Benoît Billotte ist ein Reisender. Er streift durch die Zeiten, durch die Botanik, durch Kartenmaterial, durch kulturelle Landschaften. Die auf diesen Erkundungstouren gesammelten Materialien fliessen oft unmittelbar in seine künstlerische Arbeit ein. So färbt Billotte beispielsweise Stoffe mit Pflanzen, verwendet sie als Bilduntergrund oder als Motiv. Mit feinsinnigen, fragilen Werken lenkt er den Blick auf den weiten Weg der Pflanzen um die Welt. In seiner ersten musealen Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum hat der Gebrauchswert der Pflanzen ebenso Platz wie ihre Verwendung als Dekorations- oder Prestigeobjekt.
Rapperswil — Stadtpläne, Landkarten, Atlanten – zur räumlichen Orientierung werden die analogen Medien der Kartografie kaum noch genutzt; digitale Navigationssoftware hat sie längst abgelöst. Ihren Reiz haben sie dennoch nicht verloren. Ihre Vielfalt reicht von der schnell auf der Rückseite einer Quittung hingeworfenen Wegbeschreibung über jahrhundertealte Seekarten bis zur sorgfältig von Kinderhand gezeichneten Schatzkarte. In all diesen Kartenvarianten lassen sich Informationen unterbringen, die kein Navigationsgerät liefern kann. Sie sind individuell sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt. Sie transportieren Aussagen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, fantastische Ideen oder Hinweise auf die Urheberschaft. Benoît Billotte arbeitet mit diesen verschiedenen Ebenen und Qualitäten des Kartenmaterials. Der in Metz geborene Künstler fertigt selbst neue Karten an und greift dafür auch auf bestehende zurück. Damit knüpft er ein dichtes Netz von Bezügen, in deren Zentrum die Welt der Pflanzen steht.
Kunst ohne Ewigkeitsanspruch
Bereits über die Flügel der gläsernen Eingangstür des Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zieht sich eine feingliedrige Installation: ‹Fondements›, 2024, zeigt ein Wurzelgeflecht, gezeichnet aus Sand. Das Motiv hat Billotte dem Wurzelatlas von Lore Kutschera und Erwin Lichtenegger aus den 1960er Jahren entlehnt. Das Buch versammelt Zeichnungen von Wurzeln, zweidimensional aufgefächert bis in ihre kleinsten Verästelungen. Sie lassen sich aus Sand zwar weniger feingliedrig darstellen, sind aber dank der körnigen Struktur ebenso detailreich. Zudem ist das Sandbild vergänglich. Es hält dank Plakatkleber auf der Scheibe und wird nach der Ausstellung einfach mit Wasser abgewaschen.
Billotte bekennt sich ausdrücklich zum Ephemeren: «Meine Arbeit thematisiert die Zeit und die Endlichkeit. Damit entspricht sie uns Menschen. Ich will keine Werke mit Ewigkeitsanspruch kreieren.» Dieser Verzicht auf massive, alles überdauernde Werke durchzieht die gesamte Ausstellung und verleiht ihr eine grosse Leichtigkeit. ‹Le 4ème mur›, 2024, beispielsweise ist eine zarte und doch raumbildende Installation: Der Vorhang schliesst den Treppenaufgang zum oberen Ausstellungssaal hin ab und öffnet ihn zugleich. Er ist mit Säften von Kurkuma, Genet, Reseda und Birke gefärbt und ist inspiriert von den Arbeiten Anni Albers’ (1899–1994). Die Künstlerin schuf textile Raumteiler für grosse Gebäude, ähnlich konstruiert Benoît Billotte eine Eingangssituation: «In der Ausstellung habe ich eine Reise inszeniert. Sie beginnt bereits bei der Tür im Erdgeschoss mit dem Wurzelbereich. Oben folgt der Überraschungsmoment eines Vorhanges: Nach dem Durchschreiten ist eine Entscheidung notwendig. Du musst aktiv werden und Deine Wahl treffen. Der linke Teil der Ausstellung ist dem Meeres- und Küstenleben gewidmet, der rechte Teil der Erde, den Bäumen und Blättern.»
Pflanzen als Behältnis, Farbe, Dekor
In beiden Ausstellungsteilen sind Pflanzen das Material und das Thema zugleich: «Pflanzen werden als Medizin genutzt, als Nahrung, Baustoff und als dekoratives Element. Mir liefern Pflanzen natürliche Tinte und ich schätze besonders die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten von Blättern im Nahrungszusammenhang. Sie werden eingesetzt als Geschirr, als Kochbehältnis und zur Aufbewahrung. Das gilt für Bananenblätter ebenso wie für Mais-, Lotus- und Bambusblätter.» Benoît Billotte bedruckt beispielsweise kreisrunde Ausstanzungen von Bananenblättern – erworben als pflanzliche Teller in einem Lebensmittelgeschäft – mit Reprofotografien aus der Keramiksammlung des Genfer Musée Ariana. Das jahrtausendealte Bedürfnis, Essgefässe mit pflanzlichen Motiven zu dekorieren, verbindet er mit dem Essgefäss selbst und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Mehrwert der Pflanzen. Auch diese Arbeit ist dem Verschwinden geweiht: «Die Bananenblätter zerstören sich selbst. Sie werden braun und zerfallen. Für mich ist das in Ordnung.»
Auf andere Weise werden die beiden grossen Stofflandschaften langsam verschwinden: ‹Le carrefour est le seul endroit qui existe›, 2021, und ‹Vivons la croisée des chemins›, 2021, werden im Tageslicht ausbleichen. Der Künstler hat die Baumwolltücher von Hand und mit Naturfarben gefärbt. Die Technik des pflanzlichen Färbens erlernte er während einer Residency in der Casa Proal in Mexiko vor vier Jahren: «Ich lebte dort relativ alleine auf einer Bananenfarm und musste nehmen, was vorhanden war. Alle Pflanzenfarben in der Ausstellung sind selbstgemacht. Ich habe dafür viel experimentiert mit der Menge, der Dauer und den Farbschattierungen.» Die Details der in verschiedenen Schichten gefärbten Vorhänge, die Übergänge und Verläufe, die Linien und Schattierungen gleichen Landschaften und Territorien. Hinzu kommen Federstiftzeichnungen. Hier mischt Billotte Reales mit Fantastischem. Die Seekarte markieren beispielsweise Segelschiffe und Meeresungeheuer. Die Landkarte kennzeichnen ein Dromedar, Behausungen aus Pflanzen und ein Astrolabium. Integriert sind ausserdem poetische Textschnipsel wie etwa: «Fremd uns selbst.»
Pflanzen auf Reisen
In alten Karten zeigten die Fabelwesen an, wie gefährlich eine Reise war; mit Phantominseln wurde die Route verunklärt; fremdartige Tiere betonten die Exotik. Billotte untersucht insbesondere die dank der Seefahrt überlieferten Pflanzendarstellungen: «Früher war es wichtig zu zeigen, was man von Reisen mitbrachte. Dies war auch wirtschaftlich bedeutsam und prägte die Ikonographie.» Ein von Früchten und Blüten überquellendes Füllhorn beispielsweise braucht kaum weitere Erläuterungen über Erfolg einer Unternehmung. Ausserdem zitiert der Künstler in ‹De l’abondance›, 2023 – einer Serie von Fotogravüren auf getrockneten Bambusblättern – die Abbildung eines Wardschen Kastens. Erst mithilfe dieser gewächshausähnlichen Konstruktion des englischen Botanikers und Arztes Nathaniel Bagshaw Ward (1791–1868) wurde ab 1833 der massenhafte Transport von Pflanzen aus Übersee möglich. Billotte sucht seine Materialien jedoch am liebsten vor Ort: «Während eines Atelieraufenthaltes in Genf, arbeitete ich im Botanischen Garten. Ich habe mich dort sowohl mit dem handwerklichen Nutzen der Pflanzen beschäftigt als auch mit dem wissenschaftlichen Zugang. Wie viele botanischen Institutionen hat der Botanische Garten Genf eine Bibliothek und eine Sammlung exotischer Pflanzen. Von letzterer ausgehend, habe ich mit den heimischen Pflanzen angenähert.» Für Billotte ist es wichtig, sich auf den Ausstellungsort einzulassen, das gilt für deutlich mehr Aspekte als für die Botanik. In Rapperswil beispielsweise wird das wellenförmige Dach zum Dialogpartner für Werke zur maritimen Lebenswelt. Und es gibt ein weiteres schönes Zusammentreffen: Das Kunst(Zeug)Haus beherbergt eine der grössten Robinson-Bibliotheken weltweit. Als Insel mitten im Ausstellungsraum beherbergt die Sammlung mehr als 4’000 Robinsonaden von Büchern über Zeichnungen und Puzzles bis zu Filmen. Daniel Defoe (1660–1731) bediente mit seiner Geschichte über den schiffbrüchigen Robinson Crusoe die damalige Südseeromantik, Paradies- und Reisesehnsüchte und Vorstellungen von vermeintlicher Allmacht gegenüber der Natur – Themenfelder also, die Benoît Billotte aus heutiger Sicht scharfsinnig analysiert. Eine Robinsonade inszeniert er dabei nicht, ebenso verzichtet er auf Belehrung oder Anklage. Stattdessen setzt er auf Beobachtung und Schärfung der Sinne. Er bringt Fiktives in ein austariertes Verhältnis zur Wissenschaft und Persönliches in einen weltumspannenden Zusammenhang. Billottes Reisen umspannen die Zeit, die Territorien und die Fantasie.
Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstler während des Ausstellungsaufbaus am 10. Februar im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil.