Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Drastisches und Kosmisches in Appenzell

Das Kunstmuseum und die Kunsthalle Appenzell zeigen in zwei Einzelausstellungen das Werk von Zora Berweger und von Liz Craft. Während die Schweizer Künstlerin den Blick auf das spirituell Kosmische richtet, bleibt die Kalifornierin nah am Irdischen.

Zwei Frauen, beide sind Künstlerinnen, beide leben sie nicht mehr in ihrem Geburtsland, sondern inzwischen in Deutschland, beide stellen nun in Appenzell aus. Zwischen Zora Berweger und Liz Craft gibt es biografische Gemeinsamkeiten und künstlerische Parallelen. Zugleich sind beide Positionen sehr eigenständig und erhalten nun zu recht jede eine eigene Einzelausstellung. In der Kunsthalle Appenzell sind die Arbeiten von Zora Berweger zu sehen. Die Künstlerin wurde 1981 in Bern geboren, hat ausserrhodische Wurzeln und lebt seit 2006 in Leipzig. In der Schweiz hat sie regelmässig ausgestellt, beispielsweise 2014 im Nextex in St.Gallen.«Greeting the Unseen» ist ihre erste institutionelle Einzelausstellung. Berweger vergleicht sie mit einem Gewächs: Im Erdgeschoss der Kunsthalle siedelt sie den Wurzelraum an. Hier formuliert sie den inhaltlichen und formalen Ausgangspunkt.

Linien aus Neonschrift

Was in der Natur organisches Geflecht ist, drückt sich als raumfüllende Installation aus Neonzeichen aus. Die Künstlerin hat ihr eigenes minimalistisches System aus vertikalen und horizontalen Linien entwickelt. Es leuchtet aus dem Panoramafenster hinaus ins Dorf, spiegelt sich in der grossen Scheibe und bildet spontane Entsprechungen zu den Gipfeln und Graten des Alpsteins. Damit stehen die Zeichen für den Anspruch der Künstlerin, den Blick auf die ganze Welt zu richten – bis ins Kosmische hinaus. Dies zeigt sich auch in den Reliefs im ersten Obergeschoss. Sie tragen die Sonne im Zentrum. Ringförmig breiten sich Wellen und Strahlen aus, auch sie sind durchsetzt mit Zeichen. Dieses Stockwerk symbolisiert im Bild des Baumes den Stamm und damit jenen Ort, wo die Kräfte zusammenfliessen. Darüber folgt die Krone: In der dritten Etage platziert Zora Berweger Objekte, die Samen, Kapseln und Schoten gleichen: Sie können als Hinweis auf die Lebenskreisläufe gelesen werden.

Relief als Schnittstelle

Reliefs sind ein wiederkehrendes Element im Werk der Künstlerin. Sie verbinden das frühere malerische mit dem heutigen dreidimensionalen Werk. Sie sind die Schnittstelle zwischen Fläche und Raum. Genau das macht sie auch für Liz Craft interessant. Beide Künstlerinnen interpretieren das Thema Relief jedoch sehr unterschiedlich. Zora Berwegers Reliefs sind aus Salzteig – einem einfachen und leicht zu bearbeitenden Material. Liz Craft hingegen arbeitet mit Keramik. Die 1970 in Los Angeles geborene Künstlerin musste ihr grosses Atelier räumen und gestaltet seither Reliefs aus Fliessen. Auf diese Weise kann sie in kleineren Formaten arbeiten und dennoch nah an der Dreidimensionalität bleiben. In der ganzen Ausstellung hängen die Reliefs aus Fliessen, zumeist in Form von Sprechblasen. Darauf steht beispielsweise «Suck it Hippie» oder eine Rolle WC-Papier illustriert den sogenannten Brexit. Kommunikation ist das verbindende Thema dieser Werke wie auch der dreidimensionalen Objekte, die Craft nach wie vor erarbeitet. In den Kabinetten des Kunstmuseum Appenzell zeigt sie Figurinen mit Köpfen, die an das Computerspiel Pac Man erinnern, lebensgrosse Marionetten mit Köpfen aus Pappmaché, denen sie Münder und sechs Augen aufklebt, ein Einhorn, dessen Schweif von einem Skelett gekämmt wird, oder ein ramponiertes Velo. Es lehnt an einem übergrossen Penis und nimmt damit den«Ständer» auf vulgäre Weise wörtlich: Die künstlerische Sprache von Craft ist humorvoll, ausdrucksstark und zuweilen drastisch. Mit Witz und Verve analysiert sie Alltägliches und Politisches.

Fernando Obieta und Gregor Vogel — ‹forever

Rapperswil — Seit fünf Jahren arbeiten Fernando Obieta und Gregor Vogel an ‹forever›. Für fünf Monate ist die Installation jetzt im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zu sehen. Diese zeitliche Entsprechung ist zufällig, passt aber perfekt, denn Zeit ist eines der grossen Themen der beiden Künstler. Andere Forschungsfelder sind Erinnerung, Datenspeicherung, Kontrolle und Macht. Im Zentrum ihres Werkes steht das Unsichtbare: digital gespeicherte Sounds und deren Wiedergabe.
Für die Ausstellung in der Reihe Seitenwagen – eine Förderplattform für Kunstschaffende unter dreissig Jahren – haben Obieta und Vogel ihre Untersuchungen nun in eine sichtbare Form gebracht. Im weissen Ausstellungskabinett hat das Künstlerduo fünf schwarze Stelen platziert, miteinander verbunden durch Kabelkanäle. Sobald drinnen gesprochen wird, draussen ein Gewitter niedergeht oder wie an der Vernissage ein Volksfest mit Blasmusik eröffnet wird, zeichnet ein Aufnahmegerät in der ersten Stele die Töne auf und schickt sie nach einem definiertem Zeitraster an die nächste Stele. Jede Stele spielt den Sound ab und sendet ihn gleichzeitig weiter, bis er schliesslich bei der ersten wieder ankommt. Jeder Soundtransport erfolgt nach einem anderen Intervall, die kürzeste Zeitangabe lautet «191 Sekunden = 3 Minuten 11 Sekunden», die längste «4793 Sekunden = 1 Stunde 19 Minuten 53 Sekunden». Dadurch, dass die erste Stele nicht nur die neuen Geräusche aufnimmt, sondern auch jene, die von den anderen Stelen wieder abgespielt werden, entsteht mit der Zeit ein dichter Klangteppich. Zumindest theoretisch – je nachdem, wie belebt die Ausstellung ist. Durch das repetitive Abspielen und Wiederaufnehmen wird der Ton schwächer und schwächer, wird mit Neuem überlagert, bis schliesslich auch das Neue leise schwindet. Damit haben Obieta und Vogel ein treffendes Bild für Erinnerungen gefunden: Sie produzieren die Geräusche nicht, sondern sammeln sie. Sie verleihen dem Raum ein Gedächtnis und lassen Aufzeichnungen wie Erinnerungen verblassen. Darüber hinaus formulieren sie Technologiekritik, indem sie beispielsweise offen lassen, ob, wo oder wofür die Daten gespeichert werden und was genau in den schwarzen Stelen passiert. Die Technik ist hochkomplex und bleibt verborgen. Zugleich animiert der interaktive Charakter der Installation, sich zu beteiligen, Töne eigens für ‹forever› zu erzeugen, immer im Bewusstsein, dass sie anschliessend nicht mehr kontrolliert werden können.

Sung Tieu – Bürokratisierte Menschen

Die Plattenbausiedlung Gehrenseestrasse in Berlin steht kurz vor dem Abriss. Sung Tieu stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur. Ausgehend von ihrer persönlichen Familiengeschichte untersucht die Künstlerin soziopolitische Auswirkungen von Migration und Bürokratie.

Winterthur — Die Bürokratie hat eine abgründige Sprache. Sie kennt Wörter wie «Arbeitskräftesicherungskonzeption», «Bezirksplankommission» und spricht in Bezug auf das Herkunftsland der Menschen von «Deckungsquelle». Diese und andere monströse Begriffe finden sich in Dokumenten, die Sung Tieu im Kunstmuseum Winterthur präsentiert. Sie geben einen Einblick in die DDR-Verwaltungssprache im Umgang mit Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern aus Vietnam.
Sung Tieu ist 1987 in Vietnam geboren und hat die Situation ihrer Landsleute in der DDR nicht selbst erlebt. Sie kennt sie aber aus Erzählungen ihrer Familie und hat von 1994 bis 1997 in einem Block gelebt, der im sozialistischen Berlin für die angeworbenen Arbeitskräfte gebaut wurde. Sie präsentiert die rigide Hausordnung, für deren Einhaltung ein «vietnamesischer Gruppenleiter» zu sorgen hatte, zeigt eine Kamerafahrt über die Fassade des inzwischen leerstehenden Wohnheimes, stellt nachgebaute Zimmerwände in den Ausstellungsraum und hat die Einrichtungsgegenstände der 14-quadratmetergrossen Einheit, die von drei Personen bewohnt wurde, in Quader aus Buchenholzimitat übersetzt. Das Ganze ergibt ein ebenso stimmiges wie beklemmendes Bild der damaligen Verhältnisse. Aber Sung Tieus Thema ist grösser. Sie thematisiert nicht nur die Wohn- und Arbeitsbedingungen, sondern die Gesamtsituation der vietnamesischen Menschen in der DDR: Der sozialistische Staatsapparat sah nicht vor, dass die vietnamesische Gemeinschaft Kontakte knüpft und heimisch wird, stattdessen wurde der Aufenthalt befristet gemäss der «Konzeption zur Ablösung der in Betrieben der DDR beschäftigten ausländischen Werktätigen». Sung Tieu symbolisiert die Ein- und Ausgrenzung mit hohen, nahezu blickdichten Metallzäunen. Dazwischen platziert sie in DDR-Kombinaten hergestellte Gebrauchsgegenstände, deren Ausfuhr nach Vietnam streng reglementiert wurde, wie die gezeigten Dokumente belegen. Ausserdem hat die Künstlerin eines der grossen Fenster im Erweiterungsbau fast vollständig verdecken lassen. So kappt sie die Verbindung zwischen innen und aussen. Licht dringt aber immer noch durch schmale Schlitze herein – genauso wie sich die Verbindung zwischen den «ausländischen Werktätigen» und ihrem zeitweiligen Lebensumfeld nicht vollständig blockieren liess. Sung Tieus Ansatz ist ebenso reduziert wie atmosphärisch und transportiert eindrücklich ein wichtiges, aber wenig präsentes Thema.

Ukrainische Naive Kunst

St.Gallen — Der Krieg ist dunkelbraun und hat eine stachlige Mähne. Angriffslustig blickt er aus seinen vertikal gestellten Augen: In Maria Prymachenkos Gouache ist ‹Die Bestie des Krieges› ein rundliches Tier mit kurzen Beinen und eingerolltem Schwanz. Die ukrainische Künstlerin (1909–1997) hat es in den 1970er Jahren zu Papier gebracht. Da galt sie in ihrer Heimat längst als «Volkstalent». Später kam auch internationale Anerkennung hinzu. Das verhinderte nicht, dass Werke Prymaschenkos jetzt während der russischen Invasion beschädigt und zerstört wurden. Die aktuelle Ausstellung im open art museum St.Gallen ist deshalb zweierlei: Sie ist das Angebot, ukrainische Kulturgüter zu schützen, indem sie ausser Landes gezeigt werden, und zugleich vermittelt sie die identitätsstiftende Kraft und den Wert der Naiven Kunst. Prymaschenkos Tier- und Blumenbilder bilden nur einen kleinen Teil der Ausstellung. Grosses Augenmerk liegt auf Szenen des Landlebens und Porträts aus der Hand von Hryhorii Ksionz, Yakylyna Yarmolenko und anderen: Bäuerinnen und Bauern lassen sich in repräsentativer Pose malen. Stolz und Verbundenheit mit dem eigenen Dorf sprechen aus diesen Motiven. Jetzt leidet nicht nur diese Lebenswelt unter Angriff und Zerstörung, auch ihre kulturellen Zeugnisse sind akut bedroht. ks

→ ‹Die Bestie des Krieges – Naive Kunst aus der Ukraine›, open art museum, St.Gallen, bis 25.2.2024
↗ openartmuseum.ch

Andrea Vogel – Ausgemustert

Andrea Vogel arbeitet mit Textilien, eine Textilkünstlerin ist sie nicht: Statt zu weben, stricken oder nähen, integriert Andrea Vogel industriell gefertigte Produkte in ihre künstlerische Praxis. Sie untersucht deren plastisches oder farbiges Potential. Sie deutet Vorhandenes um, überformt es und behält dennoch stets den Bezug zum Stoff. ‹Softwear›, 2023 beispielsweise ist eine Serie aus alten Handtüchern. Die ausgediente Frotteeware wurde im industriellen Recyclingprozess zu Quadern gepresst. Aus dem weichen, hautfreundlichen Material sind feste Körper geworden, die sich der Geometrie widersetzen. Sie stehen zusammengesackt, etwas schief, ohne gerade Kanten auf weissen, geradlinigen Sockeln. Gezielt lenkt Vogel mit dieser kontrastreichen Platzierung den Blick auf die Faltenstruktur, die Oberfläche der Handtücher und den zufallsbasierten Farbreichtum der Quader. Sie stellt damit Bezüge zur Malerei her und zur plastischen Kunst. Auch einen Ortsbezug integriert Vogel regelmässig in ihre Ausstellungen. In Wil spiegelt sie die Architektur der Kunsthalle und eines benachbarten Gebäudes durch Fotos der Fenster beider Häuser, zudem platziert sie Vorhänge aus dem anderen Bau als Bodeninstallation: Der Vorhangstoff wird sowohl in seiner raumbildenden Qualität gezeigt als auch als farbiges Element, das durch die bleichende Kraft der Sonne obendrein einen Zeitfaktor porträtiert.

Rachel Lumsden — You got nothing to loose

Die Malerei ist eine Wildsau. Ungestüm rast sie voran, und ­Rachel Lumsden rast mit. Nur so entsteht ein gutes Bild. Die Künstlerin schildert in Worten, wie sie sich mitreissen lässt von der Wildsau – aber auch, was deren Lauf bremsen kann. Sie hat zeitgleich zu ihrer Schau im Kunstmuseum Thurgau einen Text veröffentlicht, der als Manifest deklariert ist und ins Zentrum der künstlerischen Arbeit führt. Ausstellung und Buch ergänzen sich aufs Beste. Beide künden von Rachel Lumsdens Feuer für die Malerei und für die Farbe, vom «blazing hot moment», nach dem die Ausstellung benannt ist. 

Grün kann modrig sein oder frisch. Es kann staubig sein oder glänzen. Es kann glitzern oder samten sein. Es ist – wie jede andere Farbe – mehr als ein Farbton. Rachel Lumsden schildert die reichen Qualitäten von Grün aus Sicht der Malerin. Diese in jahrzehntelanger künstlerischer Arbeit geschärfte Perspektive hat sie jetzt unter dem Titel ‹Ritt auf der Wildsau› in ihr ‹Manifest für die Malerei› gepackt. Im Prolog zu dieser handlichen Publikation lässt sie die intensiven Farberlebnisse aus ihrer Kindheit auferstehen. Beispielsweise die Expeditionen zu einer Ziegelmauer mit ständig tropfenden Rohren: «Das nassglänzende Moos dort gab uns eine erste Idee der Farbe, die auf der Rückseite der Mauer des mittlerweile stillgelegten viktorianischen Wasserreservoirs wartete: ein dickes, schleimiges Grün, das weisse Kniesocken spektakulär einfärbte, wenn wir darin wateten.»

Analyse des Kunstbetriebs
Farbe ist mehr als ein optischer Eindruck. Sie schmatzt, stinkt und wabert – Eigenschaften, die Lumsden in lebendiger, bildhafter Sprache niedergeschrieben hat. Damit entfaltet ‹Ritt auf der Wildsau› bereits auf den ersten Seiten einen Sog, der tief hineinzieht in das Buch. Klassifiziert ist es als ‹Manifest für die Malerei›. Aber es ist mehr als eine Absichtserklärung oder ein öffentlicher Aufruf. Es ist eine prägnante Analyse des Kunstbetriebs, seiner Fallstricke, seiner Typen und Mechanismen, die weit über Lumsdens individuelle Situation hinaus gültig ist. Pointiert beschreibt die gebürtige Engländerin, wie Malerei aus ihrer Sicht gegenüber anderen Kunstformen noch immer ins Hintertreffen gerate und welch schweren Stand insbesondere die figurative Malerei in der Schweiz noch immer habe. Sie erstellt ein Bestiarium der Personen an Schlüsselstellen im Kunstmarkt und im Ausstellungswesen, das mitunter so nah am unmittelbar Erlebten ist, dass Namen nicht genannt werden müssen, um zu erahnen, wer gemeint ist.
Zugleich ist das Buch ein feministischer Text. Es zeigt aus Sicht der Frau die ungleich grösseren Herausforderungen im Kunstbetrieb für Künstlerinnen. Und nicht zuletzt ist es ein persönlicher Essay mit literarischen Qualitäten. Geschrieben hat ihn Rachel Lumsden während der Corona-Pandemie, in einer Zeit also, in der sich mitnichten ein wunderbarer, entschleunigter Arbeitsraum auftat, der nur darauf wartete mit neuen Kunstwerken gefüllt zu werden. Stattdessen war es für viele Künstlerinnen und Künstler eine Zeit der fehlenden Resonanz, einer «seltsam leeren Denkblase», wie es Rachel Lumsden nennt.

Hitze, Trockenheit, Stille – Malerei kann alles zeigen
Der Text ist sprachlich und inhaltlich ein Wurf und wurde von der Grafikerin Katrina Wiedner in eine sehr schöne Form gegossen. Die Publikation mit silbergrauem Textilumschlag, einem Buchschnitt in Metallisch-Pink und leuchtend abgestuftem Vorsatzpapier erscheint pünktlich zu Rachel Lumsdens Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau. Wenngleich es kein Ausstellungskatalog ist, liefert das Buch doch eine passende Lektüre zur Betrachtung der gezeigten Arbeiten.
In ‹Dragonfly›, 2020, beispielsweise manifestiert sich, was Lumsden über das sinnliche Potenzial der Farbe schreibt. Das Gemälde zeigt ein Stück flaches Land mit zwei Wassertürmen auf hohen Stützen, die den nahen Horizont durchbrechen. Im Vordergrund markiert Gestrüpp die Grenze zwischen Szenerie und Betrachtungsposition. Zwei Personen – eine zu Fuss, eine auf dem Velo – ziehen ihrer Wege. Das Motiv ist unspektakulär, umso eindrücklicher ist die evozierte Stimmung. Gelb, Grün, Petrol, sehr helles, fast graues Violett und Braun verbinden sich zu einem eingefrorenen Irisieren. Lasuren zeugen von feuchtem Farbauftrag, zugleich wirkt das Pigment staubig. Virtuos entwirft Rachel Lumsden die Stimmung eines Tages, an dem es viel zu früh schon sehr heiss ist und spät am Abend kaum abkühlt. Sie porträtiert die Trockenheit, die Wärme, die Stille, das Licht – die ganze Vielfalt an Eindrücken. Das kann nur die Malerei; wenn man sie lässt. Oder wie es die Künstlerin im Gespräch ausdrückt: «Ich kann mit Ölfarben Atmosphäre kreieren, ohne zu beschreiben, aber ich muss der Farbe Freiraum geben. Wird das Mittel Farbe zu sehr kontrolliert, stirbt es. Man muss bereit sein, etwas anderes zuzulassen.»

Zeitgeschehen und Alltag
Aus dem Spiel zwischen gesteuerter und «zugelassener» Farbe ergibt sich der reiche Klang der Gemälde Lumsdens. Die Motivik ist dabei mehr als Mittel zum Zweck: «Das Oszillieren zwischen Motiv und Malerei ist mir sehr wichtig.»
Die Künstlerin greift hochaktuelle Sujets auf wie auch kleine beiläufige Beobachtungen, die sie malerisch transformiert. So fanden sowohl der verheerende Brand des Sozialwohnungsobjekts Grenfell Tower in London 2017 oder das gestrandete Containerschiff im Suezkanal 2021 Eingang in ihr Œuvre als auch das zeitlose Bild einer Drossel in einem Vogelbeerbaum: «Ich wähle den visuellen Inhalt meiner Bilder weniger aus strategischen Gründen, sondern weil er in mir Resonanz erzeugt. Weshalb etwas in mir widerhallt, ist eine weitere Frage, deren Antwort wohl in frühen oder früheren visuellen Erfahrungen begründet liegt.»
Lumsden recherchiert Themenfelder und legt Bildersammlungen an – aus Medienbildern und teils auch eigenen Fotografien. Einer solchen entstammt auch das Drosselbild: «Ich malte es als Kleinformat, weder illustrativ noch realistisch, sondern ‹painterly›, als Gesamterfahrung aus Kobaltblau, aufgetragener Farbe, Federn, Baum und Kadmiumbeere.» Im Kunstmuseum Thurgau ist eine grosse Version dieses im Manifest erwähnten Sujets zu sehen. Die Übersetzung ist mehr als eine Probe, ob das, was in Klein gut ist, sich im Grossformat bewährt. Sie zeugt auch von der Rebellion der Malerin: denn Rachel Lumsden sieht sich immer wieder mit der Annahme konfrontiert, Malerei dürfe nicht schön sein oder gutes Handwerk sei manieriert. Hier setzt das grosse Bild ein Zeichen: «Wenn etwas verboten wird, muss man es tun! Am besten in Gross.»

Die Schönheit der Malerei
Nun leuchten also das Kobaltblau und die kadmiumroten Beeren von dem knapp zwei Meter hohen und sieben Meter breiten Triptychon ‹Thicket›, 2020. Leider hängt es im Kunstmuseum Thurgau auf der Empore mit geringer Raumtiefe, sodass es nur aus der Nähe betrachtet werden kann. Überhaupt sind die Räume nicht einfach zu bespielen. Das Tonnengewölbe, die Bodenplatten, die eingebauten Wände, der Verputz und die Dachsparren sorgen für eine heterogene Ausgangslage. Umso mehr Gespür brauchte es von der Künstlerin, um ihre Arbeiten zu installieren: «Pausen sind notwendig und Verbindungen. Auch die Simultaneität ist mir wichtig. Ich habe verschiedene Gemäldekonstellationen ausprobiert.» Zentral platziert ist ‹Ground swell›, 2022: Das Signalorange einer Bohrinsel unter cyanblauem Himmel leuchtet in den langgestreckten Raum. An der gegenüberliegenden Stirnseite antwortet ‹Other side of the rain›, 2021, mit dem von Rost überzogenen Blau eines Schiffsrumpfes in schmutziggelber Gischt. Von der Seite grüsst ‹Root and branch›, 2023, mit einer idyllischen Sommerszene unter grünen Blättern. Alle Gemälde fügen sich zu einer Erzählung über die Kraft der Farbe und die Schönheit der Malerei.
Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstlerin in der Ausstellung am 13.8.2023 und ihrem ­Manifest ‹Ritt auf der Wildsau›.

Rachel Lumsden (*1968, Newcastle-upon-Tyne) lebt in Schaan und arbeitet in Arbon
1987–1991 BA Honours in Fine Art, Nottingham Trent University
1995–1998 MA in Painting, Academy Schools, London
2007–2019 Dozentin für Malerei an der Hochschule Luzern – Design & Kunst

Einzelausstellungen (Auswahl)
2023 ‹Landslide›, Centre d’art, Museum Villa Bernasconi, Lancy
2022 ‹Mr. Wolf›, Galerie Bernard Jordan, Paris; ‹Absence of fondness›, Coleman Projects, London
2019 ‹Underwater Cocktail Party›, Haus der Kunst, Solothurn; ‹Continental Drift›, Architektur Forum Ostschweiz, St. Gallen
2018 ‹Return of the Huntress›, Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona
2017 ‹Rachel Lumsden›, Kunsthaus Pasquart, Biel

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2022 ‹Vertrauen›, Helmhaus Zürich; ‹(Un) Certain Ground›, Kunsthaus Pasquart, Biel
2020 ‹Pinsel, Pixel und Pailletten – Neue Malerei›, Kunstmuseum Thurgau
2019 ‹Stadt, Berg, Fluss›, Kunstmuseum Singen
2017 ‹London meets Altdorf›, Haus für Kunst Uri

Caspar David Friedrich und die Vorboten der Moderne

Das Kunst Museum Winterthur zeigt die erste grosse Einzelausstellung mit Werken Caspar David Friedrichs in der Schweiz. Es präsentiert den Künstler im Kreise von Zeitgenossen und Vorläufern. Dank der eigenen erstklassigen Bestände konnten Schlüsselwerke nach Winterthur ausgeliehen werden.

Über die Rückenfigur in Caspar David Friedrichs Gemälden wurde und wird viel geschrieben, ebensoviel über die Symbolik der Kreuze, Anker oder Schiffe in seinem Werk. Die Einen betonen das Politische im Werk des Künstlers, die Anderen das Religiöse und die Dritten sehen es von Krankheit beeinflusst. Das Kunst Museum Winterthur mischt sich in diese Debatten nicht ein – und tut gut daran. Es legt den Fokus auf Friedrichs Vorläufer und sein künstlerisches Netzwerk. Die Ausstellung ist aus den eigenen Beständen und jenen des Kooperationspartners Museum Georg Schäfer in Schweinfurt heraus entwickelt. Das Projekt ist ein geschickter Schachzug, denn es kommt den grossen Institutionen zuvor, die das Werk des Romantikers ab 2024 anlässlich seines 250. Geburtstages zeigen. Dann wird auch der Winterthurer ‹Kreisefelsen auf Rügen›, 1818 für längere Zeit auf Reisen gehen. Im Gegenzug sind nun andere Meisterwerke erstmals in der Schweiz zu sehen.
Am Anfang der Ausstellung stehen die Papierarbeiten. Sepiablätter zeigen, wie Friedrich von Adrian Zingg beeinflusst wurde. Der aus St.Gallen stammende Dresdner Akademieprofessor schilderte Szenerien jedoch pittoresk und anekdotisch. Friedrich hingegen setzt auf Reduktion und konstruiert erhabene Landschaften. Zingg brachte aus der Schweiz ausserdem sein Interesse für die unmittelbare Umgebung mit, statt sich wie Zeitgenossen auf ausgedehnte Italienreisen zu begeben. Friedrich tat es ihm nach und fand seine Sujets im Elbsandsteingebirge, im Riesengebirge oder in seiner Heimat Vorpommern. In Winterthur sind die Gemälde motivisch geordnet: die Seestücke, die Baumgruppen, die Gebirgsbilder. Überall führen sorgfältig ausgewählte Einschübe zu sehenswerten Nachbarschaften, so von Caspar David Friedrich und Jacob van Ruisdael. Friedrich kannte dessen Werke aus den Dresdner Gemäldesammlungen. In Winterthur zeigen sich die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in Komposition und Farbe. Solche Vergleiche ermöglicht auch die prominente Hängung dreier Werke an der Stirnseite des Raumes: Gebirgslandschaften von Joseph Anton Koch und Carl Gustav Carus rahmen Caspar David Friedrichs ‹Der Watzmann›, 1824/25. Während Koch einen vielgestaltigen Gesamteindruck liefert, zeigt Carus eine realistische Naturschilderung. Friedrich hingegen baut dem Berg einen Sockel aus kahlen Hügeln und Felsen. In seiner künstlerischen Radikalität und Strenge brach er mit allen Konventionen der Landschaftsmalerei und steht an der Schwelle zur Moderne.

Caspar David Friedrich – Das Kunst Museum Winterthur präsentiert seine erste Schweizer Ausstellung

David Friedrich kam 1774 in Greifswald zur Welt. Das Kunst Museum Winterthur feiert den bedeutendsten Maler der deutschen Romantik bereits jetzt mit der einzigen Jubiläumsschau der Schweiz. Sie ist eine der grössten Ausstellungen des Kunst Museum Winterthur der vergangenen Jahre und ist mit hervorragenden Leihgaben bestückt.

Die erste grosse und einzige Museumsausstellung von Caspar David Friedrich in der Schweiz – die Ankündigung des Kunst Museum Winterthur überrascht. Dem Künstler wurde nie eine eigene Schau gewidmet? Schliesslich verfügt das Museum dank der Stiftung Oskar Reinhart über die grösste Werkgruppe des Künstlers ausserhalb Deutschlands. Das allein wäre längst eine Ausstellung wert gewesen. Ausserdem befindet sich eines von Friedrichs wichtigsten Werken in Winterthur: «Kreidefelsen auf Rügen». Nun gehört es zu den zentralen Stücken in «Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik». 
Die Ausstellung ist nicht nur überfällig, sondern auch ein geschickter Schachzug des Kunst Museum Winterthur. Im nächsten Jahr jährt sich der Geburtstag des Künstlers zum 250. Mal und die grossen Museen in Hamburg, Berlin und Dresden feiern ihn mit eigenen Präsentationen, dann sind Leihgaben schwer zu bekommen und auch die Gemälde aus Winterthur für lange Zeit auf Reisen. Winterthur zeigt also in guter Voraussicht die Ausstellung bereits in diesem Jahr. Obendrein setzt es einen besonderen thematischen Schwerpunkt: Noch nie waren Werke Caspar David Friedrichs neben denjenigen seiner Vorläufer zu sehen. 
Auch so ein radikaler, eigenständiger Künstler wie Caspar David Friedrich beginnt nicht bei null. Auch er hat sich von älterer Kunst und von Zeitgenossen inspirieren lassen. Einer davon war der St.Galler Adrian Zingg. Er unterrichtete an der Dresdner Akademie und war bekannt für seine Landschaftsbilder in Sepiatechnik. Sie stehen am Anfang der Ausstellung im Kunst Museum Winterthur und zeigen den grossen Einfluss Zinggs auf Friedrich, aber auch die Eigenständigkeit des Letzteren. Beide Künstler teilen das Interesse für die Natur, ihre Schönheit und Grösse. Zingg ist jedoch detailverliebt und erzählerisch, während Caspar David Friedrich ein Meister ist im Weglassen. Seine Landschaften entfalten ihre Wirkung aus der Reduktion auf das Wesentliche. Eine Baumgruppe, ein Hünengrab, ein paar Felsbrocken am Meeresufer, eine sanft geschwungene Hügelkette und davor Leere: Friedrichs verzichtet auf kleinteilige, belebte Szenen. Sein Metier ist die erhabene, grossartige Natur. Das sorgte schon zu seinen Lebzeiten für Diskussionen. Damals vermissten manche das Liebliche in seinen Gemälden, andere empfanden es als Anmassung mit Landschaftsbildern das Göttliche ausdrücken zu wollen. Heute wird darüber gestritten, ob Friedrich ein religiöser Künstler war, ein politischer oder ein Naturmystiker. Das Kunst Museum Winterthur mischt sich in diese Debatten nicht ein, sondern lässt die Werke selbst sprechen. 
Die Inszenierung ist stimmig. Auf tiefblauen Stellwänden und an der Stirnseite des Raumes hängen Schlüsselwerke Caspar David Friedrichs: So konnte beispielsweise der berühmte «Wanderer über dem Nebelmeer» aus der Hamburger Kunsthalle ausgeliehen werden, oder «Der Watzmann» aus der Berliner Nationalgalerie. An den Längswänden des Raumes sind die kleineren Formate platziert, sie sind nach Motiven gruppiert: Die Küste bei Mondenschein, die Baumgruppen, die Segelschiffe. Friedrich wird neben Künstlern wie Claude Lorrain oder Jacob van Ruisdael gezeigt, auf diese Weise sind gute Vergleiche möglich. Eine ansehnliche Zahl von Werken stammt aus dem Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, das für diese Ausstellung mit dem Kunst Museum Winterthur kooperiert hat. So konnte eine reichhaltige, stimmige Schau des grossen Romantikers Friedrich zusammengestellt werden.

Obacht Kultur, Farbe

Lisa Rotach, Naturfarben: «Wir lassen uns aufs Material ein, es gibt den Umgang und die Zeit vor.»

«Machen Sie mal, das wird schon gut.» – solche Sätze hört Lisa Rotach manchmal von ihren Kundinnen oder Kunden. Dieses Vertrauen ist schön, dennoch möchte die Malerin ihre Arbeit im Austausch entwickeln. Schliesslich werden Farben sehr unterschiedlich wahrgenommen und können die Atmosphäre eines Gebäudes entscheidend beeinflussen. Für Lisa Rotach ist es wichtig zu erfahren, wie die Menschen leben, wie sie die Räume nutzen, welche Lieblingsfarben sie haben. Denn ihre Arbeit geht weit über einen Wandstrich hinaus: «Ich vermittle, wie Farben eingesetzt werden können in Verbindung mit Architektur und Licht.» Diese konzeptuelle Arbeit gehört nicht zu den Grundkenntnissen im Malerhandwerk. Lisa Rotach hat sie sich in mehreren Weiterbildungen angeeignet. Am Anfang stand eine konventionelle Malerlehre und die die Arbeit in einem Grossbetrieb mit künstlichen Farben. Das war für Lisa Rotach weder interessant genug noch der Gesundheit zuträglich, deshalb hat sie sich für einen anderen Weg entschieden, hat eine Ausbildung zur Baubiologin abgeschlossen, mehre Weiterbildungen absolviert und ist zertifizierte «Meisterin der Farbe». Damit arbeitet sie nach den Farbprinzipien von Le Corbusier mit natürlichen Farbpigmenten: «Ich mache keine Abstriche mehr bei der Qualität und der Ökologie. Unsere Farben mischen wir selber im Betrieb nach biologischen Grundsätzen.» Einem aktuellen Trend folgt sie damit nicht, sondern einem Grundbedürfnis der Menschen: «Wir verbringen viel Zeit im Innenraum, da ist es wichtig womit wir uns umgeben – Gift passt da nicht dazu.» Allerdings gibt es einen limitierenden Faktor in der Arbeit mit Naturfarben: die Zeit. Die Prozesse dauern länger, die Farben trocknen langsamer. Aber für Lisa Rotach ist auch das keine Hürde: «Wir lassen uns aufs Material ein, es gibt den Umgang und die Zeit vor.»

Jürg Müller, CEO arcolor, Waldstatt: «Unsere Farbe muss was aushalten!»

Trinkröhrli, Paketklebeband und eine graue Tischplatte haben weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick etwas gemeinsam. Und doch: In allen dreien steckt Arbeit von arcolor drin. Hier, in Waldstatt, produziert die Firma Druckfarbe, die weltweit eingesetzt wird – in der Möbelindustrie, für Verpackungsmaterialien und vieles Anderes, das Farbe braucht. Arcolor stellt Konzentrate her, die an die Druckereien geliefert werden, die wiederum die weiterverarbeitenden Betriebe beliefern – bis schliesslich der Tisch, der Trinkhalm oder das zugeklebte Paket im Haushalt oder im Büro landen. Arcolor ist Teil einer langen Kette und muss alle ihre Glieder im Blick behalten, wie Jörg Müller, CEO von arcolor, betont: «Farbe ist viel mehr als ein Farbton. Sie muss temperaturbeständig sein, gut verarbeitbar und zum Schluss auch lichtecht. Unsere Farben müssen auf langer Strecke etwas aushalten.» Denn ein Möbel ist kein Wegwerfartikel, selbst wenn seine Farbe Trends unterworfen ist. Während also die Konsumindustrie auf Trendscouts setzt, ist bei arcolor die grösste Abteilung jene für «Forschung und Entwicklung». Sie tüftelt an Zusammensetzungen, deren Pigmente nicht die Farbdüsen der Drucker verstopfen, die sich auch auf grossen Flächen homogen verteilen lassen, die leuchten, nicht ausbleichen und selbstverständlich schadstofffrei sind. Arcolor-Farben sind Alleskönner – und deshalb überall gefragt. Von Waldstatt aus gehen fast 100% der hier hergestellten Farbkonzentrate in die ganze Welt und sind in vielen Bereichen das weltweit einzige Fabrikat. Wer also farbig bedruckte Kartons, Folien oder Klebebänder erblickt, hat höchstwahrscheinlich ein bisschen Farbe aus Waldstatt vor sich.

«Obacht Kultur», Farbe, N° 46, 2023/2

Christian Hörler

Bildbogen, Obacht «Farbe», 1´800 Zeichen max.

Seite A, 2023, Filzstift auf Papier, 43.5 x 30 cm 2023
Seite B, 2023, Filzstift auf Papier, 43.5 x 30cm 2023

Ein Stein wie ein Fels – eine Zeichnung kann die Dimensionen verschieben: Christian Hörler (*1982) legt einen Stein auf ein Blatt Papier und umfährt die Konturen mit einem Stift, legt ihn auf eine andere Weise auf ein neues Blatt Papier und umfährt wieder die Konturen. Jedes Mal entsteht eine andere Form auf dem Papier. Gemeinsam ist diesen linearen Zeichnungen: Sie lassen sich mühelos ins Monumentale weiterdenken: Der Stein wird zum Fels. Diese Verwandtschaft des Kleinen mit dem Grossen beobachtet und studiert Christian Hörler in seiner künstlerischen Arbeit. Er hat sich ein umfangreiches geologisches Spezialwissen angeeignet. Sowohl in den Appenzeller und St. Galler Bibliotheken ist er häufig unterwegs, zugleich hat er daheim in Wald AR eine ansehnliche Büchersammlung. Dabei verfolgt Hörler keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern seinen künstlerischen Ansatz: «Ich suche einen Weg, meine Studien und die Erkenntnisse künstlerisch zu übersetzen.» Das fängt weder in den Büchern an, noch hört es dort auf: Neben der Lektüre gehören die Suche nach Steinen und nach einem weiter gefassten künstlerischen Ausdruck dazu sowie das Ansehen und Verstehen der Landschaft: «Ich bewege mich im Gelände und lerne, es zu lesen und einen selektiven Blick zu entwickeln für natürliche und künstliche Formationen.» Letzteren gilt Hörlers besonderes Interesse: Gezielt sucht er Abbruchstellen, um dort Steine auszuwählen. Eine andere Form der Annäherung sind die abgebildeten Umrisszeichnungen. Die Farbe wählt er dafür intuitiv: «Es ist ein einfacher Griff in die Schublade.» – violett oder dunkelgrün, braun oder grau – für den Stein passt es immer.

Obacht Kultur, Farbe, Bildbogen, N° 46, 2023/2