Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Ana Lupas – Kunst unter dem Auge der Zensur

Ana Lupas gehört seit den 1960er Jahren zu den wichtigsten Künstlerinnen ihrer Generation in Osteuropa. Das Stedelijk Museum Amsterdam und das Kunstmuseum Liechtenstein widmen ihr die erste grosse Einzelausstellung. In Vaduz konzentriert sich die Schau auf wenige Werkgruppen, die dafür grossen Platz erhalten.

Vaduz — Ana Lupas entwickelte ihre künstlerische Arbeit unter herausfordernden Bedingungen. Sie wurde 1940 in Cluj-Napoca in Rumänien geboren und lebt bis heute dort. Der Staat jedoch ist seit der Rumänischen Revolution 1989 ein anderer. Bis dahin verlangte die kommunistische Diktatur, die Kunst in den Dienst ihrer Ideologie zu stellen. Unangepasstheit war verdächtig. Ana Lupas hat sich dennoch Freiräume erarbeitet. Ihr Werk ist verwandt mit der Konzeptkunst, mit neo-dadaistischen Strömungen und der Land Art. Eines ihrer bedeutendsten Werke entstand 1970 auf einer 3´000 Quadratmeter grossen Wiese in der Nähe ihres Wohnortes. Dort installierte die Künstlerin gemeinsam mit Freiwilligen ein geometrisches Raster aus Holzpfählen und spannte Seile dazwischen. Darüber wurden selbst gewebte Stoffbahnen in offenen Schlaufen gehängt. Die ‹Humid Installation› dauerte nur einen Tag und war doch ebenso monumental wie sorgfältig komponiert. Sie würdigte die Landschaft, die traditionelle, dem Verschwinden geweihte und oft den Frauen vorbehaltene Arbeit des Bleichens, Waschens und Trocknens von Tüchern. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die Aktion in historischen Aufnahmen und späteren Versionen von 1990 bis 2019. Mit jeder Variation werden die Materialien starrer: von wassergetränktem Leinen zu teergedrängten Tüchern bis zu Versionen aus Kunstharz, Metall und Ziegelsteinen. Damit verliert das Werk schrittweise seine subversive Qualität und Kraft. Die sich horizontal ausbreitende Grösse und Leichtigkeit weicht einer etwas angestrengten Künstlichkeit.
Weitere grosse Werkgruppen sind die 200 ‹Self Portraits›, 2000, für die Lupas Ausstellungsplakate mit ihrem Konterfei übermalt, die ‹Identity Shirts›, ab 1969, mit denen die Künstlerin Kleidungstücke und somit den Körper selbst in ein Bild verwandelt, oder die ‹Eyes›, 1974–1991: Augäpfel aus Porzellan mit weit aufgerissenen oder tränenden Augen, mit geklammerten oder vernähten Lidern. Platziert im ersten Saal des Obergeschosses blicken sie die Hereintretenden durchdringend an. Die Arbeit ist dem Sehsinn und den menschlichen Regungen gewidmet, lässt sich aber auch als Kommentar auf das in Rumänien omnipräsente Kontrollorgan, die Securitate, lesen. Hier zeigt sich, was für alle Arbeiten Lupas´ gilt: Sie zeugen einerseits von der besonderen Situation, in der Lupas´ ihr Werk entwickelt, und sind andererseits allgemeingültig.

‹Ana Lupas. Intimate Space – Open Gaze›, Kunstmuseum Liechtenstein, bis 16.3.
kunstmuseum.li

Ana Strika – Konstellationen in Karton

Ana Strika erarbeitet für ihre Ausstellungen grosse, begehbaren Installationen. Dafür baut die Zürcher Künstlerin im Vorfeld stets Modelle. In Friedrichshafen ist das Modell selbst zum Werk geworden: Die Künstlerin hat ein Stück aus Karton, Papier und kleinen Fundstücken arrangiert. Ein wichtiger Mitspieler ist ausserdem das Licht.

Friedrichshafen — Ana Strika (*1981) macht aus dem White Cube eine schwarze Kiste. Die Zürcher Künstlerin stellt als Stipendiatin der ZF-Kulturstiftung ihre Arbeit im Zeppelin Museum Friedrichshafen aus. Die Stiftung finanziert einen einjährigen Atelieraufenthalt und den Ausstellungsraum. Dessen Eingang liegt versteckt neben der Museumsgarderobe. Vom Foyer aus weist wenig auf ihn hin, er muss entdeckt werden. Diese Situation und die damit verbundenen Fragen hat Ana Strika als Ausgangspunkt ihrer ortsspezifischen Arbeit gewählt: Was ist ein verschachtelter Raum? Wie empfängt er die Eintretenden? Wie bewegen sie sich dort? Mit welcher Geschwindigkeit? Die fast völlige Dunkelheit des Raumes ist Teil ihres künstlerischen Konzeptes. Sie erfordert andere Bewegungen und aufmerksamere Beobachtungen. Wer sich jedoch nach einiger Zeit an die Schwärze gewöhnt hat, wird mit intensiven Raumerlebnissen belohnt. Ana Strika konstruiert eine Bühnensituation. Auf einer schwarzen Platte mit unregelmässig geschwungenem Grundriss baut sie Wände aus Kartonresten. Sie stehen zueinander in stumpfen und spitzen Winkeln, lassen kleine Gänge frei, bilden Plätze oder Sackgassen, erlauben Blicke durch unförmige Löcher. Im spärlichen, aber sehr gezielt genutzten Licht von oben zeichnen sich vielfältige Schatten ab. Manches ist in vollständiges Dunkel getaucht, anderes steht im sprichwörtlichen Rampenlicht: Zwischen den Kartonagen stehen Leitern aus Zweiglein und ein winziger Tisch, zwei Kügelchen liegen auf einem Kubus, auf einer Konsole ist die Schale einer halben Baumnuss zu sehen – kleine Dinge werden in ‹Die Vorstellung›, 2024 zu wichtigen Akteuren. Aber sie führen kein Stück auf, sondern performen ihre eigene Präsenz. Die Installation zu umrunden, gleicht dem Blättern in einem Bilderbuch: Mit jeder Bewegung öffnet sich ein neues Bild; eine neue Szene, die in ihrer Entrücktheit an die metaphysischen Bildräume de Chiricos erinnert und doch abstrakt bleibt. Damit wird das Ordnende der Sprache herausgefordert, die architektonischen Zellen zu benennen, die Behälter, Gerüste oder Türme. Dem poetischen Charakter der Installation tut dies keinen Abbruch, denn jede Beschreibung bleibt subjektiv und fragmentarisch; hier entfaltet der Titel ‹Die Vorstellung› seinen Doppelsinn: Ana Strika lässt die Dinge ihr eigenes stilles Stück aufführen und die Imaginationskraft tut ihr Übriges. Und wie im Theater ist die zentrale Erfahrung nur vor Ort möglich.

‹Ana Strika. Die Vorstellung›, ZF Kunststiftung im Zeppelin Museum Friedrichshafen, bis 26.1.
www.zf-kunststiftung.com

Georgia Sagri

Vaduz — Dualitäten auflösen, Grenzen niederreissen, Nationalitäten vergessen und die damit verbundenen Erwartungen, stattdessen Vergnügen empfinden bei jedem Schritt, jedem Geruch, jedem Klang – Georgia Sagri arbeitet an einer Vision. Den globalen Krisen, Spannungen und Kriegen setzt sie ein energisches Werk entgegen, das Verletzungen als Quelle für heilende Kraft interpretiert. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die 1979 in Athen geborene Künstlerin in seiner Reihe ‹Im Kontext der Sammlung› und kann dabei zurückgreifen auf die Arbeit ‹Dynamis/Soma in orgasm as sex (2017)›, 2023, die sich in der Museumssammlung befindet und Teil einer Serie für die documenta 14 war. Sie stellte Organe und Körperteile dar und umfasste zudem eine zehnteilige Atempartitur. Die Performances in Kassel und Athen haben ihre Spuren am Werk hinterlassen, die Georgia Sagri auf japanische Art geheilt hat: Mit der Kintsugi-Technik werden die Kratzer und Bruchstellen nicht kaschiert, sondern golden hervorgehoben. Das Versehrte erhält einen neuen ästhetischen und materiellen Wert und steht hier im Mittelpunkt der Ausstellung. Die Arbeit ist wie viele andere Werke der Künstlerin mit einer Performance verbunden und doch mehr als ein Requisit oder Relikt. Das gilt auch für ‹Stage of Recovery›, 2020/2024: Es ist einerseits als eigenständiges Objekt ausgestellt; andererseits verweist die hölzerne Plattform mit rot überzogenen Polstern auf das von Sagri entwickelte IASI – eine Erholungspraxis, um nach körperlich und mental anstrengenden Performances wieder zu Kraft zu kommen.
Wer im ‹Im Kontext der Sammlung› ausstellt, erhält Zugriff auf die Sammlungen des Kunstmuseums. Georgia Sangri hat sich entschieden, sechs Dauerleihgaben aus der Sammlung Veronika und Peter Monauni auszustellen. Die aus den 1950er Jahren stammenden Werke werden einzeln nacheinander für jeweils mehrere Wochen präsentiert. Jedes Werk ist mit einem Crop Mark, einem Platzhalter, markiert und von einem Text begleitet. Damit verbindet die Künstlerin die in der Kunst aufscheinenden historischen Wunden mit inneren und äusseren Konflikten. Sagris Untersuchung von Verletzungen und deren Folgen reicht bis auf die Aussenhaut des Museums: Auf der Gebäudehülle hat sie den ‹Deep Cut›, 2018 angebracht – einen anderthalb Meter langen Vinylsticker mit dem Bild eines blutenden Schnitts. Plastisch zeigt er, wie verletzlich nicht zuletzt ein Kunstort ist und wie Wunden nach Heilung rufen.

‹Georgia Sagri. Case_O Between Wars›, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, bis 9.2.
kunstmuseum.li

Malerin und Moritatensängerin

Als Maria Lassnig 2014 im Alter von 94 Jahren stirbt, ist sie eine Malerin von Weltrang. Ihre Werke sind in vielen wichtigen Sammlungen und Ausstellungen präsent. Aber auch als Medienkünstlerin war Lassnig wegweisen. Das Magazin 4 in Bregenz zeigt jetzt eine Auswahl ihrer Kurzfilme.

Maria Lassnig bringt Gemälde zum Sprechen. Die Malerin zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Doch in ihrem Animationsfilm «Art Education» lässt sie Figuren anderer Künstler zu Wort kommen. So klagt das Modell aus Vermeers berühmten Bild «Die Malkunst»: «Du behandelst mich wie ein Objekt.». Der Maler antwortet ihr unbeeindruckt: «Du bist jetzt ein Objekt.» Doch Maria Lassnig wäre nicht sie selbst, wenn sie es dabei belassen würde. Ein Rollentausch ist rasch vollzogen, der Maler wird selbst zum Modell. Auch Michelangelos berühmter Adam ist mit seiner Rolle unzufrieden und mit seiner Hautfarbe, aber Lassnig lässt Gott entgegnen, schwarz komme eben nicht vor in der Bibel.
Maria Lassnig blickte in ihrem Kurzfilm humorvoll und kritisch auf die Kunstgeschichte und deren Schieflagen. Ihre scharfsinnigen Analysen sind bis heute aktuell, aber viel zu wenig bekannt. Das will die aktuelle Ausstellung im Magazin 4 in Bregenz ändern.

Trickfilme kolorieren als Broterwerb

Zu sehen sind hier sieben der wichtigsten Filme Lassnigs und das frühe Gemälde «Informel». Es wurde 1980 durch die Stadt Bregenz angekauft. Es ist das Jahr, in dem Lassnig nach langen Aufenthalten in Paris und New York nach Wien zurückkehrt und an der Hochschule für angewandte Kunst eine Professur erhielt – als eine der ersten Künstlerinnen im deutschsprachigen Raum. Endlich konnte sie von ihrer Kunst leben. Zuvor hatte sie als Broterwerb für ein Trickfilmstudio Hintergründe koloriert. Ihre eigenen Filme sind aber keineswegs nur Nebenprodukte dieser Zeit. Sie sind eigenständige Werke und eng verwoben mit der Weltanschauung Maria Lassnigs, ihrer Malerei und ihrem Leben. «Couples» beispielsweise erzählt von Beziehungskonflikten, von körperlichen und emotionalen Spannungen, davon, wie Frauen geringgeschätzt werden, aber sich dennoch behaupten.
In ihren Filmen zeigt sich Lassnig als geübte Zeichnerin. Sie konstruiert und dekonstruiert Körper, sie erweckt Linien zum Leben und spielt mit den Sujets. Ein Stuhl wird zum Körper und wieder retour, ein Sessel beginnt zu quellen; Augen, Ohren, Nase, Mund wandern im Gesicht umher. Andere Sequenzen haben dokumentarischen Charakter wie etwa die Aufzeichnungen einer Vernissage: Menschen stehen vor Lassnigs Bildern. Sie reden und rauchen. Schaut jemand auf die Kunst? Oder hängen die Aktbilder – Zeugen einer Selbstvergewisserung und einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem gängigen Frauenbild – nur als Beiwerk angeregter Gespräche an den Wänden?

Kämpferische Künstlerin

Lassnig glaubt an die Kraft der Kunst. Eine Ausstellungseröffnung ist ein temporäres Ereignis, ihre Bilder jedoch bleiben und sind ab den 1980er Jahren in den grossen Ausstellungshäusern Europas genauso zu sehen wie an der Documenta Kassel und der Biennale Venedig.
Lassnig ist ihr Ruhm nicht zugefallen. Sie hat viel und konsequent gearbeitet und die männliche Dominanz in der Kunst ihrer Zeit nicht einfach hingenommen. Im Film «Kantate» arbeitet sie diesen ständigen Kampf um ihr Werk und die Anerkennung auf. Im Stil eines Moritatensängers erzählt sie in 14 Strophen ihr Leben. Sie spart den Ehekrieg der Eltern ebensowenig aus wie die Enttäuschungen in Beziehungen oder das postfaschistische Europa, besingt aber auch die Gemeinschaft starker Künstlerinnen in New York. Als 73jährige blickt sie in wechselnden Kostümen auf ihr Leben zurück, abgeklärt ist sie da aber noch lange nicht, sondern voller Witz und Ironie, die sie noch 22 weitere Jahre durchs Leben tragen werden.

RADAR: Der Performance Art Funds

Ein neues Förderinstrument für Konzeption, Produktion und Diffussion in der Darstellenden Kunst

Warum hat die Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung den PAF als neues Fördergefäss gegründet?
Bianca Veraguth: Die Stiftung hat drei Förderschwerpunkte: Bildung, Soziales und Kultur. In letztgenanntem unterstützen wir grosse und kleine Vorhaben beispielsweise in der Sparte Musik, aber insgesamt fehlte uns die strategische Schärfung wie das in den anderen Bereichen bereits der Fall ist. Bei Gesprächen mit Förderstellen, Stiftungen und Kulturaktiven hat sich schnell die schwierige Situation der hiesigen Freien Szene gezeigt. Wir haben uns daraufhin entschieden, eine Lücke zu füllen: die kontinuierliche und breit gefächerte Unterstützung der Freien Szene und als zweites strategisches Standbein das Kulturerbe der Ostschweiz.

Was heisst es, ein neues Fördergefäss aufzubauen?
Bianca Veraguth: Wir sind sehr offen vorgegangen und haben zunächst den Kriterien für das Gefäss und dessen finanzielle Ausstattung bestimmt. Mit Ann Katrin Cooper haben wir den Insiderblick in die Freie Szene gewinnen können. Zudem war es uns wichtig, eine externe Jury einzuberufen für eine unabhängige professionelle Beurteilung 
Ann Katrin Cooper: Ich wurde beauftragt, ein Konzept zu entwickeln, auf dieser Basis wurden in der Fördervereinbarung die wichtigsten Rahmenbedingungen festgehalten. Wir haben uns auch Flexibilität und Lernprozesse zugestanden und werden die Arbeit regelmässig überprüfen, um zu erfahren, ob die Instrumente wirklich greifen und die erhoffte Wirkung erzielen. 

Was sind die Besonderheiten dieses neuen Fördergefässes?
Bianca Veraguth: Wir haben uns entschieden, ein in sich geschlossenes, neutrales Gefäss aufzubauen. Wir wollten einen Mehrwert erzielen, indem wir die Konzeption, die Produktion, Weiterbildungen, Verstetigung und die Diffusion unterstützen.
Ann Katrin Cooper: Wichtig ist uns eine nachhaltige und substantielle Unterstützung: Wir fördern die Künstlerinnen und Künstler aufeinanderfolgend mit unterschiedlichen Förderwerkzeugen und in allen Phasen des künstlerischen Prozesses, einschliesslich der Weiterbildung. Sie wird in der Förderung oft nicht berücksichtigt. Alle Unternehmen ermöglichen Weiterbildungen, und in der Freien Szene ist es ebenfalls wichtig, sich aktuellen gesellschaftlichen und technischen Veränderungen stellen zu können. Zudem bieten wir, wo es sinnvoll ist, Beratungen an, damit das ganze Potential der unterstützen Projekte zum Tragen kommt.

Wie fördert der PAF die Diffusion?
Ann Katrin Cooper: In vielen Kantonen des Fördergebiets sind Gastspielhäuser rar. Hier nützen die nationalen Programme nichts, bei denen sich die Institutionen für Koproduktionen und Gastspiele austauschen. Wir müssen also viel früher beginnen. Vielleicht braucht es künftig eine Person, die sich insbesondere um das Diffusionsmanagement kümmert und die Förderung eines Netzwerks. In der Jury haben wir erfahrene Profis, die sich hier einbringen können.

Wie wird die Performance-Kunst definiert? Wird abgegrenzt zwischen Performancekunst und performativer Kunst?
Ann Katrin Cooper: Darüber haben wir lange diskutiert. Uns geht es weniger darum, wo das Geschehen stattfindet, ob im Ausstellungs- oder im Theaterraum, sondern dass es stattfindet. Die Performanceszene in der Ostschweiz ist sehr klein im Vergleich zur Westschweiz, deshalb zieht der PAF nicht von vornherein scharfe Grenzen. Wir wollen ermöglichen! 
Bianca Veraguth: Qualitative Kriterien und inhaltliche Freiheit sind uns wichtiger als Sparten.

Bianca Veraguth, MAS Cultural Management und MAS Communication Management & Leadership, arbeitet als Geschäftsführerin der Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung und war für zahlreiche Kulturinstitutionen wie -förderer tätig.

Ann Katrin Cooper, MA Angewandte Kulturwissenschaften, ist Kulturvermittlerin, künstlerische Leiterin des Panorama Dance Theaters, Gründerin des POOL – Raum für Kultur, Geschäftsführerin des PAF und Beraterin von Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, Rubrik RADAR, No. 50 | 2024/3

Lisa Schiess, Bildbogen, Obacht Kultur

IL LEONE DELL’ARSENALE, 2011 bis 2022
Fotografien

«Plötzlich, daheim am Arbeitstisch, schaut mich ein Löwe an über der Fotokopie vom Odradek.» Lisa Schiess hatte 2011 eine kopierte Fotografie aus ihrem Buch «Odradek oder die Laufmasche im System» mit zur Biennale Venedig genommen und in einer Mauernische platziert in einer der Backsteinsäulen des Arsenale. Diese Nische ist ein Zufallsprodukt; der Zahn der Zeit hat sie in die Säule genagt. Dabei hat er – ebenfalls zufällig – den Kopf eines Löwen geformt. Lisa Schiess entdeckt ihn und erweist ihm seither die Referenz. Der Löwe steht für vieles, was die in Waldstatt und Zürich lebende Künstlerin in ihrer Arbeit untersucht: LEONE verändert sich kontinuierlich und ist auch für Lisa Schiess der Anlass eines dynamischen Langzeitprojektes. Er ist ein Objet trouvé und zugleich eine Inspirationsquelle. Er ist ortsgebunden und lässt sich als Verweis auf das Wappentier Venedigs lesen, zugleich eignet er sich zur Auseinandersetzung mit Themen wie prozessuale Kunst, partizipative Aktion, Vergänglichkeit und Gegenwartsbezug.
Seit über zehn Jahren fordert Lisa Schiess Künstlerinnen, Freunde und Bekannte dazu auf, LEONE zu besuchen und dort eine Blitzaktion fotografisch festzuhalten. Diese Aktionen – dokumentiert auf lisaschiess.kleio.com – verbinden sich mit ihrer eigenen Arbeit vor Ort. So hat sie ihn mit einer
Inschrift in die offizielle Ausstellung integriert als niederschwelliges, aber wirksames Biennale-Hacking. Andere Beteiligte haben dem Löwen einen Kuchen gebracht, sind mit Gesten oder Gaben in einen Dialog mit ihm getreten. Jedes Jahr erhält der Löwenkopf ein neues Biennale-Umfeld, jedes Jahr wieder begeben sich Menschen auf die Suche nach ihm und Lisa Schiess’ offenes Kunstwerk existiert weiter.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, No. 50 | 2024/3

Beatrice Dörig, Bildbogen, Obacht Kultur

«Multiversum lll», 2023, mit Ram Samocha, Brick Lane, London
«Liegende Acht Vl», 2023, Brighton UK
«Moon is the Oldest Performer», 2024, mit André Meier, Trompete/Elektronik, Kunsthalle Wil

Die Zeichnung ist eine fragile Kunstform. Vielfach werden Zeichnungen für Studien, Skizzen oder Entwürfe genutzt. Für Beatrice Dörig steht die Zeichnung im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Und die in Herisau aufgewachsene Künstlerin treibt den fragilen Charakter des Mediums auf die Spitze. Im Gegenzug steigert sie das Format ins Monumentale: Während ihres Atelieraufenthaltes in England zeichnete Beatrice Dörig am Meer in Brighton und auf eine öffentliche Wand in London. Dort, in der Brick Lane, arbeitete sie gemeinsam mit dem britischen Künstler Ram Samocha. Beide liessen ihre Zeichen, Linien, Striche ineinander fliessen, fügten Schicht um Schicht hinzu, bis ein dichtes Linienbild gewachsen war. Erstaunlich lange blieb es auf der Wand erhalten, bis die Fläche wieder von Streetart vereinnahmt wurde. Von noch viel kürzerer Dauer waren Beatrice Dörigs Zeichnungen am Strand: «Das Meer spült die Zeichnung in jedem Moment wieder weg. In jedem Moment habe ich die Form aufs Neue gesucht. Wieder und wieder. Zeichnen ist suchen.» Das Temporäre ist ein wichtiger Aspekt in ihrer Arbeit. Ein anderer ist der körperliche Einsatz, wenn sie wand- oder sogar raumfüllende Linien zeichnet. Besonders intensiv war die Auseinandersetzung mit der Natur: Nicht nur hat das Wasser die Zeichnung kontinuierlich verschwinden lassen, zusätzlich bestand der Strand aus kleinen Kieseln, was die körperliche Anstrengung vervielfachte. Beatrice Dörig nahm in Brighton die bereits früher thematisierte liegende Acht wieder auf. Das Zeichen für Unendlichkeit ist der bewusst gewählte Widerspruch zur Endlichkeit der Zeichnung.

Obacht Kultur, PERFORMANCE, No. 50 | 2024/3

Notes on Kim Lim – zwei künstlerische Positionen im Zusammenklang

Vergessene Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts gehören seit einigen Jahren zu den Neu- und Wiederentdeckungen in Museen, an Biennalen oder der Documenta. Eine dieser Wiederentdeckten ist Kim Lim. Die Künstlerin Daiga Grantina zeigt im Kunstmuseum Appenzell ihren Blick auf die Britin.

Kim Lim wurde 1936 in Singapur geboren, ging 1954 zum Kunststudium nach London – und blieb. Bis zu ihrem Tod 1997 arbeitete sie als Bildhauerin, fotografierte und zeichnete. Ihr Werk ist in zahlreichen Sammlungen vertreten und wurde doch zu ihren Lebzeiten selten ausgestellt, vor allen nicht ausserhalb Grossbritanniens. Daiga Grantina arbeitet ebenfalls im dreidimensionalen Bereich. Der Begriff Bildhauerin klingt aber angesichts ihrer fragilen Werke aus Textilien, Bindfäden, Kunststoff und Naturmaterialien veraltet. Sie ist 1985 in Saldus in Lettland geboren und lebt in Paris. Sie studierte Kunst in Hamburg und Wien und hat in ihrem Lebenslauf bereits viele internationale Ausstellungen vorzuweisen.

Ein gutes Ausstellungsrezept

Wie lässt sich das Werk zweier Künstlerinnen aus so unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen gemeinsam ausstellen? Kann dabei mehr herauskommen als ein zeitgleiches Nebeneinander? Es kann, wenn die Zutaten stimmen: die Qualität der künstlerische Positionen und die klare Architektursprache des Kunstmuseum Appenzell. Aber die Ingredienzen sind nicht alles. Sie müssen auch im richtigen Verhältnis stehen. Dafür hat Stefanie Gschwend, seit zwei Jahren Direktorin des Kunstmuseums, die Künstlerin Daiga Grantina gebeten, ihren Blick auf Kim Lims Werk zu zeigen. Zunächst hat Grantina den Nachlass Lims studiert und schnell entdeckt, dass die Werke aus Holz und Stein mehr sind als steife, strenge Formen. Kim Lim bezieht sich zwar auf die klassische Moderne, hat aber auch fernöstliche Referenzen eingefügt. Wasser, Wind, Wellen und das einfallende Licht sind wichtige Komponenten ihrer Arbeit. Diese Elemente interessieren auch Grantina. Sie lässt sich von der Wasseroberfläche inspirieren oder integriert Vogelfedern in ihr Werk. Im Kunstmuseum Appenzell treffen beispielsweise Grantinas «Blue Sun» und Lims «Intervalle» aufeinander. Grantina rückt die Sonne als Quelle des Lichts ins Zentrum: Eine halbkreisförmige, blaue Scheibe ist teilweise verborgen hinter einem zarten Schleier aus transparentem Wachs. Sie wird zum Gestirn des Ausstellungssaales. Kim Lim hingegen wählte die strenge geometrische Form: Lange Rechtecke sind von horizontalen Einschnitten unterbrochen. Mit dem Wechsel von Material und Leerstelle konstruierte die Künstlerin einen Rhythmus aus Licht und Schatten.

Licht und Poesie

Für die Präsentation im Kunstmuseum Appenzell hat Grantina in jedem der zwölf Ausstellungsräume zunächst ein Werk positioniert; entweder ein eigenes oder eines von Kim Lim. Davon ausgehend hat sie nach Verwandtschaften gesucht, andere Werke hinzugefügt und positioniert. Dabei hat sie auch auf die Fenster des Museums geachtet und auf die besondere Lichtsituation der Räume. Eigens für die Ausstellung hat die Künstlerin Sockel entworfen, die sie «Wandvorsprünge» nennt oder «Raumecho». Sie sind nicht freistehend, sondern an die Ausstellungswand angebaut. Ihre Stellflächen liegen auf über Augenhöhe und fangen das von oben einfallende Licht ein. Auf diesen hohen, lichten Flächen verlieren die Skulpturen und Objekte ihre Schwere und beginnen zu schweben.
Die poetische Grundstimmung der Ausstellung wird sich auch im geplanten Buch fortsetzen. Dafür tragen die Lyrikerin Ilma Rakusa Gedichte bei und die St.Galler Künstlerin Katalin Déer richtet ihren Blick auf die beiden Positionen. Zur Buchvernissage am 4. Mai 2025 wird ausserdem die polnische Klangkünstlerin und Komponistin Anna Zaradny eine klangliche Notiz gestalten.

Zwei Sammler, Künstler, Konstrukteure

Der Kunstraum Kreuzlingen zeigt mit «Kosmos» und «Self Storage» zwei Ausstellungen, die für sich stehen, sich aber verzahnen und ergänzen. Die beiden Künstler – Martin Spühler und Martin Anderegg – verbindet das Interesse am Potential des Aussortierten, Alten, für unbrauchbar Erklärten.

Im Pariser Musée d’Art Moderne zeigt der Maler Albert Oehlen seinen Blick auf den 2012 verstorbenen Bildhauer Hans Josephson. Im Kunstmuseum Appenzell präsentiert die Künstlerin Daiga Grantina ihre Sicht auf die 1997 verstorbene Bildhauerin Kim Lim in Wechselwirkung mit ihren eigenen Werken. Im Kunstraum Kreuzlingen hat Martin Anderegg den Metallplastiker Martin Spühler (1943–2023) in Szene gesetzt. Verstorbene Künstlerinnen und Künstler durch eine aktuelle künstlerische Brille zu betrachten, hat sich zu einem Trend entwickelt. Verwunderlich ist das nicht, denn der künstlerische Zugang ist ein anderer und freierer als jener von Ausstellungsmachern oder Kunstwissenschafterinnen. Wenn das Verständnis für den kreativen Prozess durch die eigene künstlerische Arbeit geprägt ist, erlaubt dies eine intensive, persönliche Auseinandersetzung mit dem Werk der Anderen. So hat Martin Anderegg für das Werk Martin Spühlers einen besonderen Filter installiert: Wer den Kunstraum Kreuzlingen betritt, steht einem roten, halbtransparenten Kunststoffvorhang gegenüber. Dieser schirmt den Ausstellungsraum ab und erfordert einen Umweg, bis sich schliesslich ein schmaler Durchgang auftut. Erst dann sind Spühlers Klangkonstruktionen in voller Pracht zu sehen: Die Drehteller mit Haken und Holzklöppeln. Die verfremdeten Flöten in einem Metallbehälter. Die umgebauten Pianos, deren Hämmerchen nicht auf Saiten schlagen, sondern gegen Löffel, Stahlfedern und etwas, das ein Kerzenständer gewesen sein könnte. Die «Streichelkanone», die «Tropfsäule», die «Stichorgel» und ihre Verwandten. Werden sie angeschlagen, gedreht, geschwungen oder mit dem Bogen gestrichen, tönen diese Klangplastiken in vielfältigen Klängen von glockenhell bis donnernd tief. Hier zu musizieren ist freilich nur Profis erlaubt, aber auch visuell geben die ungewöhnlichen Instrumente einiges her. Das geschwärzte Metall, die Beulen, Dellen und ausgefransten Kanten strahlen eine Endzeitästhetik aus.

Abfall wird Instrument

Martin Spühler, der seine künstlerische Arbeit als Puppenspieler begann, baute seine Musikobjekte aus Abfallmaterial. Er fand die Teile als Schrott in Mulden, suchte Gebrauchtes, Altes und Ausgedientes zusammen. Er hämmerte, lötete, schweisste. Darauf nimmt Martin Anderegg Bezug. Denn der rote Vorhang ist aus Werkstattfolien zusammengestückelt, wie sie beim Abschirmen von Schweissarbeiten zum Einsatz kommen. Sie sollen Funkenflug stoppen und das grelle Licht abschirmen. Martin Anderegg bestückt den roten Vorhang mit kleinen Magnetkettchen und verleiht ihm so einen Hauch Glamour. Diese Verfremdungseffekte sind kennzeichnend für seine Werke, die bis auf den roten Vorhang im Untergeschoss zu sehen sind. Diese Platzierung hat der Künstler treffend ausgewählt. Hier, in künstlichem Licht, unter niedriger Decke und zwischen rauen Betonmauern und -pfeilern entfalten Andereggs Werke ihren zuweilen unheimlichen, oft düsteren Charakter.

Gespenstisches im Halbdunkel

Auch Martin Anderegg hat eine Vorliebe für Aussortiertes, Übriggebliebenes, aus der Zeit Gefallenes. Er montiert alte Uhrengehäuse zu Zellen zusammen, die an fantastische Architekturen oder Labyrinthe erinnern. Masken montiert er auf Schuhe oder Handschuhe, gespenstisch blicken sie ins Halbdunkel. Einen rosafarbener Plüschelefant klammert er in achtfacher Ausfertigung ans Unendlichkeitszeichen.
Martin Anderegg kann alles verwenden. Von der Lampe bis zum Fahrzeugkatalysator, von Schlacke bis zu getrockneten Pflanzen. Zusätzlich vervielfältigt er Dinge im 3D-Druck, so setzt er beispielsweise mit Ratten- und kleinen Adlerfiguren zusätzliche Akzente. Andereggs Materialsammlung ist gross und ständig kommt Neues hinzu. Bei Martin Spühler ist das Werk zwar abgeschlossen, dennoch lebt es weiter. Dafür sorgt während der Ausstellungsdauer die Konzertreihe «Les Concerts de Noëlle» von und mit der Musikerin Noëlle-Anne Darbellay. Zeitgenössische Musik wird dann zusammen mit neuen, eigens für die Klangobjekte Martin Spühler konzipierten musikalischen Kreationen aufgeführt.

Samstag, 7. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº1, 18:00 – 20:00
Mit Réka Csiszér, Noëlle-Anne Darbellay, Olivier Darbellay und Stefan Wirth.

Samstag, 14. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº2, 18:00 – 20:00
Mit Max Murray, Matthias Klenota und Noëlle-Anne Darbellay.

Samstag, 21. Dezember, Les Concerts de Noëlle Nº3, 18:00 – 20:00
Mit Ariane Koch, Noëlle-Anne Darbellay, Justin Auer, Matthias Müller, René Camacaro und Juan Braceras.

Notiert: Heimspiel

Im Osten ist wieder «Heimspiel»-Zeit: Das jurierte Ausstellungsformat findet alle drei Jahre in Ostschweizer, Vorarlberger und Liechtensteiner Institutionen statt. In diesem Jahr wurden knapp 500 Bewerbungen eingereicht. Wie bereits 2021 wurden die Dossiers nicht von einem externen Gremium juriert, sondern von den Kuratorinnen und Kuratoren der beteiligten Häuser, die daraus jeweils eigenständige thematische Ausstellungen entwickelten. Unter dem Titel «Der Stoff, aus dem die Gegenwart besteht» sind im Werk2, der ehemaligen Webmaschinenhalle in Arbon, künstlerische Positionen versammelt, die sich im weitesten Sinne mit Textilien auseinandersetzen oder Stoffe thematisieren, die unsere Gegenwart prägen. Der Kunstraum Dornbirn zeigt mit «Ort und Raum» vier bildhauerische Positionen unterschiedlicher Generationen. Im Kunsthaus Glarus berührt «Gestalt» thematisch Bereiche an der Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Kunst Halle Sankt Gallen feiert mit «Uncanny Unchained: The Power of Weird» das Seltsame, das Unheimliche und das Extravagante gleich einem Kuriositätenkabinett. Im Kunstmuseum St.Gallen thematisiert in «La Reservoir» die Kunst als Quelle für Zukunftsideen und als Speicher für Veränderungen und Weiterentwicklung. AUTO – der Projektraum der Visarte Ost – fungiert in bewährter Weise als interaktive Dokustation mit allen eingereichten Dossiers.
 
diverse Orte, 14.12.2024–2.3.2025
heimspiel.tv