Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Kulturlandsgemeinde 2023 – Der Sennenhund als Sibesiech

Steff Signers «Pläss» kann mehr als Bellen, Kühe hüten und den Hof bewachen. Er ist die Projektionsfläche für Unaussprechliches und Menschliches.

Der Hund, ein Stück Heimat: Der Bläss gehört ins Appenzellerland. Hier ist er Arbeitstier, Hofhund, Haustier. Er treibt die Kühe an, hält sie auf dem Weg, bewacht das Grundstück, begleitet seine Menschen und verbellt die anderen. Ausserdem schwingt sich der Bläss von der Kinderschaukel, trägt seine Artgenossen huckepack, tanz und kugelt durch die Welt – wenn Steff Signer ihn zu Papier bringt. Der Bläss kann viel, in Signers Bildern kann er noch mehr. Hier heisst er «Pläss» und ist ein Tausendsassa, ein Sibesiech, aber einer mit Herz und Seele. Steff Signer lässt ihm die Tränen aus den kleinen roten Augen kullern, Luftsprünge vollführen oder ins sprichwörtliche Unglück stürzen. Er ist nicht länger der Sennenhund mit Posthornschwanz, sondern ein universales Wesen. Das funktioniert auch dank der Reduktion: Steff Signer setzt seine «Pläss» aus wenigen markanten Formen und Stricken zusammen und verzichtet auf dreidimensionale Effekte. Er greift auf ein Formenrepertoire zurück, das er bereits als 14jähriger Kantonsschüler am Beispiel einer Katze und eines Stiers entwickelt hat: Der Körper ist als schwarze Fläche dargestellt, die Beine sind schmale Striche und der Kopf ist ein gleichseitiges Dreieck. Dieses ist beim «Pläss» gelb. Darin sitzen zwei rote Punkte für die Augen und ein etwas grösserer für die Schnauze. Ohren und Schwanz sind ebenfalls schwarze Striche.
Mehr braucht ein «Pläss» nicht, um sich als Identifikationsfigur zur Verfügung zu stellen. Er agiert als der Hofnarr, der sagen darf, was der Etikette widerspricht. Er bricht Tabus und legt seine eigene, oft melancholische Gefühlswelt offen dar. Steff Signer schreibt dem «Pläss» die Aussprüche, Gedanken und Flüche direkt ins Bild. Mitunter greift er dabei aufs Jiddische zurück, das er als kraftvolle Sprache schätzt. Text und Motive sind eng verflochten und mit Ornamenten ergänzt. Oft sitzt die Schrift auf eigens platzierten Farbstreifen oder -feldern. Sie prangt mitten im Bild oder rahmt die Motive. So verflechten Steff Signers Bilder Elemente aus der Volkskultur mit solchen aus Graphic Novels und der Naiven Kunst. Wiederholungen und Reihungen spielen eine wichtige Rolle. Der Bläss tritt sowohl als Solist, als auch im Rudel auf oder in Formationen, die an Alpaufzüge erinnern. Er beherrscht das Bild als monumentale Form oder wuselt in Miniaturgrösse darin herum. Daneben treffen zarte Muster und getüpfelte Linien auf geometrische Flächen in starken Farben. Letztere nehmen Bezug auf die gelben Hosen und roten Westen der Sennen, auf das Blau, wie es die Bergseen spiegeln. Der schwarze ovale Körper des «Pläss» hingegen steht für das schwarze Gefühl, wie es sich auch im Appenzellerland einstellen kann: «Pläss»-Bilder transportieren das Brauchtum und die Landschaft, die Verbundenheit zwischen Menschen und Tieren, die Gemütszustände und Lebenshaltungen auf prägnante, unmittelbare Weise. Steff Signers künstlerischer Ausdruck steht in der Tradition naiver Malerei aus dem Hinterland. Mit einfachen Materialien und wenigen Farben, mit Geist und guter Beobachtungsgabe bringt er Situationen zu Papier, die ihre Wurzeln Appenzellerland haben, aber weit darüber hinaus verstanden werden. Kristin Schmidt

Stefan Steff Signer ist 1951 in Hundwil geboren und lebt in Herisau. Er ist Komponist und Musiker, Schriftsteller und Maler.

Kulturlandsgemeinde 2023 – Duftende Zedernoten

Die Kulturlandsgemeinde heimatet. Und marc norbert hörler entwickelt eigens dafür duftende Installationen.

notes on cedar, 2023
olfaktorische atmosphäre
zedernholz, bergamotte, yuzu, vetiver, wachholder, myrrhe

rugguseli (ace of swords, dandelions, song for tenderness), 2023
audio, 60 min
komposition/stimme—marc norbert hörler
musikproduktion/sound design—pablo giménez arteaga

the smoke in our nostrils, 2023
olfaktorische atmosphäre
weihrauch, oud, tabak, myrrhe, zedernholz, fichte, lavendel, pinie

Gerüche tragen Bilder in sich. Sie haben die Kraft, Jahrzehnte zu überbrücken und längst beiseite geschobene Erinnerungen wieder hervorzurufen. Gerüche können mühelos Gedanken, Gefühle und einst Gesehenes transportieren. Ist dieses Potential der Gerüche sogar noch grösser? Sind Gerüche auch mit Identitäten, historischen Ereignissen und gesellschaftlichen Realitäten verbunden? Wann wird ein Geruch als Duft wahrgenommen? marc norbert hörler erforscht Gerüche. Für die Kulturlandsgemeinde 2023 hat marc eigens zwei Düfte komponiert und inszeniert damit unterschiedliche olfaktorische Atmosphären. «the smoke in our nostrils» spannt eine Klammer vom Dachgeschoss des Zeughauses bis ins Untergeschoss. Während zuoberst ein Duft verströmt wird, der seine Noten über alle Etagen hin entfaltet, erklingt im Kellergeschoss eine Soundspur. Für diese hat marc norbert hörler eigene Gedichte vertont, spielt sphärische Klänge ein und singt Rugguseli. Die Gedichte spiegeln eine hybride Realität: sie speisen sich aus alten Liedern und Zaubersprüchen und verschmelzen sie mit zeitgenössischer Lyrik. Für die olfaktorische Atmosphäre kreierte marc norbert hörler einen heuartigen Duft mit Kräuternoten und einer rauchigen, verbrannten Komponente. Der Titel dieser Sound- und Duftinstallation bezieht sich auf eine Aussage der Neopaginistin Starhawk über den Geruch der Hexenverbrennungen, der noch immer in unseren Nüstern hänge. marc norbert hörler setzt sich in seiner aktuellen Arbeit insbesondere mit den Hexenverbrennungen in Appenzell Innerrhoden auseinander. Im Zeughaus Teufen verweist marc beispielsweise mit violettfarbigen Fensterfolien und dem dadurch violett erscheinenden Licht im Treppenhaus auf okkulte Themen, zugleich ist diese Farbe queer aufgeladen.
Mit dem Werkbeitrag der Innerrhoder Kulturstiftung 2021 erforscht marc okkulte Praktiken, Zaubersprüche und Hexenprozesse und recherchiert im dortigen Landesarchiv in Protokollen des geheimen Rates und zu Zeugenaussagen. Diese Forschungen und Recherchen werden in «hecatan lines» mit Elementen der Volkskultur und einer queeren, globalen Perspektive verbunden. Das Werk ist derzeit ausgestellt im Kunstmuseum Appenzell. Es führt Gesang, Duft und Sprache zusammen. Alle drei Ausdrucksformen sind vergänglich und sind auch in magischen oder religiösen Zusammenhängen unentbehrlich. Für das Zeughaus Teufen hat marc norbert hörler diese Arbeit transformiert und dabei auch das diesjährige Thema der Kulturlandsgemeinde integriert. Sie widmet sich der Erzählung von Heimat. Auch dabei entfalten Düfte eine grosse Kraft: Sie evozieren Stimmungen, Gefühle und Erinnerungen auch in Bezug auf Herkunft oder Verbundenheit mit einer Landschaft, einem Ort, einer Szene oder Gruppe. hörler arbeitet dies auch mit «notes on cedar» heraus. Diesen Duft entwickelte marc eigens für die Bar «El Gato Muerto» von Barbara Signer und Michael Bodenmann. Die kleine nomadisierende Bar macht für die Kulturlandsgemeinde Station in Teufen. Mit ihrer Einrichtung, der Enge, den Fotografien, japanischen Zigarettenschachteln und vielen anderen Dingen aus dem Reisefundus von Signer und Bodenmann bezieht sie sich auf die kleinen Bars in Tokyo, in denen nach dem langen Arbeitstag eingekehrt, getrunken und geraucht wird. Letzteres ist hierzulande nicht mehr erlaubt, damit fehlt ein wichtiger olfaktorischer Faktor in dem kleinen Raum. Stattdessen bringt marc norbert hörler eine reiche Duftkomposition ins Spiel: «der duft von zedernholz trägt zitrische und frische bis würzige elemente in sich. zusammen mit zitrischen aspekten von bergamotte und yuzu ist der duft in den holzigen, harzigen und trockenen aspekten von vetiver, wacholder und myrrhe geerdet.» Die zitrischen und holzigen Noten übertragen sich auf die Polster und das Holz in der Bar, gegenseitig durchdringen sich die alten, längst eingelagerten Gerüche und der neue Duft. Diese Symbiose von hier und heute, von Ferne und früher weckt für die Einen ein vertrautes Gefühl, für die anderen schwingen Fremde oder Sehnsüchte mit: Düfte können Geschichten erzählen, sie überbrücken nicht nur Zeiten, sondern auch riesige geographische Entfernungen.

marc norbert hörler (*1989, dey/er, Appenzell) lebt und arbeitet zwischen Appenzell und Berlin. marc studierte Bildende Kunst (BA) am Institut Kunst Gender Natur an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel (2013–2016) und Art Praxis (MA) am Dutch Art Institute in Arnhem (2018– 2020).

Diebinnen und andere Räuber

Verstreuter Kirchenschatz – die abhanden gekommenen Plastiken von St.Martin in Appenzell

«Stattliche Landkirche, steil über dem Ufer der Sitter» beschreibt der «Kunstführer durch die Schweiz» die Katholische Pfarrkirche St. Mauritius in Appenzell. Der erste Kirchenbau stand bereits 1069 an dieser Stelle und er hat – wie viele Gotteshäuser – Umbauten, Anbauten und Neuausstattungen erlebt, denn der Geschmack wandelte sich, Brände vernichteten Teile des Kirchenschmuckes, Renovationen wurden notwendig. Aber was passierte mit ausgemusterten Kunstwerken? Der erstmals 1422 erwähnte Hochaltar beispielsweise ist in Teilen gut beschrieben: Neben Mauritius waren unter anderem alle Apostel versammelt, Johannes der Täufer, Konrad und Theodul, Dorothea und Maria Magdalena. Diese Andeutungen haben Rosam Kellers wissenschaftlichen Ehrgeiz geweckt. Der Herisauer hat Kunstgeschichte in Basel studiert und dem Altar eine Seminararbeit gewidmet, denn, so Rosam Keller, «es gibt bis heute davon kein Gesamtbild, sondern nur eine lückenhafte Rekonstruktion, die obendrein bereits 40 Jahre alt ist». Sie stammt vom Kapuzinerpater Rainald Fischer. Er hatte ein immenses Wissen über die Innerrhoder Kunstdenkmäler zusammengetragen und teilweise Andeutungen zum Verbleib der alten Holzplastiken gemacht. Rosam Keller hat versucht, «herauszufinden, ob diese Figuren noch immer an diesen Orten sind und in welchem Zustand.» Er hat in Archiven und Bibliotheken geforscht, war vor Ort und startete sogar einen Zeitungsaufruf. So hiess es am 29. September 2018 im Appenzeller Volksfreund «Wer weiss um den Verbleib dieser antiken Christus-Figur?»
Mit manchen Besitzern der alten Figuren konnte Rosam Keller sprechen. Dabei erkundigte er sich, wie sie an die Holzschnitzereien gekommen sind. Mitunter wurde auf die Grosselterngeneration verwiesen, manchmal gab es ein Achselzucken. Vieles wird sich laut Rosam Keller nicht abschliessend klären lassen: «Ob sich die Vorfahren am Kirchenschatz bedienten, ob sie für aktive Gemeindearbeit damit entlohnt wurden beziehungsweise die Kirchenverwaltung Stücke aus dem Fundus verschenkt hat – dafür liegen der Natur der Praxis wegen keine Nachweise vor. Diebstähle im klassischen Sinn gab es wohl keine.» Manches ist auch wohlverwahrt an etablierten Stellen, so befinden sich die beiden Altarflügel des früheren Hochaltars heute im Landesmuseum Zürich und einzelne Figuren im Museum Appenzell. Einen Teil des alten Kirchenschatzes hat die Ausserrhoder Künstlerin Vera Marke gehoben: Er war im Dachstuhl von St. Mauritius gelagert – verstaubt und gestapelt, ausrangiert und vergessen. Der Bestand wurde geordnet, geputzt, inventarisiert und in ein Schaulager überführt. Die «Himmleze» kann auf Anmeldung besichtigt werden.

Das geraubte Bloch – Mehr als ein Buebestreich

Halb fünf Uhr früh fanden sich die Buben beim Restaurant Mühle ein. Alle bereits verkleidet für das Buebebloch: Zimmermänner, Sennen, Jäger, weitere Berufe, aber auch ein Bär und sein Bärenführer. Besonders wichtig: der Schmied, der zuhinterst auf dem Bloch sitzt, es rauchen und ab zu zu krachen lässt, und die Kässeli-Buebe, die das Geld in den Büchsen klingen lassen. Alle waren parat. Für fünf Uhr war der Abmarsch geplant. Aber das Bloch war weg, der ganze geschmückte Stamm samt Wagen. Verschwunden! Statt: «Iistoh! Züüche!», lange Gesichter: «Die Enttäuschung der Bueben war riesengross,» berichtet Gemeindepräsidentin Margrit Müller. Sie war 2006 seit einem Jahr Gemeinderätin in Hundwil und hat den Diebstahl des Bloch als Mutter erlebt: «Einer meiner beiden Söhne war damals mit dabei. Die Kinder waren voller Vorfreude am Blochmorgen. Aber das Bloch war einfach weg!»
Geklaut, entführt, am Ende gar zerstört? Das hatte es noch nie gegeben; in den ganzen 200 Jahren der Tradition des Hundwiler Buebebloch nicht. Auch Sonja Oertle hat die Enttäuschung ihrer drei Buben an jenem Morgen erlebt. Ihr Mann Johannes koordiniert die alljährliche Organisation rund um das Hundwiler Buebebloch. Hier bei ihm und seiner Frau und ihrer «Bäckerei Restaurant Mühle» steht das Bloch jeweils über Nacht. Hier in der Gaststube werden die Kinder am Blochmontag mit heisser Ovi gestärkt. Hier kam am der älteste Sohn an jenem Morgen in die Stube mit der Nachricht: «Das Bloch ist weg!» Johannes Oertle schickte seinen Buben wieder nach draussen: «Du hast doch nicht richtig geschaut!» Aber Stamm und Wagen blieben verschwunden. Auch die anschliessende Suche im halben Kanton blieb erfolglos. Erst ein Radioaufruf, wer den Bloch gesehen habe, solle sich melden, brachte Neuigkeiten: Das Bloch stand auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell. Und die Polizei? «Die kam erst, als das Bloch wieder da war,» erinnert sich Sonja Oertle und berichtet von den Versuchen herauszufinden, wer das Bloch entführt haben könnte: «Der Weg konnte wegen der heruntergefallenen Tannenzweige verfolgt werden. Die Diebe mussten Erfahrung gehabt haben mit dem bremsenlosen Wagen, und ein Anwohner hat am Morgen nach seiner Nachtschicht ein verdächtiges Auto stehen sehen. Spuren im Schnee gab es auch.» Doch der Fall ist bis heute ungelöst. Sicher ist nur: «Das war für uns kein Streich!», so Sonja Oertle. Sachentziehung und grober Unfug war es für die Polizei. Ganz gleich wie die damalige Tat benannt wird, wiederholen wird sie sich nicht so leicht, dafür sorgen Oertles direkt vor der Tür der «Mühle».

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1

David Berweger

Le Néophyte (Nature Morte aux Arabesques), 2021
Siebdruck auf Kunstseide, Garn
55 x 25 cm

Hohe Säle, textile Wandbespannung, hölzerne Türlaibungen und Heizkörperverkleidungen – das 1916 eröffnete Kunstmuseum Winterthur ist Sockel und Rahmen: Hier soll die Kunst ehrfurchtsvoll betrachtet werden, flüsternd und gemessenen Schrittes, von Saal zu Saal bis zu einem polygonalen Raum. Dahinter führt ein Gang zu dem vom Architekturbüro Gigon/Guyer entworfenen Erweiterungsbau für die zeitgenössische Kunst. Wer dorthin will, passiert zuvor die klassische Moderne und ihre Vorläufer – und hat vielleicht den Wimpel übersehen: In den polygonalen Raum wurde er wie ein Fremdkörper hinein geschmuggelt. David Berweger hat ihn für die Dezemberausstellung … entworfen. Bereits für die Jubiläumsedition der Ausserrhodischen Kulturstiftung, 2019, hatte der Künstler einen Wimpel beigesteuert: Dreieck, Fransen, geometrische Gestaltung, Emblem oder Textfeld – Berweger bezieht sich auf die Typologie eines Wimpels, ersetzt jedoch die zentrale Wort-Bild-Marke durch eine monochrome Fläche. Der konkrete Vereinsbezug fehlt, umso universeller erzählen die Wimpel vom Sport, von der Fankultur, dem Jubel, dem Lärm und auch der Gewalt.
Klein, beinahe unscheinbar ist Berwegers Intervention im Kunstmuseum Winterthur. Formal fügt sie sich mühelos der reduzierten Formensprache der abstrakten und konkreten Kunst an, inhaltlich öffnet sie sich für grosse Fragen: Was gehört in eine Museumssammlung? Welches sind die etablierten Regeln des Kuratierens und Zeigens? Worauf lohnt es sich, im Kunstkontext zu achten? Zum Beispiel auf die Leerstellen: Im Wandsegment neben dem Wimpel ist eine rechteckige Stofffläche weniger ausgebleicht als die übrige Bespannung. Offensichtlich hing hier früher ein Gemälde. Die Beschriftung gibt jedoch keinen Aufschluss, sie verweist auf David Berwegers Werk. Fehlt also etwas? Gehört die Leerstelle zu «Le Néophyte»? Leichtfüssig und ohne einfache Antworten zu liefern, unterwandert der Künstler die Konventionen des Ausstellens und führt auf neue Fährten.

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1

Serafin Krieger

Ohne Titel (2013/2019)
Fotografie

Wie beruhigend, wenn die Dinge in Ordnung sind, wenn alles auf seinem Platz, alles sortiert, klassifiziert oder schubladisiert ist. Der Mensch hat den Drang, die Welt zu überblicken, alles ein- und zuzuordnen. Gelingt dies, kann das sehr beruhigend sein. Doch mitunter gerät die Ordnung aus den Fugen. Dinge sind verschwunden, am falschen Platz oder entziehen sich der Beschreibung. Serafin Krieger spürt solche Fehlstellen auf. Aufmerksam bewegt sich der 1995 in Heiden geborene Künstler sowohl im Alltag als auch auf Reisen durch die Welt und hält täglich fest, was ihm auffällt. Er fotografiert die Merkwürdigkeiten, die Irritationen im Gewohnten, schreibt sie auf oder zeichnet seine Alltagsbeobachtungen. Smartphonekamera, digitale Notizfunktion, aber auch Skizzenbuch und Stift trägt er immer mit sich.
Für Serafin Krieger sind diese Notationen inzwischen eine gut geübte Praxis, die er mit seiner künstlerischen Arbeit verbindet: «Die Beobachtungen sind Teil des Weiterarbeitens. Sie können einen Diskurs auslösen, lassen sich neu kombinieren oder führen auf neue Denkspuren.» Um auf die Fundstücke gezielt zugreifen zu können, braucht auch Serafin Krieger Ordnungssysteme. So gibt es beispielsweise in seinem Bildarchiv die Kategorie der optischen Täuschungen. Dazu gehört die Aufnahme der parkierten Autos zwischen Glasfronten: Durch die Spiegelung scheint sich der weisse Kleinwagen zu verdoppeln und sich wie ein Parasit das dunkel lackierte Nachbarauto einzuverleiben. Wer nimmt hier wessen Platz ein? Eine Frage, die sich auch bei der Fotografie einer Taube stellt. Sie sitzt auf einem Metallträger für Werbetafeln: Nehmen die benachbarten Metallnägel den Vögeln ihren Platz weg? Oder ist es die Taube, die sich in der Lücke einen Platz gesucht hat, der ihr nicht zusteht? Serafin Krieger hat die Situation in dem Moment fotografiert, in der unterhalb der Abwehrnägel für einen Zoo geworben wird. Nicht zufällig führt das zur Frage: Welche Tiere wollen wir und welche können uns gestohlen bleiben?

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1

Es heimatet sehr

Seit 2005 zieht die Kulturlandsgemeinde durchs Appenzellerland. In diesem Jahr lädt sie am Auffahrtswochenende ins Zeughaus Teufen, den Heimatbegriff zu erkunden. UlrichVogt, künstlerischer Leiter der Kulturlandsgemeinde 2023/24, berichtet im Interview mit Kristin Schmidt, wie umfassend das Thema verstanden werden kann.

Für die kommende Ausgabe der Kulturlandsgemeinde gibt es zum ersten Mal einen künstlerischen Leiter. Ueli, hast du das Ideenmonopol oder bist du mit Mitdenkerinnen und Mitdenker gesucht?

In der Leitung sind wir zu zweit unterwegs: Jolanda Gspohner ist administrative Leiterin, mit ihr arbeite ich eng zusammen. Unterstützt hat uns wesentlich die Präsidentin der Genossenschaft, Theres Inauen, aber auch der ganze Vorstand, ein bewährtes Gremium, das die Kulturlandsgemeinde seit langem begleitet. Ein Workshop mit Fachleuten zur Thematik und der Umgebung im Vorfeld hat wesentliche inhaltliche Eckpunkte gesetzt. Ausserdem habe ich das Glück, auf Anna Beck-Wörner zählen zu können. Ich nenne sie auch die Ghost-Leitung. Sie steht informell für Fragen, bei Ungewissheiten, aber auch einfach auch als Klagemauer zur Verfügung.

Heimat, das diesjährige Thema der Kulturlandsgemeinde, ist ein Dauerbrenner. Literatur und Film bearbeiten Herkunft und Hiersein, das Stapferhaus widmete 2017 der Heimat als Grenzerfahrung eine Ausstellung, aktuell zeigt das Alpine Museum Bern eine Schau dazu. Was treibt die Kulturlandsgemeinde jetzt zur Heimat?

Wir untersuchen Heimat als etwas, das dauernd neu erschaffen werden muss. Darum führen wir den Begriff Heimat im Festivaltitel als Verb: von ich heimate bis wir heimaten. Wird es im Plural verwendet, kommt die Mehrzahl, die Vielfalt der möglichen Heimaten zum Ausdruck. Für mich verbindet sich das Thema auch mit den Beobachtungen aus elf Jahren intensiven Arbeitens im Appenzellerland. Nun gehe ich einen Schritt zurück und versuche, die Beobachtungen zu reflektieren und einzuordnen. Viele, mit denen ich darüber gesprochen habe, bestätigten mir meine Eindrücke des Appenzellerlandes.

Welche Eindrücke sind das im Besonderen, die mit Heimat zu tun haben? Und wird die Kulturlandsgemeinde, die obendrein in Teufen, deinem Hauptarbeitsort während der zehn Jahre, zu einem Heim(-at-)spiel für dich?

Ich habe besonders im Appenzellerland ambivalente Gefühle gehabt. Dieses Geborgenheitsgefühl in der Tradition mit Trachten, dem Zäuerlen, der Streusiedlung, dem Bläss, den Kühen: Umgibt einem das liebevoll, oder umschlingst einen? Erdrosselt es gar? Oder ist es auch ein Schutzschild, eine Abgrenzung? Das lohnt einer näheren Betrachtung aus vielen Richtungen, wie wir es mit der Kulturlandsgemeinde vorhaben.
Die Festivalausgabe im Zeughaus Teufen ist für mich nur noch ein Gastspiel. Lilia und David Glanzmann leiten das Haus jetzt nach ihren Vorstellungen und haben schon einen sehenswerten Anfang gemacht. Das Haus wird hoffentlich ihnen und vielen neuen Interessierten zur Heimat. Ich selbst kenne zwar noch ganz viele Orte und Eigenheiten, habe allerdings keinen internen Zugang mehr dazu. Das war und ist vielleicht auch eine Motivation dieses Thema zu wählen: Wie ist es, wenn man eine solche selbst gestaltete Heimat aufgibt? Stimmt die Bezeichnung Heimat überhaupt? Kann Heimat negiert werden? Wie fühlt sich das an, wenn es neue Heimat wird? Das alles finde ich interessant und darauf wird es viele mögliche Blickwinkel geben.

Es gehört zur Tradition der Kulturlandsgemeinde jeweils aktuelle gesellschaftliche Fragen von sehr verschiedenen Seiten anzugehen. Welche Schwerpunkte, Besonderheiten und ungewöhnliche Ansätze wird es zum Heimatbegriff geben? Das Feld ist weit, es reicht von Sprache bis Religion, von Geographie bis Gefühl. Wie hast du es abgesteckt?

Ich – als machender Denker, als polyvalenter, professioneller Dilettant – gehe bei den Plattformen, Gesprächsrunden zwischen sehr unterschiedlichen Gästen, von ganz praktischen Modellen aus: Die erste Plattform nähert sich dem innersten Immateriellen, der Idee einer Heimat. Hier sind auch Gedanken zu Sprache, Religion oder Philosophie enthalten. Bei der nächsten Plattform steht das Physische im Zentrum – ich bin eben auch ein bekennender Materialist: Es geht da um den Körper, die physische Hülle als Heimat oder eben auch als fremd Empfundenes. Die dritte Plattform kreist um die Umgebung, unsere Gehäuse, die Architektur und die Landschaft.

Das Format der Plattformen ist charakteristisch für die Kulturlandsgemeinde. Wäre es inzwischen trotzdem möglich, auf neue Formen des Festivals zu setzen? Es vielleicht partizipativer zu gestalten?

Die diesjährige Kulturlandsgemeinde bleibt im Wesentlichen bei den bisherigen Formaten, erstens weil sie gut sind, zweitens weil für einen grossen Umbau die Zeit fehlte. Partizipativ war die Kulturlandsgemeinde sowie schon immer, vor allem wenn ich an die Werkstätten denke. Hier kommt das Machen, das Miteinander zum Ausdruck. Aber nichtsdestotrotz muss, kann und soll sich die Kulturlandsgemeinde verändern.

Darin liegt möglicherweise auch eine Chance, neue, jüngere Interessierte anzusprechen: Ich habe das Publikum der Kulturlandsgemeinde mitunter als sehr homogen und überschaubar erlebt. Schwimmt die Kulturlandsgemeinde in ihrem eigenen Saft? Wird das mit einem künstlerischen Leiter anders?

Der Verleger und Schnapsbrenner Christoph Keller hat mal beschrieben, was einen guten Schnaps ausmacht: Er solle nicht nach der reinen Frucht schmecken, da verzehre man besser einfach diese. Stattdessen enthalte ein guter Schnaps alle Zustände einer Frucht von der Knospe über die Blüte, zur unreifen, reifen bis zur vergorenen, verdorbenen Frucht… So ein Saft kann und soll also alles beinhalten und ein Wesen in allen Aspekten abbilden. Daher empfinde ich das Schwimmen im eigenen Saft also nicht zwingend als negativ. Ein Festival darf durchaus ein Stammpublikum haben. Das ermöglicht auch ein Vertiefen, eine Vertrautheit, eine Heimat des Denkens. Wir können das Stammpublikum auch Community nennen, dann ist es positiv konnotiert: Ein Kreis, der gemeinsam weiter denkt. Selbstverständlich ist der Austausch ein festes Element, damit werden immer neue, andere Menschen einbezogen, auch jüngere, damit es ein Weiterleben gibt.

Heimat ist ein vertrautes, aber auch ein brisantes Thema. An der Kulturlandsgemeinde soll es auch um Entwurzelung und Fremde oder Befremden gehen. Wie geht Ihr diese Aspekte an? Wie habt Ihr die Gesprächspartner und -partnerinnen ausgewählt?

Diese Facetten des Heimatthemas sind uns sehr wichtig. So ist besonders die Migration ein wichtiges Motiv der Kulturlandsgemeinde. Wir tragen dem Rechnung, wenn Yvonne Apiyo Brändle- Amolo, Hoseyn A. Zadeh, Ly-Ling Vilaysane und Hao Hohl-Yu auf den Plattformen sind. Auch vor langer Zeit ausgewanderte Schweizerinnen und Schweizer aus Amerika werden sich beispielsweise zu Wort melden.

Erwartest Du auch kontroverse Äusserungen von Menschen, die aus einer konservativen Sicht auf Werte wie Heimat und Tradition blicken?

Vielleicht kommen bei den Plattformen Fragen oder Diskussionen zu solchen Aspekten auf, aber darauf zielt die Kulturlandsgemeinde nicht ab. Uns geht es um das Auslegen, um offene Gespräche, auch um das Aushalten von Widersprüchen.

Das Appenzellerland ist die Heimat der Kulturlandsgemeinde. Wie sehr spiegelt sich diese Verankerung inhaltlich?

Direkte inhaltliche Bezüge sind für uns nicht zwingend; wir verstehen das Appenzellerland eher als Folie, als Ausgangslage. Wir haben beispielsweise zusammen mit dem Heimatschutz Appenzell Ausserrhoden eine kleine Studie unter Fachleuten lanciert. Wir forderten sie auf, zu entwerfen, wie das Appenzellerlandes in 20 Jahren aussehen soll. Die heutige Streusiedlung ist aus einer spezifischen Nutzung entstanden und prägt nach wie vor das Bild der bebauten Landschaft. Sie ist präsent auf Bieretiketten, in der Tourismuswerbung und anderswo. Aber sie wird längst nicht mehr in ursprünglicher Weise genutzt. Soll nun an diesem Heimat-Bild festgehalten werden, oder soll die neue Nutzung ein neues Bild erzeugen? Aber auch hier wünschen wir uns eine breitere Wirkung über das Appenzellerland hinaus: Die Studie ist ein Fallbeispiel, welches dann auch in St. Gallen oder andernorts auf diese Weise befragt werden kann.

Heimat ist auch Essen, was gibt es an der Kulturlandsgemeinde?

Luzia Kappenthuler bereitet einen reichhaltigen Tisch und holt die Welt ins Zeughaus Teufen: Wer hier zu Hause ist, kann probieren, wie es woanders schmeckt. Wer sich in der Welt zu Hause fühlt, isst wie daheim. Wer seine Heimat im Essen sucht, wird Vertrautes und Neues gleichermassen finden.

Wird das Echo im kommenden Jahr auch wieder in Teufen stattfinden? Planst Du bereits oder geht es erst nach der Kulturlandsgemeinde los?

Das kommende Jahr ist schon in Planung, es wird laufend mitgedacht. Auch die in den vergangenen Jahren entwickelte virtuelle und hybride Form der Kulturlandsgemeinde ist uns weiterhin wichtig. Nebst dem Festival vor Ort gibt es den Echoort für Reflexion und die virtuelle, überall verfügbare Kulturlandsgemeinde. Auch künftig wird die Kulturlandsgemeinde nicht versuchen, Antworten zu geben, sondert Denkweisen oder Herangehensweisen anbieten. Daneben soll sie auch das Aushalten von Nichtwissen erleichtern.

Die Birne in der Pfütze

Absurdes, Witziges, Banales – Francisco Sierra scheut keine Grenzüberschreitungen. Mit grosser künstlerischer Finesse porträtiert er das Schräge ebenso wie das Komische. Die Kunsthalle Appenzell zeigt Gemälde, Zeichnungen und Objekte des Künstlers in einer Überblicksausstellung.

Appenzell — Francisco Sierras Malerei ist meisterhaft und die mögliche Fallhöhe gross. Den Künstler reizt die Gratwanderung. In seinen grossformatigen Gemälden zelebriert er Oberflächen mit Lichtpunkten und Glanzeffekten. Sie sind bestechend in ihrer malerischen Perfektion, mit ihren dreidimensionalen Illusionsräumen und den virtuos gesetzten Details: funkelnde Preziosen, lebendig blickende Augen, mit Pinsel und Farbe inszenierte, raffinierte Unebenheiten. Aber was er da malt: Delfine, Monde, Vasen – Dinge, die aussehen, als seien sie aus Keramik gefertigt und glasiert; Dinge, die schräg und schrecklich sind in ihrer Ästhetik, ihrem unbedarften Anspruch, etwas Reales abzubilden. Tatsächlich töpfert Francisco Sierra selbst auf der Basis von Kugelschreiberzeichnungen. Er fotografiert die entstandenen Keramiken und überträgt sie in Öl auf die Leinwand. Ist das Deko? Ist das Kitsch? Es ist Malerei! Der 1977 in Santiago de Chile geborene und 1986 in die Schweiz emigrierte Künstler beherrscht das Handwerk so gut, dass er sich an Grenzen heranwagen kann: Wann droht das Banale die Oberhand zu gewinnen? Wie lange behauptet sich das Medium Malerei gegen den Tand? Bei den figurativen Gemälden im Erdgeschoss der Kunsthalle Appenzell hält diese fragile Balance. Bei den Mittelformaten im ersten Obergeschoss kippt sie zuweilen: Wenn kleine geschlechtslose Wesen ein Stangenbrot wie einen Drachen fliegen lassen oder jedes eine Kartoffel am Faden hält, dann hat das vor allem illustrativen, narrativen Charakter. Wenn ein Schwarzes Quadrat mit Jetpack davon düst, kommt noch ein Verweis auf die Kunstgeschichte hinzu, aber es vermag ebenso wie die Birne mit Penis in ihrer eigenen Pfütze bestenfalls kurz zu amüsieren. Hier überzeugen vor allem die Kugelschreiberzeichnungen: Sierras Humor kommt darin frisch und beiläufig daher, während die malerische Transformation dem Witz die Unmittelbarkeit nimmt.
Im obersten Stockwerk der Kunsthalle zeigt der Künstler vierundvierzig Miniaturporträts von Guppys auf geschweiften Wandsockeln. Die visuell attraktiven Tiere sind beliebte Zierfische und damit das ideale Sujet für Francisco Sierra: Sie fordern für hyperrealistische Abbilder das ganze Können des Künstlers, sie reizen zum Spiel zwischen Dekoration und Kunst und stehen zugleich für das komplexe Verhältnis von Natur und Künstlichkeit.

Alexandra Bachzetsis – Bewegung ist immer

Alexandra Bachzetsis analysiert weibliche und männliche Attitüden und Gesten im öffentlichen Raum. Die Zürcher Künstlerin übersetzt diese Typologie in Bewegung: Ihre Performances werden im musealen Kontext wie auch auf Bühnen präsentiert. Die aktuelle Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen zeigt Schlüsselmomente ihrer künstlerischen Karriere.

Mit den Schultern zucken, die Lippen spitzen, die Haare zurückwerfen, langsam die Augen aufschlagen – Gestik und Mimik lassen sich anspielungsreich einsetzen. Vieles davon wird eindeutig verstanden. So ist bei repetitiven, stossweisen Beckenbewegungen keine zweite Person vonnöten, um allgemein verständlich einen Geschlechtsakt anzudeuten. Anderes bleibt kleineren Kulturkreisen vorbehalten oder ist vollständig tabuisiert. Das kann sich ändern: Die gesellschaftliche Akzeptanz von Bewegungen wandelt sich genauso wie deren Art und Interpretation. Twerking beispielsweise ist inzwischen selbst auf Schulhöfen verbreitet, wenngleich es noch immer als anstössig gilt. Alexandra Bachzetsis verfolgt solche Entwicklungen. Die in Zürich lebende Künstlerin und Choreografin arbeitet mit dem menschlichen Bewegungsrepertoire. Sie untersucht insbesondere dessen geschlechtsspezifische Ausprägungen und Wahrnehmungen sowie die Verbindung zur Sexualität: «Mich interessieren Fragen zum Körperkult: Wie nehmen wir den Körper wahr? Wie identifizieren wir uns mit der Sexualität der Körper in der Gesellschaft? Wofür steht die repetitive Bewegung? Welche Gesten und Abläufe gibt es? Es geht stark um die Frage des Körpers im Exzess und um die Gratwanderung zwischen Ausbeutung und Leidenschaft.»

Starke Körper, junge Körper

In ihrer Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen zeigt Bachzetsis ältere und jüngere Arbeiten sowie eine eigens entwickelte Performance. Bereits in der so aufgefächerten Spanne von rund zwanzig Jahren zeigen sich zeitspezifische Details. Das liegt auch daran, dass popkulturelle Phänomene eine wichtige Rolle in Bachzetsis‘ Arbeit spielen, drücken sich doch hier Sexualität, Körperbild und jugendliches Selbstverständnis aktuell und in gesellschaftlicher Breite aus. So behandelt ‹Take On Gold›, 2023, den sexualisierten Körper in der Musikbranche. Doch statt eines makellosen Pop-Idols bewegt sich hier eine reale Frau zu den lapidar auf Blätter gekritzelten Anzüglichkeiten, die sie jeweils zerknüllt und wegwirft: «Das Video kehrt die sexualisierte Sprache um und zeigt die Ermächtigung.» Genderthemen interessieren die Künstlerin seit langem, sie beschäftigen Fragen wie: «Warum wird eine starke Frau als zu stark wahrgenommen? Welche Ängste löst eine zu starke Präsenz aus? Wann ist etwas zu stark, zu schön oder zu sexualisiert?» Solche Überlegungen führen sie zu zwei eng damit verbundenen Themen: der Kleidung und dem Sport. Letztgenannter kann den Körper stärken, formen und zeigt doch immer auch Grenzen auf, da bestimmte Bewegungen möglich sind, andere nicht. Manche wiederum gehören in einen üblichen Bewegungsmodus, andere strapazieren das Körpervokabular bis zum Äussersten: «Ich untersuche den Körper als Maschine, den überproduzierten Körper, den Körper als agierende Kraft.»
In ‹Ideal for Living›, 2018, lieferte die Künstlerin Teenagern Handlungsanweisungen wie «Musik hören, beobachten, den Lieblingssport machen.» Das sieht im Video alles sehr entspannt aus, ist es allerdings nicht: «Die Instruktion ‹sei Du selbst› ist die schwierigste, die es gibt.» Die Jugendlichen lümmeln in weiten Hosen und Kapuzenpullovern, auch dies gehört zu ihrem Habitus: «Sie hatten die Instruktion, sich so zu kleiden, wie sie sich sehen.» Bachzetsis kommt hier von Fragen des Körpers zu solchen nach der passenden Hülle: «Was lösen Kleider aus an Körpern und an Menschen? Wo ist das Charisma verankert?»

Accessoires aus dem Sexgewerbe

In ihrer jüngsten Performance ‹Notebook›, 2023, drückt die Künstlerin ihre Affinität zum Fragmentarischen und Skizzenhaften aus. Das Stück ist komponiert aus Sequenzen mit unterschiedlichem Charakter, deren Bewegungsrepertoire unter anderem aus dem Aerobic-Sport stammt, aus der Pornographie, der Disko-, der Selfie- oder der Clubkultur. Kennzeichnend sind auch die Kostümwechsel: Bachzetsis kleidet sich unter anderem mit hochhackigen, roten Lackstiefeln und Netzstrumpfhosen, dann trägt sie wie ihr Performancepartner Antoine Weil Stringbodies und Jeans, dazwischen teilen sie sich eine Bomberjacke oder treten mit nacktem Oberkörper auf. Mit den Kleidern gehen einerseits eindeutige Konnotationen einher, sind doch spätestens seit Julia Roberts‘ millionenfach rezipierter Darstellung einer Sexarbeiterin, die dank der Liebe eines finanziell potenten Freiers den Ausstieg aus der Prostitution schafft, gewisse Accessoires in der Massenkultur angekommen. Andererseits manifestiert sich in der Kleidung auch die Entstehungszeit der Performances. Nicht nur modeaffine Teenager können treffsicher zuordnen, ob ein Film in den sogenannten Nullerjahren, den 2010ern oder vor weniger als drei Jahren gedreht wurde. Dieses modische Verfallsdatum ist für Bachzetsis‘ künstlerische Arbeiten mit ihrer Nähe zu Ausdrucksformen der Popkultur nicht unerheblich. Eine solche Arbeit altert anders als eine, die ihre Aussagen unabhängig von kurzlebigen Trends trifft. Das Altern ist eine grundsätzliche Herausforderung in der performativen Arbeit der Künstlerin.

Vom Tanz zur Performance zur Permanenz

Bachzetsis hat eine professionelle Tanzausbildung absolviert, der Körper ist eines ihrer Arbeitsinstrumente. Aber er verändert sich und passt dereinst vielleicht nicht mehr zum ursprünglich konzipierten Ausdruck einer Performance. So hat sich die Künstlerin entschieden, das 2001 entstandene Stück ‹Perfect› schrittweise an jüngere Generationen weiterzugeben. Im Zentrum stehen der zur Schau gestellten Körper und auf die Spitze getriebene Bewegungen im Kippmoment zwischen Fitness und Verführung. In der Kunst Halle Sankt ist nun eine knapp dreistündige Videoversion zu sehen. Fünf Personen performen ‹Perfect› nacheinander, eine davon ist Alexandra Bachzetsis selbst. Alle fünf bringen ihren persönlichen Ausdruck ein und trotzdem ist es eine homogene Arbeit. Dass dies gelingt, ist eine grundlegende Herausforderung im Tanz wie in der Performance: «Welche Choreographie soll übermittelt werden in welcher Form? Wie werden Instruktionen übermittelt?» Notationen oder Videoaufnahmen sind nur ungenügende Hilfsmittel: «Bei einer Wiederproduktion nach Videoaufnahmen fehlt die Intuition der Choreografin, die Autorschaft», so Bachzetsis, «Performance hat mit Intuition zu tun, mit Energie, Attitüde, dem Dialog mit dem Publikum und dem Dialog mit dem Körper. Sehr wichtig ist auch das Casting.» Die Künstlerin gibt ihre Arbeiten selbst an eine jüngere Generation von Performerinnen und Performern weiter. Vieles entsteht dabei kollaborativ, denn auch durch Beteiligung bleibt die Arbeit lebendig.
Zugleich beschäftigt sich Bachzetsis mit der Frage der Permanenz: Was bleibt, wenn die Aufführung vorüber ist, die Ausstellung aber andauert? In der Kunst Halle Sankt Gallen wurde die neue Performance im ersten Raum aufgeführt, die Bühnenvorhänge und Requisiten wie prall aufgepumpte LKW-Schläuche sind nun in die Ausstellung integriert. Für Bachzetsis stehen sie zwischen Objekt und Skulptur: «Ich sehe sie nicht als Relikte, ich sehe sie als Arbeiten. Ihr Charakter ist zwischen Installation, Objekt und Skulptur angesiedelt, jenseits der klassischen Definition.» Zudem laufen auf Screens Einspieler aktueller und älterer Stücke: «Ich arbeite fragmentarisch, gegen die klassische Narration. Die Arbeiten haben eine andere Timeline: Sie dürfen aus früheren Arbeiten kommen, aber auch eigenständig bleiben.» Damit verbinden sie sich im Sinne des titelgebenden Notizbuches zu einer Gesamtpräsentation, die fortwährende Denkprozesse anstösst, das Unvollendete, Skizzenhafte zulässt und dennoch retrospektiven Charakter trägt.

Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 28. März 2023.

Kultische Handlung – künstlerische Praxis

Künstlerinnen und Künstler nutzten und nutzen auch rituelle Praktiken für ihre Arbeiten. Ausserdem reflektieren sie kultisches Tun in ihren Werken – sowohl motivisch wie auch prozesshaft. Das ist auch bei Fabio Melone, Elisabeth Nembrini, Marlis Spielmann und Teres Wyler zu beobachten.

Kunst entsteht immer im Prozess. Selbst wenn Künstlerinnen und Künstler den Akt des Machens nicht selbst ausführen, gibt es Denk-, Auswahl- und Entscheidungsprozesse: Beispielsweise schlug Yoko Ono in ihrem «Lighting Piece» schon 1955 vor, ein Streichholz anzuzünden und zu warten, bis es ausgeht. Die Künstlerin nimmt sich zurück aus der Handlung, sie denkt und bietet an, ihren Gedanken auszuführen – eine ebenso minimale wie poetische Geste. Viel direkter zeigen sich künstlerische Prozesse dort, wo die Künstlerinnen und Künstler selbst Hand anlegen: Ein Fingerabdruck im Gips wird bei der Übertragung in einen Bronzeguss sprichwörtlich verewigt. Und gestische Bewegung mit dem Pinsel hinterlässt Farbspuren auf der Leinwand – unmittelbar und dauerhaft.
Die Vielfalt des künstlerischen Handelns ist gross und hat sich über die Zeit ebenso gewandelt wie das kultische Handeln. In früheren Zeiten war letzteres wichtig für den sozialen Zusammenhalt in Gesellschaften. Heute bestimmen Individualisierungstrends das gesellschaftliche Leben, aber kultische Handlungen sind für kleinere Gemeinschaften und für Einzelne noch immer von grossem Wert. Damit hat sich das Kultische auch inhaltlich verändert. Der Begriff bezieht sich nicht mehr nur auf religiöse oder spirituelle Praktiken, sondern auch auf weiter gefasste Formen wiederkehrender, ritualisierter Handlungen. Wichtiges Merkmal ist aber noch immer, dass der Mensch eine Sphäre betritt, die sich deutlich vom Alltagsleben abhebt. Er versucht nicht mehr zwingend mit überirdischen oder jenseitigen Wesen Kontakt aufzunehmen, um sich etwas zu erbitten, sie gewogen zu stimmen oder etwas über die Zukunft zu erfahren. Aber er handelt noch immer in einem Zustand des Ergriffen- oder Entrücktseins und der erhöhten Sensibilität. Dieser Zustand kann seine Handlungen formen und mitbestimmen. Das gilt auch und besonders für das künstlerische Handeln.
Marlis Spielmann bezieht sich formal und motivisch auf Handlungen, denen kultische Aspekte innewohnen. Ihre aktuellen Scherenschnitte erinnern an die Lebensgemeinschaft auf dem Monte Verità. Dort trafen sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Anhängerinnen und Anhänger unterschiedlicher alternativer Bewegungen. Sie verband ihre spirituelle, pazifistische, reformerische und freiheitliche Lebenshaltung. Damit einher ging ein Interesse am Ausdruckstanz, um zum Innersten des eigenen Körpers vordringen zu können. Marlis Spielmann stellt die Frauen am Monte Verità ins Zentrum von Scherenschnitten. Die tanzenden Frauen sind als Individuen gekennzeichnet und sind in symmetrischen Formationen doch Teil einer festen und rhythmisierten Gruppe. Umgeben sind sie von floralen Elementen. Diese enge Verbindung zwischen Vegetabilien und Menschen spiegelt die Suche nach einer neuen Naturverbundenheit am Monte Verità. Beides – Mensch und Pflanzen – verweben sich zu einem dichten Muster. In anderen Scherenschnitten sind Blumen mit Objekten eng verschlungen: Handschellen, Masken, Stachelhalsbänder liefern Hinweise auf sexuelle Praktiken. Spielmann liess einen dieser Scherenschnitte auf einen Teppich drucken und inszeniert damit im Haus zur Glocke eine Wohnraumsituation: Rituale gibt es überall, auch im intimen und privaten Bereich.
Religiosität funktioniert an der Schnittstelle zwischen Privat und Öffentlich. Das einsame Gebet gehört ebenso dazu wie die kultischen Praktiken in der Glaubensgemeinschaft. Fabio Melone thematisiert sowohl das Eine wie das Andere. Der Künstler hat familiäre Wurzeln in Süditalien. Die dortigen Prozessionen an hohen kirchlichen Feiertagen, bei denen Marienstatuen durch die Gassen getragen werden, waren für ihn prägend. Und er kennt die Innenperspektive, die gelebte Spiritualität der Menschen. In seinen Bildern findet Melone dafür einen überindividuellen Ausdruck: Er abstrahiert das Madonnenantlitz bis es kaum mehr ist als ein Oval mit Maphorion oder Heiligenschein. Anders geht Melone bei seinen grossformatigen Werken vor. Hier verbindet sich das Rituelle unmittelbar mit der künstlerischen Handlung: Melone füllt Flächen mit vielen, locker gesetzten Pinselstrichen, überlässt sich dabei ganz seiner Intuition und löst sich aus dem Zwang des bewussten Gestaltens. Oder er knotet Tausende von Fäden an einen Keilrahmen – unzählige Stunden, wieder und wieder der gleiche Vorgang. Der Künstler beschreibt die Arbeit als meditativ, sie enthebt ihn vom Alltag und hat damit Schnittstellen zum Kultischen. Zugleich schöpft er aus seiner ursprünglichen Tätigkeit im Textilbereich. Die Affinität zu textilen Materialien verbindet sich am fadenbesetzten Keilrahmen zu einem geistreichen Kommentar zur Malerei: Wo ist der Malgrund? Wo das Bild?
Tiere – tot oder lebendig – waren für Rituale lange unentbehrlich. Aus ihnen liess sich die Zukunft lesen. Sie lieferten vermeintliche Hinweise auf Übeltaten oder auf segensreiches Handeln. Elisabeth Nembrini lässt sich von Tieren künstlerisch assistieren: «Mich interessiert das Spannungsfeld, das in der Arbeit mit Tieren oder natürlichen Begebenheiten entsteht. Als Künstlerin bin ich dem ausgeliefert, was die Tiere manchen, aber die Tiere sind auch ausgeliefert.» Für ihr Kunst am Bau-Projekt in Salez siedelte sie Bienen im Architekturmodell an. Die Tiere begannen zu bauen, ohne dass geplant werden konnte, wo und wie. Die angefangenen Waben dienten dann als Vorlage für die Kunst am Bau, aber die Bienen mussten das Modell wieder verlassen. Privilegierter ist der Kater der Künstlerin. Er kommt ins Atelier der Künstlerin und arbeitet, wenn Nembrini ebenfalls arbeitet: Dann zerreisst er Papier, zerbeisst Karton, zerfetzt Zeitschriften. Nembrini belichtet die dekonstruierten Gegenstände direkt auf Fotopapier und verewigt damit tierisches Ritual mit künstlerischer Praxis. In ihrer Serie der «Tierischen Assistenzen» zitiert Nembrini Bilder anderer Mensch-Tier-Gemeinschaften: Porträtgemälde adliger Damen mit ihren Haus- oder Symboltieren übersetzt sie in verschiedene Techniken wie Projektionen, hinterleuchtete Perforationen oder Fotogramme. Die Künstlerin thematisiert ein ambivalentes Verhältnis: Ist das Tier Partner oder Diener? Ist es nützlich oder Zeitvertreib? Hat es eine Existenzberechtigung ausserhalb des künstlerisch verewigten Momentes?
Teres Wydler denkt nicht in Momenten, sondern in Zeitläufen. Sie säht, baut, lässt wachsen und gedeihen, verfolgt den Wandel und das Werden. Immer arbeitet sie mit dem Elementaren. Für ihre Serie «De Cultura» bringt sie Weizensamen auf Baumwolle aus. Ein Jahr lang hält sie die Werke in feuchtem Zustand, Wurzeln bilden sich aus, Mikroorganismen siedeln sich an, Pilze breiten sich aus. Die Künstlerin mengt Kupfervitriol, Merfen oder Kurkuma bei für charakteristische Färbungen und fixiert schliesslich das Gewordene. Die Tafeln sind bildgewordene Lebensprozesse. In Videos bleibt die Dynamik solcher Prozesse auf andere Weise erhalten: Wydler hat ein mit Gras begrüntes, kleines Holzbauwerk konstruiert, für zehn Jahre stehen lassen und immer wieder mit der Kamera aufgenommen. Das Gebäude wächst zu, zerfasert, Moose, Gräser, Flechten besiedeln es, Grenzen werden fliessend, lösen sich auf. Die Künstlerin arbeitet nah an der Natur, arbeitet mit der Natur und lässt die Natur selbst arbeiten. Von selbst ablaufende Prozesse sind ein Kern ihrer Arbeit. Und sie wiederholen sich im Jahreslauf. Diese enge Verkettung von menschlichem Tun und natürlichen Lebenszyklen ist einer der Grundbausteine rituellen Handelns: Aus Repetition entsteht Neues. Kultisches Tun setzt auf diese Wiederholungen, beschwört Erneuerung und weist – wie das künstlerische Handeln – über das Alltägliche und Berechenbare hinaus.

Ausstellungstext, Broschüre, Haus zur Glocke, Steckborn

Erdöl ist überall

Monira Al Qadiri ist in Kuwait aufgewachsen. Die Erdölförderung dort war der Ausgangspunkt für ihre künstlerische Arbeit. Ihre Ausstellung im Kunsthaus Bregenz zeigt die globale Brisanz der Erdölindustrie.

Erdöl ist allgegenwärtig. In Kosmetik, Kleidung, Alltagsgegenständen, Treibstoff. Das ist ebenso bekannt wie die verheerenden Auswirkungen dieser Allgegenwart auf die Umwelt. Liesse sich zurückdrängen, was nahezu alle Lebensbereiche beherrscht? Diese Frage stellt Monira Al Qadiri nicht vordergründig. Die Antwort darauf wäre auch schwer zu finden. Aber die in Kuwait aufgewachsene Künstlerin zeigt Erdöl in seiner ebenso faszinierenden wie beunruhigenden Omnipräsenz. Bereits an der letztjährigen Biennale in Venedig fielen ihre Skulpturen auf: Al Qadiri hatte Nachbildungen von Bohrköpfen in schillernd schöne Objekte verwandelt. Für das Kunsthaus Bregenz hat sie diese nun vergrössert und stellt ihnen weitere Arbeiten zur Seite. Deren gemeinsames Thema ist das Erdöl – vom Erdgeschoss bis ins dritte Stockwerk, von der molekularen Ebene bis zur zerstörten Natur.

Pralle Moleküle

Das Foyer dominieren riesige Ballons. Es sind Nachbildungen der Molekularstruktur von petrochemischen Substanzen. Prall und bunt hängen sie im Raum. Ab und an ertönt eine Pumpe, die neue Luft hinzufügt und die Objekte wie Atem durchströmt. Damit funktionieren sie als Sinnbild für die Notwendigkeit erdölbasierter Stoffe im modernen Leben.
Ein Stockwerk weiter oben rotieren die Bohrkerne. Sie dringen hier jedoch nicht in die Tiefe vor, sondern drehen sich langsam und unaufhörlich um sich selbst. Damit kommt ihre aufwendige Lackierung besonders gut zur Geltung. Sie wechselt je nach Blickwinkel die Farbe und lässt die Assoziation mit schillernden Unterwasserwelten zu. Ebendiese gehen jedoch mit der Erdölförderung, den steigenden Meerestemperaturen und an den Müllstrudeln zugrunde. Oder an den Lackierungen der grossen Tanker. Dank dem Lack können sich Meereslebewesen nicht an die Schiffsrümpe heften, er gibt aber Giftstoffe ins Wasser ab, die hormonaktiv wirken und zum Aussterben von Schneckenpopulationen führen. Monira Al Quadiri thematisiert diese Zusammenhänge mit Bullaugen und einem Schneckendialog. Die Bullaugen sind im Treppenhaus montiert und zeigen Tankschiffe mit Muschelnamen. Wenige Schritte weitere unterhalten sich zwei Schneckenhäuser: Sie sprechen darüber, wie sie einst im Meer ihre Geschlechter wechselten. Die Hüllen der stacheligen Tiere sind rot und nahezu raumhoch, alles ist in rotes Licht getaucht. Damit gelingt es der Künstlerin die kühle Atmosphäre im Kunsthaus Bregenz in eine intime Szenerie zu verwandeln und die Aufmerksamkeit auf das beklemmende Gespräch zu lenken.

Leidende Tiere

Den Kontrast dazu zeigt das dritte Obergeschoss. Hier ist der Terrazzoboden des Ausstellungshauses in eine gleissende, weisse Fläche verwandelt. Morgens kurz nach dem Öffnen der Ausstellung sind die Angestellten des Kunsthauses noch damit beschäftigt, die Spuren der Schuhsohlen vom Vortag zu beseitigen, damit die glatte Fläche wieder makellos ist. Dabei gehören auch die aus Erdöl produzierten Schuhsohlen zum Problem, das hier auf drastische Weise dargestellt wird: Monira Al Quadiri hat Dutzende Wasservögel aus schwarzem Glas auf dem weissen Boden verteilt. Sie liegen wie tot in kleinen schwarzen Glaspfützen, wie gestorben im Ölteppich havarierter Tanker oder Ölplattformen. Wie alle anderen ausgestellten Werke ist auch dieses hochästhetisch. Diese Schönheit steht nicht im Widerspruch zum thematisierten Problem, bergen doch Al Qadiris undogmatische Werke die Chance, einen ernsthaften, sachlichen Dialog auch ausserhalb der Kunstszene zu unterstützen.