwin arbeitet mit selbsthergestellten Kacheln, die sie zu einem keramischen Bild zusammenfügt oder mit Möbelelementen kombiniert. Damit verweisen sie sowohl auf die Plättli in der Küche und die Geschichten, die dort ausgetauscht werden, wie auch auf die ungegenständliche Malerei der Künstlerin. Keramik kann eben alles: nützlich sein oder frei, schön sein oder schräg, Kunst sein oder Küchendeko.

Kapital prägt Landschaft und Baukultur

Erben beeinflusst die Baukultur. Wenn Vermögenswerte in neue Hände übergehen, manifestiert sich das im baulichen Gefüge eines Ortes. Das Zürcher Künstlerduo Michael Meier und Christoph Franz ist dieser These nachgegangen und präsentiert die Antworten im Zeughaus Teufen.

Teufen — Wasser hat eine grosse Kraft. Es transportiert Steine, formt die Landschaft, treibt Maschinen an und bewegt die Menschen. Sie kommen dorthin, wo das Wasser ist. Das gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für ihre Unternehmen: ohne Wasserläufe keine Industrialisierung, ohne Industrialisierung keinen Wohlstand für jene, die sie vorantreiben. Michael Meier (1980) und Christoph Franz (1982) untersuchen solche Zusammenhänge und auch das, was passiert, wenn Unternehmen und Besitz in neue Hände kommen, wenn Macht weitergegeben, hinzugewonnen oder geteilt wird. Das Zürcher Künstlerduo hat im ausserrhodischen Teufen ein ideales Studienobjekt gefunden. Wachstum und Gestalt der Ortschaft ist über lange Zeit von einer Handvoll Familien geprägt worden. Dreien davon widmen Meier und Franz das Projekt ‹Drei Geschichten›. Es besteht aus drei Teilen: der Ausstellung im Zeughaus Teufen, einer zweiteiligen Publikation und Interventionen in drei Teufener Bachtobeln.
Meier und Franz setzen sich seit bald 20 Jahren gemeinsam mit der gebauten Umgebung der Menschen auseinander. In städtischen und ländlichen Räumen erkunden sie bauliche Normen und Besonderheiten und deren gesellschaftliche Wechselwirkungen. Am Anfang stehen oft ausgedehnte Spaziergänge, hinzu kommen Recherchen, Notizen und die Synthese der Erkenntnisse. Unterstützung holen sie sich vor Ort bei Historikerinnen und Historikern und in ihrem kreativen Netzwerk. In Teufen stiessen sie auch bei den drei Familien auf grosses Wohlwollen. Und so sind detaillierte Familienchroniken ein Baustein des Projektes. Sie sind als grossformatige Wandtafel in der Ausstellung abgebildet, sind Kern der Publikationen und im Zeughaus Teufen in Hörstationen transformiert. Ebenso wichtig sind die geografischen Daten der Familienbesitzungen. Sie sind in ein System aus Koordinatentafeln in die Publikation eingeflossen und wurden auf Steine in drei ausgewählten Bachläufen gemeisselt. Eine dreiteilige Videoinstallation bringt die Atmosphäre entlang dieser Bäche eindrucksvoll in die Ausstellung. Die behauenen Koordinatensteine hingegen verbleiben in der Landschaft und werden unter dem Einfluss des Wassers verwittern. Letzteres ist nur eine Frage der Zeit – wie bei den Familiengeschichten: Das Ergebnis von Meiers und Franz´ künstlerischen und historischen Recherchen sind treffende Bilder für das komplexe Zusammenwirken von Geschichte, Geografie und Kapital.

Zeughaus Teufen, bis 25. Mai
www.zeughausteufen.ch

Majd Abdel Hamid / Sofía Salazar Rosales

St.Gallen — Nadel und Faden und ein kleines Stück Stoff, mitunter nur handtellergross – mehr braucht Majd Abdel Hamid nicht, um Objekte herzustellen, die poetisch, tiefsinnig und ebenso reduziert wie präzise sind. Der 1988 in Damaskus geborene Künstler stickt mit Kreuzstich auf Leinen, Baumwolle oder Seide. Er arbeitet langsam und konzentriert, setzt die Stiche dicht und in wenigen Farben. In ‹Resonances motifs›, 2024/25 verwendet er hauptsächlich Grün- und wenige Weisstöne. Damit schlägt er die Brücke zu Pflanzen aus der Gattung der ‹Ewigblätter› (botanisch ‹Aeonium›). Sie haben ihn zu dieser Installation mit Stickereien und Polaroids motiviert. Einem Exemplar sah der Künstler an seinem Küchentisch in Beirut wochenlang beim Wachsen zu. Um diesen Prozess abbilden zu können, suchte er stickend ein passendes Motiv. Die Installation zeigt die Suche ebenso wie das Resultat: kleine Vierecke aus wenigen Stichen. In anderen Serien wiederholt er diese Grundform, bis daraus Muster entstehen. Für Majd Abdel Hamid ist diese Art zu arbeiten gleichbedeutend damit, über Dinge nachzudenken, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken in der lauten, schnelllebigen Welt. In anderen Werken versammelt er kleine Fundstücke aus Stoff, die er auf seinen Reisen zusammengetragen hat. Das Interesse, Orte und Zeiten zu verbinden, treibt auch die Künstlerin Sofía Salazar Rosales an. Sie ist 1999 in Equador geboren, lebt in Amsterdam und zeigt in dieser Doppelausstellung ihre Werke erstmals in einer Schweizer Institution. Im Gegensatz zu Majd Abdel Hamid arbeitet sie mit einer riesigen Materialvielfalt von Glas, Gips, Epoxid über Bronzepulver, Kupfer, Eisenspänen bis hin zu Pflanzensamen, Bastelpapier, Beton oder Watte. Ihre Installationen sind raumgreifend, ihre Objekte sehen oft ermüdet aus und sind betont behelfsmässig zusammengebastelt: Nur mühsam hält sich ein erschlaffter Stahlträger im Raum. Armierungseisen sind erschöpft niedergesunken. Das nachgebildete Blatt einer Tessinerpalme hängt matt an der Wand. Ein wackeliger Raumteiler aus Pappe ist über und über mit Paraffin bekleckert. Mit der widerständigen Ästhetik konterkariert die Künstlerin gängige Vorstellungen von Produktivität und Wert. Auch der Ausstellungstitel passt dazu: ‹Imagínate vivir en Suiza y perderte esto› (span. Stell Dir vor, Du lebst in der Schweiz und verpasst das) spielt auf ein in Lateinamerika beliebtes Meme an, bei dem absurde Alltagssituationen selbstironisch der Schweizer Perfektion vorgezogen werden.
Kunst Halle Sankt Gallen, bis 18.5.
k9000.ch

Fernanda Figueiredo

Stein am Rhein — Vielleicht sind sie einander begegnet. Möglich ist es, schliesslich weilten die brasilianische Künstlerin Tarsila do Amaral (1886–1973) und die Schweizerin Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) zur gleichen Zeit in Paris und verkehrten in ähnlichen künstlerischen Kreisen. Ein Treffen der beiden ist jedoch nicht belegt. Zusammen gefunden haben sie trotzdem: dank Fernanda Figueiredo (*1978). Die in Berlin lebende Brasilianerin hat aus dem Werk der beiden Künstlerinnen eine einzigartige Symbiose entwickelt. Mit der Akribie einer Restauratorin hat sie Farbstudien angefertigt und Malmaterialien untersucht. Mit wissenschaftlichem Blick hat sie die Formensprache der Avantgardistinnen analysiert und sich eine fundierte Basis erarbeitet: Figueiredo kombiniert die klare Geometrie und die wohlausbalancierte Farbigkeit der Skizzen und Bilder von Sophie Taeuber-Arp mit den prallen organischen Formen aus den Gemälden von Tarsila do Amaral. Sie verwendet Taeuber-Arps Textilentwürfe als Bildhintergrund oder entnimmt ihnen einzelne Elemente. Diese setzt sie neu zusammen und mischt sie mit Versatzstücken aus do Amarals opulenten Bildwelten. Bäume, Palmenblätter in üppigem Grün, leuchtende Blüten und Früchte erhalten durch klare geometrische Flächen einen Rahmen und eine Ordnung.
Auf diese Weise trifft Ungegenständlichkeit auf Abstraktion und Zweidimensionalität auf Schattierungen und Lichteffekte, die eine räumliche Illusion erzeugen.
Figueiredo konstruiert aus den beiden modernen Positionen neue, eigene Bildräume. Ihre Gemälde in ‹Stattdessenfarbe› im Kulturhaus Obere Stube zeigen eine grosse Pracht an Farben und Formen. Zudem gibt die Ausstellung einen Einblick in die Werkstatt der Künstlerin. Figueiredo war 2021 Stipendiatin der Artist Residency Chretzeturm in Stein am Rhein und hat sich auch in dieser Zeit mit künstlerischen Referenzen und Einflüssen beschäftigt. In Vitrinen sind Reproduktionen der Werke von do Amaral und Taeuber-Arp zu sehen, auf die sie sich bezieht, sowie Schriften und Entwürfe der beiden Künstlerinnen. Ausgestellt ist das Milimeterpapier, auf dem Figueiredo versucht, möglichst genau die verwendeten Farbtöne zu treffen. Auf Transparentpapier überträgt sie die Motive. Auf Baumwolle prüft sie, wie sich das Farbmaterial verhält. Den Gemälden ist dieses Herantasten nicht mehr anzumerken. Sie sind kompositorisch ausgewogen, präzise in der Formensetzung und motivisch voller Erzählfreude.

Kulturhaus Obere Stube, bis 8. Juni
kulturhaus-oberestube.ch

GAFFA

Arbon — Durch dieses Tor? Niemals! Die Breite würde passen, aber der Wendekreis ist viel zu gross. Das Auto steckt fest – in der Kunsthalle Arbon. Es gibt kein vor und kein zurück, dafür aber uneingeschränkte Präsenz für die Limousine: Sie muss sich den Raum nicht mit dem üblichen Stadtmobiliar teilen, nicht mit Häusern, Bäumen oder anderen Autos; nur mit vier Objekten aus dem Verkehrskontext.
Ob Parkkarte, Parkleitsystem, Verkehrsschild, Pylon oder Limousine – das Künstlerkollektiv GAFFA hat für ‹Level Up› die Dinge ins Überdimensionale wachsen lassen, in andere Materialien übertragen oder farblich ad absurdum geführt. Das Alltägliche ist ins Groteske übersteigert. Diese Arbeitsweise wenden die vier Kollektivmitglieder seit Jahren in ihren Zines an. Sie spielen sich die Themen zu, drehen sie um und weiter, assoziieren formal und inhaltlich. Je gewöhnlicher die Ausgangslage, desto besser. Der aufmerksame GAFFA-Blick findet überall das Potential für Komisches, Schräges oder Durchgeknalltes. Respektlos und mit Witz nehmen sie es in die ästhetische Mangel. Und dann? Wer sich amüsieren will, ist mit den Zines und den dreidimensionalen Werken ebenso gut bedient, wie jene, die gesellschaftskritische Untertöne herauslesen wollen. Das Vierer-Kollektiv drängt niemandem eine Lesart auf, sondern treibt ein autonomes, lustvolles Spiel mit dem Bekannten, in diesem Fall mit den Auswüchsen des sogenannten motorisierten Individualverkehrs.

Kunsthalle Arbon, bis 11. Mai
kunsthallearbon.ch

Die Kunst auf der Strasse

Strassen und Plätze sind spätestens seit den 1960er Jahren der Ort für radikale und poetische künstlerische Aktionen. Das Kunstmuseum Liechtenstein widmet ihnen eine gross angelegte Ausstellung.

Francis Alÿs schob 1997 einen Eisblock durch Mexico City. Pope L. kroch in den frühen 2000er Jahren im Superman-Anzug durch New York. Stanley Brouwn liess sich 1992 in Amsterdam von zufällig ausgewählten Menschen den Weg zeigen. Für viele Künstlerinnen und Künstler ist die Strasse ein wichtiger Aktionsraum. Für andere ist sie ein Ort für Beobachtungen oder ein Reservoir von Dingen, die sich sammeln lassen. Das Kunstmuseum Lichtenstein widmet der Kunst auf der Strasse eine umfangreiche und sehr sehenswerte Ausstellung. Das ist nicht selbstverständlich, denn das Konzept birgt ein Dilemma: Was passiert mit der Kunst der Strasse, wenn sie ins Museum geholt wird? Wie gelingt es, sie lebendig zu halten? Ein Mittel ist die durchdachte Ausstellungsarchitektur und Szenografie: Sie lädt gleichermassen zum Flanieren wie zum Innehalten ein.

Auflesen und Sammeln in der Stadt

In jedem Raum gibt es graue Plattformen mit Bank- und Wandelementen. Sie bilden einen kleinen Platz und sind den Werken der Pioniere und Pionierinnen vorbehalten. Zu diesen gehört beispielsweise Agnès Varda, die 2019 verstorbene Filmemacherin der Nouvelle Vague. Ihr später Film «Les glaneurs et la glaneuse» wird hier in Ausschnitten gezeigt und einmal im Monat im Auditorium in voller Länge.
Agnès Varda hat Menschen begleitet, die auf Feldern, Wochenmärkten und in Strassen Übriggebliebenes auflesen. Das Motiv des Sammelns ist zentral in dieser Ausstellung. So sammelt der in Wien lebende Rumäne Ovidiu Anton Graffitis. Die schnellen Schriftzüge übersetzt er in Leerstellen, indem er deren Kontur auf weissen Blättern sorgsam umstrichelt. Die Brasilianerin Rivane Neuenschwander liest Dinge auf wie weggeworfene Fahrscheine, Kassenzettel, Einkaufslisten, abgerissene Kofferanhänger oder Preisschilder und ordnet diese Zufallsfunde.

Hinsehen statt Wegschauen

Immer wieder in der Ausstellung fällt diese besondere Aufmerksamkeit für das oft Übersehene auf. Die Künstlerinnen und Künstler richten ihren Blick dorthin, wo andere ihn mitunter abwenden. Sie messen auch dem augenscheinlich Wertlosen einen Wert bei. Sie würdigen kleine Dinge ebenso wie kleine Gesten. Und sie finden diese Gegenstände oder Ereignisse nicht nur, sondern inszenieren sie auch selbst. So hat beispielsweise der Tscheche Jiří Kovanda in Prag minimalistische Aktionen durchgeführt. Er hat Zucker und Salz aufgehäuft zu einer süssen Kurve und einer salzigen Ecke. Er hat Strassendreck zusammengefegt und wieder verteilt oder sich in der Menschenschlange auf der Rolltreppe plötzlich umgedreht und seinem Gegenüber ins Gesicht geblickt. Die Fotografien dieser Aktionen sind verteilt durch die ganze Ausstellung.
Auch dadurch ist dem Museum ein lebendiger Parcours gelungen: Von fast allen Künstlerinnen und Künstlern sind mehrere Werke zu sehen – an unterschiedlichen Stellen der Ausstellung. Darüber hinaus mischen sich ältere und ganz neue Werke und die künstlerischen Gattungen: Fotografien, Filme, Installationen oder Objekte erhalten alle einen gleichberechtigten Platz.

Die kalte, abweisende Stadt

Damit es in dieser Themen- und Materialfülle kein Durcheinander gibt, ist jedem Raum ein Thema zugeordnet. Das Auflesen und Sammeln bilden den Einstieg. Es folgt das Gehen oder Flanieren im zweiten Saal. Der dritte ist dem Erhalten, Pflegen und Putzen des Stadtraumes gewidmet und der vierte schliesslich dem Leben auf der Strasse und dem Protest. So fügte die Chilenin Lotty Rosenfeld Strassenmarkierungen einen Querstreifen hinzu. Ihre Kreuze gelten als Vorläufer der No+-Bewegung, die schliesslich zum Ende der Pinochet-Diktatur führte. Die negativen Seiten des Stadtraumes thematisiert unter anderem Anna Jemolaewa. Als die Künstlerin nach ihrer Flucht aus Russland 1989 im Wiener Westbahnhof ankam, waren die Bänke in der Bahnhofshalle ihr einzig möglicher Schlafplatz. Auch das ist Kunst auf der Strasse: Sie zeigt die kalte und abweisende Seite einer Stadt, die der Ökonomie mehr dient als den Menschen.

Urs Frei, Adrian Schiess, Matthias Bosshart

Rapperswil-Jona — Urs Frei ist vor zwei Jahren gestorben. Der Zürcher Künstler wurde 65 Jahre alt. In den 1980er und 1990er Jahren war er in grossen Institutionen präsent, zuletzt jedoch wurden die Ausstellungen seltener. Das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil würdigt den Künstler nun in einer gemeinsamen Schau mit dessen Freunden Matthias Bosshart (1950) und Adrian Schiess (1959). Der Ausstellungstitel ‹Es ist sehr schön, was Du gemacht h…› steht für die enge Verbindung der drei Künstlerkollegen: Man war in stetigem Austausch, verfolgte, was die anderen beiden taten und würdigte einander. Führt dieses Dreieck der Positionen zu künstlerischen Parallelen? Haben sich die Freunde gegenseitig beeinflusst? Die Ausstellung stellt keine Thesen auf, die sorgfältige Inszenierung erlaubt jedoch fruchtbare Vergleiche. Urs Frei arbeitete mit dem rohen Material. Leere Farbeimer und -dosen verwendete er ebenso wie Karton, Schnüre oder einen alten Besen. Für seine Collagen schnitt er Papier und Pappe zu ringförmigen, ovalen Formen, die er auf gleichmässige Rechtecke klebte. Jedes Material, jede Form konnte Farbträger sein. Und die Farbe floss üppig. Tropfen, aufgeplatzte Farbblasen, eingetrocknete Rinnsale bedecken die Oberflächen: Farblandschaften, wie sie auch bei Adrian Schiess zu finden sind. Doch Schiess geht die Sache anders an. Das ‹Gemachte› ist bei ihm kalkulierter und konzeptueller als bei Frei. Während bei Frei das Gestische, Unmittelbare im Vordergrund steht, betont Schiess die Malerei als kompositorische Gattung: Was kann, was soll die Malerei? Auch bei Schiess finden sich Farbeimer, Karton und Papier als Maluntergrund, aber in Werken wie ‹Vollmond im Winter›, 2004 oder ‹Vollmond mit Hof›, 2023 wird der zusammengedrückte Farbeimer zum Himmelskörper deklariert. Schiess setzt mit diesen Bezügen eine feinsinnige Kritik an der Bedeutungshuberei im Kunstbetrieb. Auch Matthias Bossharts Arbeiten lassen sich als Kommentar zur Malerei lesen. War er in den 1980er Jahren noch als Experimentalfilmer tätig, wandte er sich in der Folge dem Tafelbild zu, blieb jedoch bei seinem früheren Arbeitsmaterial: Filmstreifen sind in seinen Werken nach geometrischen Konzepten angeordnet und deklinieren die geometrische Abstraktion durch – von Hard Edge bis zu Op Art: Der Künstler setzt die Malerei mit anderen Mitteln fort und steht damit in dieser Ausstellung nicht nur als Freund, sondern auch künstlerisch in sinnigem Bezug zu Frei und Schiess.

Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil-Jona, bis 4.5.

kunstzeughaus.ch