Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Erst wird besetzt, geräumt wird zuletzt

Das Zeughaus Teufen zeigt die Infrastrukturen des Aufbegehrens. Die Ausstellung «Protest/Architektur» wurde durch das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt am Main und das Museum für Angewandte Kunst Wien erarbeitet und vom Team des Zeughaus Teufen für die Schweiz angepasst und ergänzt. Sie ist Schau- und Lehrstück zugleich.

Kuppelzelte fallen in St.Gallen vor allem im Sittertobel auf, wenn das OpenAir-Publikum seine Zeltstadt errichtet. Die halbrunden Zelte sind praktisch, günstig, schnell aufgebaut und nutzen den Platz optimal. Das macht sie nicht nur zu einer der beliebtesten Campingbehausungen, sie sind auch die häufigste Bauform in Protestdörfern: Wenn Menschen gemeinsam und sichtbar für ihre Anliegen eintreten, wenn sie den öffentlichen Raum besetzen und bleiben, dann stehen dort sehr oft die kleinen, bunten Stoffkuppeln. Das war so 2011 während Occupy London, 2019 beim Free Land Camp in Brasilia oder 2020 beim Klimacamp auf dem Bundesplatz. Die Kuppelzelte setzen ein Zeichen, sie markieren den Raum, bieten Schutz vorm Wetter und ermöglichen etwas Privatsphäre. Und obwohl sie kaum mehr sind als ein bisschen Gestänge, sind sie Architektur, in diesem Falle Protest-Architektur. Sie sind Manifestationen des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Zustände, gegen staatliche Gewalt, gegen die Vereinnahmung von Räumen aufgrund privater, wirtschaftlicher oder politischer Interessen.

Neuchlen-Anschwilen mittendrin

Die Vielfalt der baulichen Protestzeichen ist derzeit im Zeughaus Teufen zu sehen in «Protest/Architektur». Die sehenswerte Ausstellung zeigt die baulichen und räumlichen Qualitäten der temporären Widerstandsarchitekturen und spannt dabei den Bogen weit auf. Sowohl zeitlich als auch typologisch und geografisch. Sie reicht von der Julirevolution 1930 in Paris bis zu den Protesten in Haifa im März 2023. Sie führt zum Arabischen Frühling 2011 bis 2013 in Kairo und zum Putschversuch in Burundi 2015, zu den Protesten in Hong Kong 2014 und 2019 gegen die Einflussnahme Chinas und zu den Camps gegen die geplanten Rodungen ab 2012 im Hambacher Wald. Und mittendrin die Schweiz: Die Anti-Waffenpatz-Bewegung Neuchlen-Anschwilen erhält verdienten Raum in der Ausstellung. 633 Tage dauerte die Besetzung des Areals, verhindert werden konnte der Bau des Waffenplatzes nicht, aber das Augenmerk auf die ökologischen Implikationen der Schweizer Armee ist seither gestiegen. Mit vier Tagen Dauer war Shantytown Zürich eine viel kürzere Aktion, sie richtete sich gegen die Kommerzialisierung der Stadt. Weitere Schweizer Beispiele sind die Berner Studierendenproteste 2009 oder das Sans-Papiers-Protestcamp 2010 in Bern.

Von der Versammlung bis zur Räumung

Die Ausstellung verzichtet konsequent auf Modelle und Nachbauten, um die Proteste nicht zu verniedlichen. Anschaulich werden die Aktionen und Camps trotzdem: Das gezeigte Bildmaterial ist von grosser Ausdruckskraft. Es ist in Plakatgrösse reproduziert und – dem Thema angemessen – provisorisch an Holzlatten getackert. Die Fakten werden in kurzen, nüchternen Texten beschrieben, dies passt sowohl zur Menge des Materials als auch zur neutralen Ausstellungsposition. 13 internationale Cases und fünf Schweizer Cases werden ausführlicher präsentiert. Ausserdem werden Typologien vorgestellt von den Barrikaden bis zu den Verzögerungsbauten auf hohen Stützen oder in Bäumen, um die Polizeiräumungen zu erschweren. Auch die Ingenieursbauten bilden eine Kategorie, denn seit Gottfried Sempers Barrikadenbau 1849 beim Maiaufstand in Dresden haben sich immer wieder auch Profis für die Protest-Architektur engagiert. Und schlussendlich blendet die Ausstellung nicht aus, wie es meistens endet: Die Staatsgewalt greift durch. In einem 20-minütigen Video zeigt der Filmemacher Oliver Hardt die fünf Phasen des Protestes: versammeln, bauen, leben, standhalten, auflösen. Aber wie auch immer die Sache ausgeht, im «Chaotendorf» 1981 in Zürich hiess es treffend: «Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass Ihr unsere Gedanken räumen könnt.»

Protest/Architektur

Teufen — Wenige Stunden bis mehrere Jahre, ein paar Dutzend Menschen oder Tausende – Proteste im öffentlichen Raum haben unterschiedliche Intensitäten. Und sie manifestieren sich mit unterschiedlich grossen baulichen Interventionen. Letzteren widmet sich die Ausstellung «Protest/Architektur». Sie wurde entwickelt vom DAM – Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main, und dem MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien. Derzeit ist sie in einer für die Schweiz ergänzten und angepassten Variante auch im Zeughaus Teufen zu sehen. Die Ausstellung präsentiert einerseits eine Chronologie der Proteste von 1830 bis heute und setzt andererseits Schwerpunkte bei einzelnen Fällen, darunter die Anti-Waffenplatz-Bewegung Neuchlen-Anschwilen 1990–1991, Shantytown in Zürich 2005 oder Occupy Genf 2011. Die analysierten Architekturen reichen von der Zeltstadt bis zur Jurte, von Barrikaden aus Fernsehgeräten wie bei den Jugendprotesten 1981 in Zürich bis hin zu Protesten im digitalen Raum: Auch Computerspiele werden für Human Rights Projekte genutzt. Für die Ausstellung wurde aus Holzlatten der vorhergehenden Ausstellung ein Gerüst gebaut, an dem die Fotografien und Infoplakate montiert sind. Ein Film und eine Diainstallation zu juristischen Fragen ergänzen diese Präsentation. Sie biedert sich den Protestarchitekturen nicht an und wertet nicht, sondern leistet einen umfassenden, sehenswerten Überblick über ein globales Thema.

→ ‹Protest/Architektur›, Zeughaus Teufen, bis 9.6.
↗ zeughausteufen.ch

Felix Stöckle

Rapperswil — Die Schlange schwebt. An dünnen Schnüren hängt das Kriechtier mittig im «Seitenwagen» des Kunst(Zeug)Haus Rapperswil und blickt mit grossen Augen in die Welt. Diese Schlange ist weder doppelzüngig noch wendig, eher etwas aufgedunsen – und steif wie ein Brett. Das Schlängeln überlässt Felix Stöckle (*1994) den Buchstaben: ‹Basssselisk› nennt der gebürtige St.Galler seine Ausstellung und feiert mit dem vierfachen, schlangenförmigen S den König der Schlangen. Der stinkende, Unheil bringende Basilisk mit seinem tödlichen Blick hat es von antiken Schriften über die mittelalterliche Überlieferung bis ins zeitgenössische Fantasygenre geschafft und ist immer der Böse geblieben. Das wirkt bis ins reale Leben: Die Ophidiophobie ist die häufigste registrierte Angststörung in Mitteleuropa. Diesem schlechten Ruf stellt Stöckle seine Ausstellung entgegen. Er erinnert daran, dass die Schlange das Attribut des Heilgottes Asklepios ist, er konstruiert Querbezüge zu anderen Kriechtieren und zeigt Ambivalenzen auf beispielsweise anhand der Erzählung des Heiligen Georg. Macht und Ohnmacht, Verteidigung und Angriff, Gut und Böse – diese Dualitäten bieten viel Raum für Zwischentöne. Felix Stöckle arbeitet sie mit einer an Kinderzeichnungen angelehnten Formensprache heraus und setzt zugleich auf handwerklich elaborierte Techniken. Keramik, Kupfer, Wachs, gravierte und eloxierte Aluminiumplatten sorgen für reiche Eindrücke in dieser kleinen, aber sehenswerten Schau.

→ ‹Felix Stöckle – Basssselisk›, Kunst(Zeug)Haus, bis 4.8.
↗ kunstzeughaus.ch

Rund um Duchamp und Urinal

‹Artist´s Choice› spielt den Ball den Künstlerinnen und Künstlern zu. Das Kunstmuseum Liechtenstein lädt sie ein, ihren Blick auf die Sammlung zu zeigen und eine Ausstellung zu kuratieren. Bethan Huws kuratiert nach Martina Morger die zweite Ausstellung dieser Reihe und stellt Duchamp ins Zentrum.

Eine Ausstellung im richtigen Moment: In den Feuilletons wurde kürzlich ausgiebig diskutiert, ob nun Marcel Duchamp tatsächlich Schöpfer der ‹Fountain›, 1917, sei oder nicht vielmehr Elsa von Freytag-Loringhoven. Das Geraune mündete zumeist im Zugeständnis, er – und nicht sie – habe eben doch das Pissoir zum Kunstwerk erklärt und ausgestellt. Bethan Huws ist von diesen Diskussionen unbeeindruckt. Sie kennt die Wahrheit schon lange. Schliesslich hat sie sich intensiv mit dem Werk Duchamps beschäftigt und tut dies noch. Sowohl theoretisch als auch in ihrer Kunst – zu trennen ist das Eine ohnehin nicht vom Anderen, wie ihre Ausstellung in der Reihe ‹Artist´s Choice› im Kunstmuseum Liechtenstein zeigt. Eigens für die Präsentation hat die in Berlin lebende Waliserin vier neue Videos produziert. Sie zeigen die Künstlerin in ihrem Atelier, umgeben von Reproduktionen grosser Werke von Antonello da Messina, Caravaggio, Matthias Grünewald oder eben Duchamp. Sie referiert über ihre Auseinandersetzung mit ‹Fountain›, mit dem Ready-made, der Beziehung zwischen Duchamp und dem Kunstkritiker Guillaume Apollinaire und fasst schliesslich ihre Recherchen zu Duchamp zusammen, die bereits 2014 als Forschungsnotizen veröffentlicht wurden. Die vier Videos verstehen sich als eigenständige künstlerische Arbeiten und sind zugleich Dokumentationen einer vertieften kunsttheoretischen Recherche. Bethan Huws erweitert Duchamps Gedankengebäude in viele Richtungen ausgehend von seinen bevorzugten Farben, von Homonymen, von Zahlensystemen oder dem Schachspiel. Prominent platziert ist ‹Winter (or Reason)›, 2018, eine Schneekugel mit einer originalgrossen Replik des Duchampschen Urinals. Es dreht sich in unregelmässigen Abständen um die eigene Achse und wirbelt Styroporschnee auf. Bezug nimmt Huws damit beispielsweise auf die zahlreichen Verweise auf den Winter Duchamps Werk.
Duchamps ‹Boîtes› und ‹Boites-en-valises› aus der Sammlung des Kunstmuseum Liechtenstein sind ebenso Teil der Ausstellung wie Arbeiten von Thomas Struth, Picasso, Josef Albers oder Lucio Fontana, die von der Künstlerin in Analogie zu Duchamp gesetzt werden. Zu ihrer freien und assoziativen Zusammenstellung gehören auch kleine Abbildungen von Sammlungswerken, die hier gar nicht gezeigt werden. Mit diesen Hinweisen öffnet Bethan Huws den Raum für Werke ausserhalb der Sammlung: Alles, was nicht zu sehen ist, gehört trotzdem dazu, wenn es sich mit Duchamp in Verbindung bringen lässt.

→ ‹Artist’s Choice: Bethan Huws›, Kunstmuseum Liechtenstein, bis 1.9.
↗ kunstmuseum.li

Verletzlichkeit statt Gewissheit

Aykan Safoğlu bricht mit dem festgehaltenen Moment. Denkmäler, Monumente, Historienbilder sind für den 1984 in Istanbul geborenen Künstler keine Sinnbilder für die Ewigkeit, sondern Zeitzeugnisse fragiler Zustände. Brüche und Wendepunkte stehen im Zentrum seiner Arbeit.

Stein am Rhein — Aykan Safoğlus Schulweg führte ihn täglich durch den Istanbuler Tophane Park. Dort ging er immer an einem steinernen Denkmal vorüber. Es war jenen Menschen gewidmet, die seit Anfang der 1960er Jahre zu Hundertausenden von der Türkei aus nach Deutschland emigriert waren, um dort zu arbeiten. Die Figur – ein Arbeiter mit freiem Oberkörper, einen Hammer in beiden Händen haltend – hatte der Bildhauer Muzaffer Ertoran 1973 im Geiste des Sozialismus geschaffen. In den 1990er Jahren wurde sie das Ziel zahlreicher rechter Angriffe, bis sie 2016 aus dem Park verschwand. Für ‹Wiedervereinigung›, 2022 hat Safoğlu hat aus einem Foto der demolierten Skulptur ein Puzzle herstellen lassen. Teilweise sind die Puzzlestücke zusammengesetzt, teilweise breiten sie sich auf dem Parkett des Ausstellungsraumes im Kulturhaus Obere Stube aus. Mit dieser Installation leistet er Künstler zweifache Erinnerungsarbeit: Einerseits thematisiert er die Zerstörung und das Verschwinden der Figur und andererseits findet er ein Bild für den Einfluss der Migration auf Gemeinschaften. Sie lösen sich auf, werden verletzlicher, finden teilweise wieder zueinander.
Aykan Safoğlu hat Film und Fotografie in Istanbul, Berlin und New York studiert und geht in seinen Arbeiten oft von Gedächtnisorten und Monumenten aus. Die Berliner Siegessäule hat er über Jahre hinweg aufgenommen und gestaltet aus diesen Ansichten eine multiperspektivische, digitale Collage. Die Vielansichtigkeit verweist auf die Deutungs- und Aneignungsverschiebungen in der Geschichte des Wahrzeichens. Auch in Stein am Rhein hat der Künstler Ausgangspunkte für seine Recherchen zu historischen Ereignissen und ihrer Verewigung in Bildwerken gefunden. Er hat hier mehrere Monate als Artist in Residence Chretzeurm verbracht und die reich bemalten Fassaden der kleinen Stadt studiert. So illustriert ein Wandbild am Haus zur Sonne die Begegnung zwischen Alexander dem Grossen und Diogenes. Safoğlu übersetzt es in eine langgestreckte Fotografie, die er wellenartig auf dem Boden des Raumes ausbreitet. Die steinernen Dohlendeckel, die in Stein am Rhein den Kampf des Heiligen Georg gegen den Drachen abbilden, überträgt er ebenfalls in ein Puzzle. Auch in diesen Werken gerät die festgeschriebene Geschichte wieder in Bewegung. Gezielt sucht Aykan Safoğlu die fragilen Momente in der Geschichtsschreibung und in deren Repräsentation und übersetzt sie in eine treffende Bildsprache.

Serra bleibt

Ende März verstarb der Bildhauer Richard Serra. Die raumgreifenden Stahlplastiken des weltbekannten Künstlers wurden ebenso gefeiert wie abgelehnt. In der Stadt St.Gallen haben seine Werke einen festen Platz.

Richard Serra und St.Gallen – trotz anfänglicher Skepsis wurde diese Verbindung einzigartig: «In St.Gallen sind drei Arbeiten Serras aus drei verschiedenen Werkserien permanent zu sehen, das gibt es in keinem anderen Ort der Schweiz.» Roland Wäspe, von 1989 bis 2022 Direktor des Kunstmuseum St.Gallen gerät ins Schwärmen, wenn er von Richard Serras Werken in St.Gallen berichtet. Da ist erstens der «Trunk» aus Münster, der im Stadtpark seinen Platz gefunden hat. Dann sind da die beiden Stahlplatten, die im Obergeschoss des Kunstmuseums seit 35 Jahren zugleich stabil und fragil an der Wand lehnen. Ein ganz besonderes Werk schliesslich ist «Corner Pentagon»: Das schwarze Fünfeck im oberen Foyer des Kunstmuseums ist eines der sehr seltenen Wandbilder Serras. Bei der Installation aller drei Werke war Roland Wäspe dabei. Und er hat die Diskussionen zuvor erlebt: Würde der «Trunk» den Stadtpark verschandeln? Passt dieses Werk überhaupt nach St.Gallen? Würde es Max Oertlis «Gauklerbrunnen» die Schau stehlen? Die Fragen wurden ernst genommen: Es gab öffentliche Veranstaltungen, Serra reiste mehrmals nach St.Gallen, vor Ort wurde ein 1:1 Modell aufgestellt. Schliesslich konnten die Kritiker überzeugt und die Finanzierung gesichert werden. 1989, nur zwei Jahre nach der Wiedereröffnung des Museums, wurde der «Trunk» in St.Gallen aufgestellt – ausgerechnet in jenem Jahr, als Serras «Tilted Arc» in New York abgebrochen wurde. Jene knapp 37 Meter lange, geschwungene Stahlplatte auf der Federal Plaza hatte zu viel Anstoss erregt. Roland Wäspe begründet das mit der raumordnenden Kraft von Serras Kunst: «Sie hat etwas Unverrückbares. Das kann durchaus bedrohlich wirken, so als ob einem die Wände entgegenkommen.» In St.Gallen jedoch gab es Erfahrungen mit dem Störungspotential der Kunst: «Mit Serras Stahlplastiken ist es ähnlich wie bei Roman Signers Werken: Gegenüber dieser Kunst ist keine neutrale Position möglich, weil sie auch auf der physischen Ebene eindrücklich ist. Sie verlangt eine eindeutige Haltung.» Das liegt auch an der Präsenz dieser Werke im öffentlichen Raum. Serras Werke messen sich mit grosser Geste mit der Architektur. Aber sie sind auch im Museum am richtigen Platz: Dank des grossen Engagements des Sammlers Heiner E. Schmid sind im Kunstmuseum St.Gallen gleich zwei Werke Serras dauerhaft zu sehen. Das «Corner Pentagon» hat Serra 1988 vor Ort gemalt. Dafür schwärzte er imprägnierte Leinwand mit Wachskreide, montierte sie an der Wand und trug nochmals zwei Schichten des schwarzen Materials auf. Erwärmt wurde die Farbe im Foyer auf einem Bitumenkocher. Abenteuerlich für das Museum war auch die Installation von «Thelma, is that you?». Die zweimal 1,8 Tonnen schweren Platten wurden im Osttrakt an einem eigens installierten T-Träger ins Obergeschoss gezogen und dann zentimeterweise an den endgültigen Ort gebracht, dem einzigen der statisch überhaupt dafür in Frage kam. Zur Lastenverteilung waren auf dem Parkett Aluminiumplatten verlegt. Sie wurden später nochmals gebraucht: Für die Steinskulpturen von Peter Kamm anlässlich seine Ausstellung zum Manor-Kunstpreis. Das ist laut Roland Wäspe kein Zufall: «Auch Kamm ist ein Ur-Plastiker, der an der schieren Physis interessiert ist.» So passt es gut, dass wenige Meter von Serras «Trunk» ein Stein von Peter Kamm seinen Platz gefunden hat. Aber auch die Serra-Geschichte in St.Gallen ist weitergegangen: Mit dem Ankauf der Sammlung Ricke kamen weitere Werke ins Haus. St.Gallen wird also auch nach dem Tod des Künstlers fest mit seinem Werk verbunden bleiben.

Facettenreiches Schwarz

Winterthur — Schwarz ist eine Farbe. Schwarz ist keine Farbe, sondern die Abwesenheit des Lichts. Schwarz ist – im Gegenteil – das Licht selbst. Letzteres war das Diktum des Franzosen Pierre Soulages. Für ihn war Schwarz die aktivste Farbe überhaupt, weil sie alle anderen zum Leuchten bringt. Das kann nur Schwarz. Und es kann noch viel mehr, wie die aktuelle Ausstellung im oxyd in Winterthur zeigt. Sie ist die erste Koproduktion des unabhängigen Kunstraumes mit der Künstler:innengruppe Winterthur. Elf der fast 100 Mitglieder der Gruppe sind in der Schau ‹Facettenreiches Schwarz› vertreten. Ihnen geht es um weit mehr als um die Farbdiskussion: Inhaltlich ist Schwarz das Transportmittel für die Schwere, die Leere, die Trauer, das Vergessen. Formal ermöglicht es Strenge, Konzentration und starke Kontraste. Das thematische Spektrum reicht in der Ausstellung von Gewalt über Mystik bis zum Kosmos. Es ist so breit wie die mediale Vielfalt: Klassische Holzschnitte und Kohlezeichnungen sind zu sehen, Videos und Siebdrucke, Werke aus Seilen oder harzgetränkten Sturmmasken.
Den Einstieg in die Ausstellung macht Bruno Streich mit seiner Serie ‹Nightscape›, 2019. Anlässlich der Demenzerkrankung seiner Mutter begann er altertümliche Landschaftsgemälde mit dunkler Ölfarbe zu überdecken. Die ursprünglichen Farben und Formen sind noch vorhanden, aber kaum mehr zu erkennen. Das Schwarz schliesst sie ein, undurchdringlich, unwiderruflich. Der Künstler liefert ein treffendes Bild für den Verlust der Erinnerungen und der Fähigkeit zu kommunizieren.
Die Beschränkung auf die dunkelste aller Farben lenkt den Blick auf ihren Reichtum. Beispielsweise auf die pudrige Oberfläche der Gummibänder in Katharina Henkings Arbeit ‹Bomba›, 2017 oder auf die Lichtreflexe in Gregor Frehners ‹Armada›, 2023/2024: Ein Kahn und zwölf U-Boote aus schwarz eingefärbtem Bienenwachs stehen für den politisch brisanten Migrationsweg über das Mittelmeer.
Den gelungenen Anschluss der Ausstellung setzt Theres Liechtis Videoprojektion ‹Feuer im Dach›, 2015. Vor schwarzem Hintergrund gehen archetypische, weisse Papierhäuser in Flammen auf. Die Kirche, das Einfamilienhaus, der Wohnblock – langsam verbrennen sie und stehen dank dem Loop wieder unversehrt da. Diese Bilder sind ebenso einfach wie ausdrucksstark. Form und Inhalt bilden eine Einheit. Schwarz sind der Hintergrund und die Asche, schwarz das Drama und das Nichts – bis zum Neuanfang.

Pflanzen unterwegs

Pflanzen liefern medizinische Wirkstoffe, Nahrung, Baumaterialien, Textilfasern, Farben – die Liste ist noch deutlich länger. Benoît Billotte nutzt die Pflanzen für seine künstlerische Arbeit und stellt sie auch inhaltlich in den Mittelpunkt. Für das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil hat der Künstler eigens neue Werke entwickelt.

Pflanzen bereisen die Welt. Das Einjährige Berufkraut ist von Nordamerika aus in die Schweiz gekommen und hier auf die Schwarze Liste der invasiven Neophyten. Die Haargurke ebenso, allerdings hat sie noch einen Zwischenschritt in Südeuropa eingelegt. Die Chinesische Hanfpalme hat von Asien aus auf den Weg in diese Liste gemacht. Und der Lästige Schwimmfarn aus Südamerika hat es sogar unter die Top 100 der «World’s Worst Invasive Alien Species» geschafft.
Lästig oder nicht, die Pflanzen sind mobil. Der Mensch und seine Lust am Exotischen hat viel damit zu tun. Benoît Billotte untersucht diese Wechselbeziehungen: Wie nutzen wir die Pflanzen? Wie nutzen sie uns? Und was hat das Reisen damit zu tun? Der in Genf und im französischen Metz lebende Künstler ist fasziniert von alten See- und Landkarten einerseits und der Vielfalt der pflanzlichen Verwendungszwecke andererseits. Im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil bringt er beides auf sehenswerte Weise zusammen. Die Ausstellung ist als Reise zu Wasser und zu Lande angelegt und beginnt im Wurzelbereich der Pflanzen: Über die Flügel der gläsernen Eingangstür des Kunsthauses zieht sich ein Wurzelgeflecht, gezeichnet aus Sand. Das Motiv hat Billotte dem Wurzelatlas von Lore Kutschera und Erwin Lichtenegger aus den 1960er Jahren entlehnt. Das Buch versammelt Zeichnungen von Wurzeln, zweidimensional aufgefächert bis in ihre kleinsten Verästelungen. Billotte hat den Sand mit Plakatleim auf den Scheiben befestigt. Lange halten wird er nicht, aber das gehört zum Konzept des Künstlers: «Meine Arbeit thematisiert die Zeit und die Endlichkeit. Damit entspricht sie uns Menschen. Ich will keine Werke mit Ewigkeitsanspruch kreieren.» Stattdessen setzt Billotte auf vergängliche Materialien. Baumwollstoffe färbt er mit Pflanzensäften. Als Bildgrund verwendet er Bambus-, Bananen oder Lotusblätter. Sie sind beispielsweise erhältlich in asiatischen Lebensmittelläden und werden dort als Essgefässe angeboten: «Ich schätze die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Blätter. Sie werden als Geschirr, als Kochbehältnis und zur Aufbewahrung genutzt.» Billotte bedruckt diese Blätter beispielsweise mit Bildern von Porzellantellern, die wiederum mit Pflanzenmotiven bemalt sind. Oft wurden für solche Dekorationen exotisch anmutende Pflanzen gewählt – für Billotte ein wichtiger inhaltlicher Ansatz. Er untersucht, welches Prestige sich mit diesen Pflanzen verband, welche Aussagen sie transportieren sollten und welcher Aufwand dafür betrieben wurde. Sein Wissen hat der Künstler sich unter anderem in Atelieraufenthalten angeeignet. So hat er im Botanischen Garten in Genf gearbeitet und wohnte auf einer Bananenplantage in Mexiko. Dort gab es wenig Arbeitsmaterialien, also experimentierte Billotte mit Pflanzenfarben.
Auch für dreidimensionale Kunst eignet sich pflanzliches Material gut: Geflochtene Bambusstrukturen, wie sie im ozeanischen Raum lange Zeit als Fischreusen genutzt wurden, setzt Billotte ein, um darauf aufmerksam zu machen, wie Kunststoff pflanzliche Materialien zurückdrängt und handwerkliches Wissen verloren geht. Im Hintergrund der Bambusobjekte leuchtet es hellblau: Die eine Stirnwand des Ausstellungssaales ist mit Kupferfarbe im unteren Drittel gestrichen – sie markiert den Horizont, die See, das Wasser. Gegenüber davon erstrahlt das obere Drittel hellblau – hier ist der wolkenlose Himmel nicht fern. Das Bindeglied sind zwei grosse Baumwolltücher, gefärbt mit Pflanzenfarben. Die Details der verschiedenen Schichten, die Übergänge und Verläufe, die Linien und Schattierungen gleichen kartografischen Werken. Mit gezeichneten Schiffen und Meeresungeheuern auf der einen und Hütten, Lasttieren und Pflanzen auf der anderen Karte thematisiert Billotte das Reisen zu Wasser und zu Lande. Konkrete Hinweise auf geografische Orte liefert er keine: «Karten werden genutzt, um sich zu finden. Ich verwende Karten, um mich zu verlieren.» Verloren gehen werden auch die Karten selbst: Die Farben werden ausbleichen, die Baumwolle wird brüchig werden – pflanzliche Materialien halten nicht ewig, aber wir können nicht auf sie verzichten.

Benoît Billotte — «It is allowed to fade out.»


Benoît Billotte ist ein Reisender. Er streift durch die Zeiten, durch die Botanik, durch Kartenmaterial, durch kulturelle Landschaften. Die auf diesen Erkundungstouren gesammelten Materialien fliessen oft unmittelbar in seine künstlerische Arbeit ein. So färbt Billotte beispielsweise Stoffe mit Pflanzen, verwendet sie als Bilduntergrund oder als Motiv. Mit feinsinnigen, fragilen Werken lenkt er den Blick auf den weiten Weg der Pflanzen um die Welt. In seiner ersten musealen Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum hat der Gebrauchswert der Pflanzen ebenso Platz wie ihre Verwendung als Dekorations- oder Prestigeobjekt.


Rapperswil — Stadtpläne, Landkarten, Atlanten – zur räumlichen Orientierung werden die analogen Medien der Kartografie kaum noch genutzt; digitale Navigationssoftware hat sie längst abgelöst. Ihren Reiz haben sie dennoch nicht verloren. Ihre Vielfalt reicht von der schnell auf der Rückseite einer Quittung hingeworfenen Wegbeschreibung über jahrhundertealte Seekarten bis zur sorgfältig von Kinderhand gezeichneten Schatzkarte. In all diesen Kartenvarianten lassen sich Informationen unterbringen, die kein Navigationsgerät liefern kann. Sie sind individuell sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt. Sie transportieren Aussagen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, fantastische Ideen oder Hinweise auf die Urheberschaft. Benoît Billotte arbeitet mit diesen verschiedenen Ebenen und Qualitäten des Kartenmaterials. Der in Metz geborene Künstler fertigt selbst neue Karten an und greift dafür auch auf bestehende zurück. Damit knüpft er ein dichtes Netz von Bezügen, in deren Zentrum die Welt der Pflanzen steht.

Kunst ohne Ewigkeitsanspruch

Bereits über die Flügel der gläsernen Eingangstür des Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zieht sich eine feingliedrige Installation: ‹Fondements›, 2024, zeigt ein Wurzelgeflecht, gezeichnet aus Sand. Das Motiv hat Billotte dem Wurzelatlas von Lore Kutschera und Erwin Lichtenegger aus den 1960er Jahren entlehnt. Das Buch versammelt Zeichnungen von Wurzeln, zweidimensional aufgefächert bis in ihre kleinsten Verästelungen. Sie lassen sich aus Sand zwar weniger feingliedrig darstellen, sind aber dank der körnigen Struktur ebenso detailreich. Zudem ist das Sandbild vergänglich. Es hält dank Plakatkleber auf der Scheibe und wird nach der Ausstellung einfach mit Wasser abgewaschen.

Billotte bekennt sich ausdrücklich zum Ephemeren: «Meine Arbeit thematisiert die Zeit und die Endlichkeit. Damit entspricht sie uns Menschen. Ich will keine Werke mit Ewigkeitsanspruch kreieren.» Dieser Verzicht auf massive, alles überdauernde Werke durchzieht die gesamte Ausstellung und verleiht ihr eine grosse Leichtigkeit. ‹Le 4ème mur›, 2024, beispielsweise ist eine zarte und doch raumbildende Installation: Der Vorhang schliesst den Treppenaufgang zum oberen Ausstellungssaal hin ab und öffnet ihn zugleich. Er ist mit Säften von Kurkuma, Genet, Reseda und Birke gefärbt und ist inspiriert von den Arbeiten Anni Albers’ (1899–1994). Die Künstlerin schuf textile Raumteiler für grosse Gebäude, ähnlich konstruiert Benoît Billotte eine Eingangssituation: «In der Ausstellung habe ich eine Reise inszeniert. Sie beginnt bereits bei der Tür im Erdgeschoss mit dem Wurzelbereich. Oben folgt der Überraschungsmoment eines Vorhanges: Nach dem Durchschreiten ist eine Entscheidung notwendig. Du musst aktiv werden und Deine Wahl treffen. Der linke Teil der Ausstellung ist dem Meeres- und Küstenleben gewidmet, der rechte Teil der Erde, den Bäumen und Blättern.»

Pflanzen als Behältnis, Farbe, Dekor

In beiden Ausstellungsteilen sind Pflanzen das Material und das Thema zugleich: «Pflanzen werden als Medizin genutzt, als Nahrung, Baustoff und als dekoratives Element. Mir liefern Pflanzen natürliche Tinte und ich schätze besonders die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten von Blättern im Nahrungszusammenhang. Sie werden eingesetzt als Geschirr, als Kochbehältnis und zur Aufbewahrung. Das gilt für Bananenblätter ebenso wie für Mais-, Lotus- und Bambusblätter.» Benoît Billotte bedruckt beispielsweise kreisrunde Ausstanzungen von Bananenblättern – erworben als pflanzliche Teller in einem Lebensmittelgeschäft – mit Reprofotografien aus der Keramiksammlung des Genfer Musée Ariana. Das jahrtausendealte Bedürfnis, Essgefässe mit pflanzlichen Motiven zu dekorieren, verbindet er mit dem Essgefäss selbst und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Mehrwert der Pflanzen. Auch diese Arbeit ist dem Verschwinden geweiht: «Die Bananenblätter zerstören sich selbst. Sie werden braun und zerfallen. Für mich ist das in Ordnung.»
Auf andere Weise werden die beiden grossen Stofflandschaften langsam verschwinden: ‹Le carrefour est le seul endroit qui existe›, 2021, und ‹Vivons la croisée des chemins›, 2021, werden im Tageslicht ausbleichen. Der Künstler hat die Baumwolltücher von Hand und mit Naturfarben gefärbt. Die Technik des pflanzlichen Färbens erlernte er während einer Residency in der Casa Proal in Mexiko vor vier Jahren: «Ich lebte dort relativ alleine auf einer Bananenfarm und musste nehmen, was vorhanden war. Alle Pflanzenfarben in der Ausstellung sind selbstgemacht. Ich habe dafür viel experimentiert mit der Menge, der Dauer und den Farbschattierungen.» Die Details der in verschiedenen Schichten gefärbten Vorhänge, die Übergänge und Verläufe, die Linien und Schattierungen gleichen Landschaften und Territorien. Hinzu kommen Federstiftzeichnungen. Hier mischt Billotte Reales mit Fantastischem. Die Seekarte markieren beispielsweise Segelschiffe und Meeresungeheuer. Die Landkarte kennzeichnen ein Dromedar, Behausungen aus Pflanzen und ein Astrolabium. Integriert sind ausserdem poetische Textschnipsel wie etwa: «Fremd uns selbst.»

Pflanzen auf Reisen

In alten Karten zeigten die Fabelwesen an, wie gefährlich eine Reise war; mit Phantominseln wurde die Route verunklärt; fremdartige Tiere betonten die Exotik. Billotte untersucht insbesondere die dank der Seefahrt überlieferten Pflanzendarstellungen: «Früher war es wichtig zu zeigen, was man von Reisen mitbrachte. Dies war auch wirtschaftlich bedeutsam und prägte die Ikonographie.» Ein von Früchten und Blüten überquellendes Füllhorn beispielsweise braucht kaum weitere Erläuterungen über Erfolg einer Unternehmung. Ausserdem zitiert der Künstler in ‹De l’abondance›, 2023 – einer Serie von Fotogravüren auf getrockneten Bambusblättern – die Abbildung eines Wardschen Kastens. Erst mithilfe dieser gewächshausähnlichen Konstruktion des englischen Botanikers und Arztes Nathaniel Bagshaw Ward (1791–1868) wurde ab 1833 der massenhafte Transport von Pflanzen aus Übersee möglich. Billotte sucht seine Materialien jedoch am liebsten vor Ort: «Während eines Atelieraufenthaltes in Genf, arbeitete ich im Botanischen Garten. Ich habe mich dort sowohl mit dem handwerklichen Nutzen der Pflanzen beschäftigt als auch mit dem wissenschaftlichen Zugang. Wie viele botanischen Institutionen hat der Botanische Garten Genf eine Bibliothek und eine Sammlung exotischer Pflanzen. Von letzterer ausgehend, habe ich mit den heimischen Pflanzen angenähert.» Für Billotte ist es wichtig, sich auf den Ausstellungsort einzulassen, das gilt für deutlich mehr Aspekte als für die Botanik. In Rapperswil beispielsweise wird das wellenförmige Dach zum Dialogpartner für Werke zur maritimen Lebenswelt. Und es gibt ein weiteres schönes Zusammentreffen: Das Kunst(Zeug)Haus beherbergt eine der grössten Robinson-Bibliotheken weltweit. Als Insel mitten im Ausstellungsraum beherbergt die Sammlung mehr als 4’000 Robinsonaden von Büchern über Zeichnungen und Puzzles bis zu Filmen. Daniel Defoe (1660–1731) bediente mit seiner Geschichte über den schiffbrüchigen Robinson Crusoe die damalige Südseeromantik, Paradies- und Reisesehnsüchte und Vorstellungen von vermeintlicher Allmacht gegenüber der Natur – Themenfelder also, die Benoît Billotte aus heutiger Sicht scharfsinnig analysiert. Eine Robinsonade inszeniert er dabei nicht, ebenso verzichtet er auf Belehrung oder Anklage. Stattdessen setzt er auf Beobachtung und Schärfung der Sinne. Er bringt Fiktives in ein austariertes Verhältnis zur Wissenschaft und Persönliches in einen weltumspannenden Zusammenhang. Billottes Reisen umspannen die Zeit, die Territorien und die Fantasie.

Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstler während des Ausstellungsaufbaus am 10. Februar im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil.

Michael E. Smith

Winterthur — Leuchtstoffröhren, quadratische Metallplatten, Holzkuben — reduzierte Materialien, Industrieprodukte, präzise platziert: Das war Minimal Art in Reinform. Fehlende Leuchtstoffröhren, ovale, geflochtene Teppiche, eine verstaubte Vitrine – Alltagssituationen, gebrauchtes, altes Zeug, präzise platziert: Das ist Michael E. Smiths Antwort. Statt geometrischer Perfektion gehen die Dinge aus dem Leim. Sie quellen auf, wackeln vor sich hin, sind dreckig. Beispielsweise der Schuhkarton: Einst ein Quader in Blau, geziert mit den bekannten, akkuraten drei Streifen; jetzt ein schiefer Körper. Aus dem Inneren wuchert Baumschaum hervor. Die Flächen wölben sich, die Geometrie löst sich auf. Darüber sechs Leuchtstoffröhren, eigentlich. Michael E. Smith hat fünf der sechs Beleuchtungselemente im Ausstellungsraum entfernt – eins muss reichen, Symmetrie war gestern.
Smith hat den Erweiterungsbau des Kunst Museum Winterthur mit wenigen Werken bestückt, diese aber reichen aus für einen Perspektivwechsel. Ausgangspunkt sind die aufmerksamen Beobachtungen des US-amerikanischen Künstlers. Was so beiläufig daher kommt, wie die Schuhschachtel oder ein mit Kunstrasen halb bedecktes Fenster, ist das Ergebnis langer und minutiöser Suche und Vorbereitung und fügt sich in eine ausgetüftelte Licht- und Soundregie. Wenn zwei Plastiktonnen tönen, wird dieses Geräusch an einem entfernten Punkt der Ausstellung wieder aufgenommen. In den Tonnen steckt je eine Zierleiste. Die Tonnen werden mit Elektromotoren zum Vibrieren gebracht, die Zierleisten wackeln. Ihre Goldoptik, die künstlich erzeugte Patina, das Material – nichts ist mehr zu erkennen, nichts davon ist mehr wichtig, die Komik regiert. Genauso wie bei den Tennisbällen, die sich in Stahltonnen drehen, ebenfalls angetrieben von Elektromotoren. Auch sie erzeugen ein Geräusch, das über den Saal hinaus tönt.
Michael E. Smith analysiert die Räume, die Gegenstände und konstruiert Beziehungen zwischen beiden, sogar über die Ausstellung hinaus. So hat er in die benachbarten Malerei-Schau «Von Gerhard Richter bis Mary Heilmann» eigene Werke eingeschleust. Und auf dem Weg durch die Dauerausstellungen zum Erweiterungsbau lohnt sich bereits ein aufmerksamer Blick für Smithsche Interventionen, noch mehr aber auf dem Rückweg, wenn die Sinne geschärft sind für seine akkurat gesetzten Bedeutungsverschiebungen.