Lisa Schiess, Bildbogen, Obacht Kultur
by Kristin Schmidt
IL LEONE DELL’ARSENALE, 2011 bis 2022
Fotografien
«Plötzlich, daheim am Arbeitstisch, schaut mich ein Löwe an über der Fotokopie vom Odradek.» Lisa Schiess hatte 2011 eine kopierte Fotografie aus ihrem Buch «Odradek oder die Laufmasche im System» mit zur Biennale Venedig genommen und in einer Mauernische platziert in einer der Backsteinsäulen des Arsenale. Diese Nische ist ein Zufallsprodukt; der Zahn der Zeit hat sie in die Säule genagt. Dabei hat er – ebenfalls zufällig – den Kopf eines Löwen geformt. Lisa Schiess entdeckt ihn und erweist ihm seither die Referenz. Der Löwe steht für vieles, was die in Waldstatt und Zürich lebende Künstlerin in ihrer Arbeit untersucht: LEONE verändert sich kontinuierlich und ist auch für Lisa Schiess der Anlass eines dynamischen Langzeitprojektes. Er ist ein Objet trouvé und zugleich eine Inspirationsquelle. Er ist ortsgebunden und lässt sich als Verweis auf das Wappentier Venedigs lesen, zugleich eignet er sich zur Auseinandersetzung mit Themen wie prozessuale Kunst, partizipative Aktion, Vergänglichkeit und Gegenwartsbezug.
Seit über zehn Jahren fordert Lisa Schiess Künstlerinnen, Freunde und Bekannte dazu auf, LEONE zu besuchen und dort eine Blitzaktion fotografisch festzuhalten. Diese Aktionen – dokumentiert auf lisaschiess.kleio.com – verbinden sich mit ihrer eigenen Arbeit vor Ort. So hat sie ihn mit einer
Inschrift in die offizielle Ausstellung integriert als niederschwelliges, aber wirksames Biennale-Hacking. Andere Beteiligte haben dem Löwen einen Kuchen gebracht, sind mit Gesten oder Gaben in einen Dialog mit ihm getreten. Jedes Jahr erhält der Löwenkopf ein neues Biennale-Umfeld, jedes Jahr wieder begeben sich Menschen auf die Suche nach ihm und Lisa Schiess’ offenes Kunstwerk existiert weiter.
Obacht Kultur, PERFORMANCE, No. 50 | 2024/3