Kreise Ziehen

by Kristin Schmidt

Helene Sperandio und Cristina Witzig zeigen ihre jüngsten Werke in einer Doppelausstellung in der Lokremise St.Gallen.

Helene Sperandio und Cristina Witzig zeigen gemeinsam ihre aktuellen Werke in der Lokremise St.Gallen. Helene Sperandio verbindet ihre konzeptuellen Auseinandersetzung mit Malerei mit ihrem Interesse an der Geologie. Als Ausgangspunkt dienen ihr die intensiven vulkanischen Aktivitäten der Phlegräischen Felder in Pozzuoli, in der Nähe von Neapel. Die in Adliswil (bei Zürich) und Azmoos im St.Galler Rheintal lebende Künstlerin ist zu diesem Vulkanfeld gereist, hat Sedimente gesammelt und die aufsteigenden Schwefeldämpfe beobachtet. Sie hat sich mit der erdgeschichtlichen Bedeutung dieses Supervulkans beschäftigt und ihre künstlerische Arbeit auf der Basis ihrer theoretischen und empirischen Studien weiterentwickelt. In der Lokremise St.Gallen zeigt sie «Campi Flegrei», 2020–2022 – bestehend aus einem zwanzigteiligen Gemälde und einem zwanzigteiligen Aquarell. Gemalt sind beide ausschliesslich mit Erdpigmenten, die in einem ausgeklügelten Rhythmus aus insgesamt sechs Farben in je drei Farben pro Bild und Blatt verwendet werden. Im Gemälde fügen sich die Einzeltafeln mit diesem bewusst reduzierten Farbreservoir zum Porträt eines Steines vulkanischen Ursprungs, den sie von den Phlegräischen Feldern mitgebracht hat. Zu sehen sind seine rötlichen Einschlüsse und seine braunen Adern. Einer Wolke gleich schwebt er vor tiefer Dunkelheit und öffnet einen weiten Interpretationsspielraum, er lässt sich gleichermassen lesen als kleines Objekt, das kosmischen Ursprung in sich trägt, wie als Sinnbild für die unter der Erdoberfläche eingeschlossene Energie. Der dunkel homogene Hintergrund verändert sich von heiss leuchtendem Rot am unteren Rand des Bildes zu einem tiefen, noch immer von Rot durchdrungenem Grün nach oben hin. Der Übergang ist fliessend, unmerklich. Die Grundlage des sonoren Farbklanges des gesamten Gemäldes wird im zwanzigteiligen Aquarell auf Einzelblättern ausformuliert. Es ist ein Baukastensystem, das jedoch durch den Fluss der Wasserfarben nicht statisch bleibt. An manchen Stellen konzentrieren sich die natürlichen Pigmente, bilden körnige Farbinseln, an anderen ist der Farbauftrag fast vollständig durchsichtig, um sich an den Rändern wieder zu einer klaren Kontur zu sammeln. Dem Farbplan des Gemäldes entsprechend verändert sich der Dreiklang jeden Bildes von dominierendem Grün links oben zu rötlich warmen Farben links unten – damit sind diese Blätter ein abstraktes Porträt des vulkanischen Steines.
Auf den drei Kupfertafeln «CAMPIFLEGREI», 2024 ist die italienische Bezeichnung des Vulkanfeldes zu lesen. Jeder Buchstabe liegt dabei passgenau über dem vorherigen. So ergibt sich in jedem Bild der Serie ein dichtes typografisches Bild, dessen Überlagerungen ein Äquivalent bilden zur Geschichte des Ortes. Auch das Material selbst stellt den Bezug her: Die Erze des Kupfers sind magmatischen Ursprungs.
«Terra incognita», 2024 porträtiert die in den Phlegräischen Feldern austretenden Erdgase mit adäquaten Materialien: Auf Basaltgeweben malt Sperandio mit reinem Schwefelpigment und Goldschwefel, einer seit dem 16. Jahrhundert bekannten chemischen Verbindung zwischen Antimon und Schwefel. Die Künstlerin zeigt viermal einen Landschaftsausschnitt mit unterschiedlich aufsteigenden Gaswolken. Die Malerei und ihr Motiv gehen in diesen Bildern eine Symbiose ein: Sowohl mit dem Basaltgewebe als auch mit dem Schwefel als Farbmaterial ist ein enger Bezug zum Vulkanfeld gesetzt. Das Motiv eröffnet zugleich eine zeitliche Dimension. Einen anderen Weg geht Sperandio mit der Mikroskop-Fotografie: Das naturwissenschaftlich relevante Material wird hier nicht in seiner unmittelbaren Form, sondern als Motiv in die Kunst übertragen. «Fabula», 2024 ist das Resultat eines langen und sorgfältigen Auswahlprozesses, des gezielten Einsatzes von Licht und der Entscheidung für den richtigen Ausschnitt. Zu sehen sind die rötlich braune Grundfarbigkeit, kleine hell strahlende Einschlüsse, die Linie der Flüssigkeit auf dem Trägerglas und das flimmernde Licht. Die Farbigkeit und die Zusammensetzung des Bildes aus Konturen, weichen Übergängen, hellen und dunklen Partien steht in enger Verwandtschaft zu Sperandios Gemälden.
Sperandios Interesse an der Erdgeschichte trifft in der Ausstellung auf Cristina Witzigs Auseinandersetzung mit persönlicher und Gesellschaftsgeschichte. Die in Weinfelden lebende Künstlerin arbeitet mit fotografischen Archiven. Sie sammelt historisches Bildmaterial aus unterschiedlichen Quellen und erarbeitet thematisch und formal motivierte Zusammenstellungen: Frauen in Tracht, Männer im Anzug posieren neben Blumenarrangements oder in künstlich angelegten Landschaften, daneben Hochzeitsbilder oder Familienaufnahmen. Cristina Witzig wählt bei den Fotografien einen quadratischen Ausschnitt, damit lenkt sie die Aufmerksamkeit auf Details, auf eine einzelne Blüte, einen Ohrring oder eine auf die Hüfte gestützte Hand – kleine Symbole für Status, für den Wunsch nach Repräsentation, für zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein oder für die Ehrfurcht gegenüber der Kamera. Cristina Witzig transformiert die vorgefundenen Motive in einer weiteren Arbeitsstufe: Sie überträgt sie mit dem Pinsel und blauer oder roter Glasur auf Keramikkacheln. Mit der malerischen Transformation gleicht die Künstlerin das heterogene Ausgangsmaterial an: Manche der Fotografien stammen aus Fotoalben der eigenen Familie, andere sind Flohmarktfunde, es gibt professionelle Aufnahmen mit touristischem Hintergrund oder Bilder unbekannter Herkunft. Die monochrome Farbigkeit schafft eine gemeinsame Grundstimmung, zusätzlich gleicht der Duktus des Pinsels die Details und Konturen an. Die Farbe fliesst und wird anschliessend durch den Brennvorgang in dieser Bewegung verewigt.
Während die roten Kacheln Bezug nehmen zu den Werken Helene Sperandios – sowohl motivisch durch die Art der Pflanzen, wie sie auch in der Umgebung der phlegräischen Felder vorkommen, oder den heissen Qualm der Industrieanlagen, als auch durch die Farbigkeit, die den Rottönen in Sperandios Gemälden verwandt ist – sind die blauen Farbtöne historisch bestimmt: Die Kacheln sind verwandt mit den Azulejos, den quadratischen Fliessen, die auf der iberischen Halbinsel an Gebäudefassaden und Innenwänden zu finden sind. Cristina Witzig hat portugiesische Wurzeln, ihr ist diese Art der Gebäudegestaltung daher sehr gut bekannt. Sie hat die Kacheln in Portugal in einer dafür spezialisierten Werkstatt bemalt und anschliessend brennen lassen. Die Azulejos sind nicht nur Fassadenschutz, sondern zudem ein architektonisches Dekorelement; diesen Aspekt spiegelt Cristina Witzig auch in ihrer Arbeit: In ihrer Motivwahl zeigt sie das Bedürfnis der Menschen nach Dekor. Es drückt sich aus im Schmuck, in den Frisuren und im gesamten Habitus der porträtierten Personen wie auch in den Blumenarrangements.
Ein weiteres Bezugssystem eröffnet die Künstlerin mit der Farbigkeit der Kacheln: Das Blau steht in einer langen Tradition der Farbsymbolik. Im christlich-religiösen Kontext steht es für die Reinheit und das Göttliche, in Literatur und Kunst für Klarheit, Harmonie und Ruhe. Auch mit der Sehnsucht wird es in Verbindung gebracht und mit der Ferne. Diese Deutungsmöglichkeiten treffen auf die Inszenierung von Exotik in den vorgefundenen Fotografien, auf die Symbolik eines Hochzeitskleides oder die Weite eines Landschaftsausschnittes. Und das Blau der Keramikkacheln reiht sich ebenso ein in Cristina Witzigs Schaffen: Auch in ihren Arbeiten mit Wasserfarben auf Papier wählt sie oft blaue Farbtöne. Und in ihrem Stop Motion Film «Der Kuss» kreist ein grosser blauer Punkt um eine liegende Frau. Sie blickt in die gleiche Richtung wie die Menschen vor dem Monitor, zu sehen sind ihr Rücken, ihr Hinterkopf, nicht ihr Gesicht. Damit wird sie – wie die prominenten Rückenfiguren der Kunstgeschichte etwa bei Caspar David Friedrich – zur Projektionsfläche für die Gedanken, Assoziationen, Stimmungen der sie betrachtenden Menschen. Der blaue Punkt trägt diese Assoziationen mit sich. Mit seinem Kreisen lenkt er die Blicke und bildet gleichzeitig die Brücke zum Ausstellungsmotto.

Saaltext für die Doppelausstellung in der Lokremise St.Gallen vom 22. bis 24. November