Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Geschöpft, gedruckt, gebunden

Gut Gestaltetes aus Papier, auf Papier und zwischen zwei Buchdeckeln ist im November wieder in Frauenfeld versammelt: Die 16. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse ist wieder in der Shedhalle im Eisenwerk zu Gast.

Abgesänge auf das gedruckte Wort gab es in den letzten Jahren einige. Doch es hält sich, in mehrfacher Hinsicht: Was zwischen zwei Buchdeckeln gebunden ist, überdauert die Zeiten anders und wahrscheinlich besser als alle Digitalisate. Nicht nur Bibliotheken sammeln nach wie vor Bücher. Auch am Bahnhof, im Zug, im Café sind wieder mehr junge Menschen mit gedruckten Büchern zu sehen. Suchen sie das Bleibende? Das Haptische? Das Schöne? Der Trend jedenfalls wird dem Einflussbereich der neuen Medien zugeschrieben. Was dort angepriesen wird, bekommt Likes und Follower. So erreicht nun sogar ein Urgestein von Antiquar wie Klaus Willbrand die jungen Menschen. Massenhaft. Aber auch dauerhaft? Vielleicht. Vielleicht existiert der Buchdruck aber auch nur in der Nische weiter. Die zu besuchen lohnt sich allerdings – für Profis und für Laien und im November wieder in Frauenfeld.
Für Profis und Laien
In Frauenfeld treffen sich im zweijährigen Rhythmus Druckkünstlerinnen, Gestalter, Grafikerinnen, Buchhersteller, Verlage aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein und Frankreich an der HPM. Als Handpressenmesse wurde sie vor über 30 Jahren vom Schriftsteller, Verleger und Druckkünstler Beat Brechbühl als Ausstellungs- und Verkaufsmesse gegründet. Das Kürzel HPM hat sie behalten, mit ihm hat sie sich etabliert und ihr Publikum gewonnen.
Als Frauenfelder Buch- und Druckkunst-Messe gibt es sie weiterhin und in gewohnt hoher Qualität und stimmiger Atmosphäre: In der Shedhalle im Eisenwerk trifft die Aura des einstigen Industrieorts auf die kreative Produktion von heute. Früher wurde hier schwere körperliche Arbeit verrichtet, jetzt rascheln die Seiten und die Blätter. Aber schwere Maschinen gibt es immer noch. Eigens für die HPM werden Druckmaschinen und Pressen nach Frauenfeld gebracht. Damit kann vor Ort gedruckt werden. Wie in jedem Jahr gibt es Mit- und Selbermachangebote für Gross und Klein. Die Ausstellerinnen und Aussteller vermitteln die Freude an ihrem Handwerk gern weiter. Sie haben eine Letternschatzsuche organisiert, bieten Origami und Siebdruck an, Kalligraphie, Goldprägung oder Zeilenguss.
Das Beste aus der digitalen und der analogen Welt
Wie in jedem Jahr gibt es auch heuer einen Ehrengast an der Messe. In diesem Jahr ist das Dafi Kühne. Der 1982 in Glarus geborene Plakatgestalter und Buchdrucker wurde bereits vielfach national und international ausgezeichnet. Seine vielbeachteten Plakate sind stark von der Typographie geprägt: Statt mit Bildern arbeitet Kühne mit Schriften. Die Information übermitteln dabei nicht allein die Worte, sondern die Art der Buchstaben, ihre Ordnung, ihre Gestalt, Ausbreitung oder Überlagerung. Das Analoge und das Digitale schliessen sich bei Kühne nicht aus, im Gegenteil, wie er in einem Interview mit Claudia Demel anlässlich der HPM schildert: «Analoge und digitale Werkzeuge sind für mich grundsätzlich gleichwertig. Egal in welcher Form, ich verstehe die Arbeitsmittel als Verlängerung meiner Hände und Übersetzungswerkzeuge meiner Ideen. Ob digital oder analog, jedes Werkzeug verlangt spezifische Fertigkeiten und Erfahrungswerte.» Je nach Aufgabe entscheidet sich Dafi Kühne für analoge oder digitale Mittel oder kombiniert beides. In seinem Atelier in Näfels produziert er die Plakate oft in mehr als 10 Druckdurchgängen, und das bei Auflagen zwischen 200 und 800 Stück. Rund 40 Tonnen Werkzeuge und Material hat er dafür angesammelt, darunter sechs Druckmaschinen, einen Pantografen, um Holzschriften anzufertigen, einen Lasercutter, um Druckplatten zu gravieren, mehr als zwei Dutzend vollständige verschiedene Handsatzschriften und viele, viele Kleinwerkzeuge. An der Messe in Frauenfeld wird Dafi Kühne seine Arbeiten und die ihnen zugrundliegenden Prozesse auf einem grossen Tisch im Foyer präsentieren. Er zeigt, wie sich handwerkliche Tradition und digitale Medien aufs Beste verbinden lassen.

  1. – 17. November, www.buch-und-druckkunst-messe.ch

Tropfen, Klopfen, Wispern

Tarek Atoui ist Komponist und Künstler. Er konstruiert Klanglandschaften für Auge und Ohr. Im Kunsthaus Bregenz sind seine von Wind und Wasser inspirierten Werke zu sehen und zu hören.

Klänge sind Bewegungen. Die Luft fliesst, zirkuliert, wird durch enge Röhren oder zwischen schwingende Scheiben gepresst. Töne entstehen. Sie sind zu hören, aber auch zu sehen und zu spüren. Tarek Atoui ist beides wichtig. Der Pariser Künstler mit libanesischen Wurzeln inszeniert Musik nicht nur als Hörerlebnis, sondern als Klanglandschaft. In seiner Ausstellung im Kunsthaus Bregenz sind Töne zu sehen, Instrumente zu fühlen und das Zusammenspiel aller Sinne zu erfahren. Atoui verwandelt die drei Obergeschosse des Kunsthauses in Resonanzräume zu verschiedenen Themen. Der erste Stock ist dem Wind gewidmet, er ist mit «Andauernder Atem» überschrieben. Gebläse erzeugen einen Luftstrom, er wird über Schläuche zu einem zentralen Holzkasten geführt: Darin verbirgt sich eine Luftblase, sie hebt und senkt sich unter kleinen Steinquadern. Von hier aus verteilt sich die Luft zu unterschiedlichen Instrumenten. Der Künstler hat sie alle selbst gebaut. Sie bestehen aus Metallröhren und -ventilen, Holzkästen und Latexmembranen, Hantelgewichten oder Trommelfellen. Alle Elemente sind zu sehen, alles kann nachgebaut werden.

Arbeiten im Kollektiv

Die Einfachheit der Mittel und des Aufbaus sind ein künstlerisches Prinzip von Atoui genauso wie die demokratische Entstehungsweise: Seine Arbeit entwickelt er gemeinsam mit anderen Künstlern, mit Instrumentenbauerinnen, Studenten und Designerinnen, mit Tontechnikerinnen und Pädagogen, mit gehörlosen und hörenden Freiwilligen. Viele Menschen wirken mit und viele Menschen sollen angesprochen werden. Die «Wind Houses» beispielsweise richten sich an Hörende und Gehörlose gleichermassen. Diese Boxen aus Glas und Holz sind begehbare Orgelpfeifen. Ihr Frequenzbereich liegt am unteren Ende des Hörbereichs, die Klangvibrationen sind mit dem Körper zu spüren, dringen durch die bereit gestellten Filzpantoffeln durch die Fusssohlen. Die Boxen können dank beweglicher Holzbretter instrumentengleich gespielt werden. Leider nicht durch die Besucherinnen und Besucher. Aufführungen gibt es nur im Rahmen von Führungen und Performances. Reiche Klangerlebnisse bietet die Ausstellung trotzdem, auch im zweiten Obergeschoss. Es ist dem Wasser gewidmet.

Klänge aus grossen Hafenstädten

Tarek Atoui hat Geräusche und Gegenstände in verschiedenen Hafenstädten der Welt gesammelt. So laden Steine aus Athen und Stahlträger aus Abu Dhabi zum Sitzen ein, Holztürme sind von Porto inspiriert und hängende Plattformen von Sydney. Orte und Klänge mischen sich im Raum. Die Töne sind nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, wenn etwa Tropfen auf eine Wasseroberfläche treffen und dort kleine Ringe und Blasen entstehen lassen. Hydrophone nehmen die Klänge in den wassergefüllten Metall- und Keramikbecken auf und tragen sie in den Raum. Aufmerksames Zuhören wird belohnt, mit jedem Schritt verändert sich das Klanggefüge.
Das dritte Obergeschoss der Ausstellung ist dem Regen gewidmet, er kam allerdings erst mit Hindernissen in der Ausstellung an: Die Elemente der Installation waren unterwegs im Zoll stecken geblieben, so tönten zur Ausstellungseröffnung stellvertretend die «Horns of Putin»: Schwarze Kunststoffröhren füllten den Raum mit langanhaltenden Tönen. Welch ein Kontrast zu den koreanisch inspirierten Klängen von «The Rain». Rhythmisch, flüchtig, leicht fügen sie sich mit dem Wind und dem Wasser der anderen beiden Stockwerke zu einem grossen Klangbild im Kunsthaus Bregenz.

bis 12.1.
www.kunsthaus-bregenz.at

Jay Chung und Q Takeki Maeda/John Miller

Glarus – Pyramiden sind mathematische Körper oder bauliche Zeugen alter Kulturen. Sie sind entweder variabel aus Linien konstruiert oder stehen, fest aus Steinen gefügt, im Zentrum von Vermutungen, Untersuchungen und Spekulationen. Was gilt? Es kommt drauf an. Jay Chung und Q Takeki Maeda interessieren sich für solche Konstruktionen, Interpretationen und Aneignungen. Ihrer Ausstellung im Kunsthaus Glarus legen sie ein Werk zugrunde, das selbst als Spielfeld taugt zwischen Faktischem und Mehrdeutigkeit: ‹GNOMONS 髀› bezieht sich auf einen der ältesten chinesischen, mathematischen Texte, bekannt als ‹Die Neun Kapitel der Rechenkunst›. Die Wurzeln dieses Handbuchs reichen bis ins erste vorchristliche Jahrtausend zurück. Die darin enthaltenen 246 Texte aus den Anwendungsgebieten Bautechnik, Landwirtschaft und Handel sind nicht nur Rechenaufgaben, sondern lassen Rückschlüsse zu über das Zusammenleben im antiken China. Jay Chung und Q Takeki Maeda übersetzen ausgewählte dieser mathematischen Problemstellungen in ein komplexes System aus Zeichnungen, Objekten und Fotografien. So stehen gebündelte Aluminiumstangen für die Geschwindigkeit, die Einzelteile eines Pfeiles herzustellen. Kleine, paarig angeordnete Polyeder aus Quarzsand veranschaulichen den Wechselkurs zwischen zwei Gütern. Fotografien brachliegender Felder verweisen darauf, wie eine Fläche berechnet werden kann aus dem zu Fuss abgeschrittenen Umfang. Alle sorgfältig platzierten Elemente sind gleichwertig und passen in ihrer unaufdringlichen Präzision zur klaren, filigranen Architektur des Kunsthaus Glarus. Das ihnen zugrundeliegende Geflecht an Assoziationen erschliesst sich zwar schwerlich auf den ersten Blick, hat aber dafür das Potential umso länger nachzuwirken. Dagegen bietet die parallele Ausstellung von John Miller einen schnelleren Zugang. In seinen Bildern überblendet der Künstler urbane Motive mit ungegenständlichem Gestus und entwirft einen amerikanischen Typus heroischer Landschaftsmalerei. Im Video ‹Maybe Next Time›, 2024 fasst er heutige Dilemmata zusammen: Verlorene Mobiltelefone, kranke Haustiere, drückende Deadlines, Unwohlsein – Satz für Satz formiert sich vor grauer Stadtkulisse. Die Entschuldigungen, Ausflüchte und Malaisen spiegeln ein bekanntes, aktuelles Lebensgefühl. Damit gibt es eine Klammer zwischen den voneinander unabhängigen Ausstellungen: In beiden scheinen Realitäten des Zusammenlebens auf – mal die des antiken China, mal die Hier und Heute. KS

Jay Chung und Q Takeki Maeda, ‹GNOMONS 髀›, bis 24.11.
John Miller, ‹The Ruin of Exchange›, bis 24.11.

kunsthausglarus.ch

Auf neuen Pfaden durch Appenzellische Traditionen

Vanessá Heer lebt seit Februar als Stipendiatin der Dr. René und Renia Schlesinger Stiftung im Atelierhaus Birli im ausserrhodischen Wald. In ihrer aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle Wil unterwandert sie einen alten Brauch des Appenzellerlandes mit neuen Gesten, Gesängen und Beteiligungen.

Wil — Zöpfe sind hübsch. Zöpfe sind praktisch. Zöpfe sind ein Politikum. Immer wieder in der Weltgeschichte wurden sie verordnet oder verboten. Heute tauchen sie in Parlamentsdebatten vor allen als alte Zöpfe auf, die abgeschnitten werden sollen: Mit der Redewendung wird die Abkehr von überholten Einrichtungen oder Bräuchen gefordert. Vanessà Heer (*1989) will alte Bräuche nicht gleich abschaffen. Aber sie will sie öffnen für zeitgemässe Sichtweisen und neue Beteiligungen. Die in der Ostschweiz aufgewachsene Zürcherin widmet sich insbesondere dem Silvesterchlausen im Appenzellerland. Die Tradition dieses Brauches ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert schriftlich verbürgt. Damals zogen verkleidete Gruppen am Nikolaustag polternd und scheppernd durch das Land. Seither hat sich der Brauch mehrfach gewandelt. Was geblieben ist: Er gilt als ausgesprochene Männerangelegenheit, so ist es auch in den Ausführungen in der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz festgehalten. Muss das so sein? Muss das so bleiben? War das wirklich immer so? Lustvoll unterwandert Vanessá Heer ungeschriebene Gesetze. Sie hat einen Schuppel – appenzellisch für Gruppe – gegründet und ist damit zu fünft durch den Alpstein gezogen. Gemeinsam wurden Verkleidungen entworfen, Choreografien und Kompositionen entwickelt. Heer ist von Naturtönen und -klängen fasziniert und hat mit der Gruppe neue Gesänge ausprobiert. Zugleich setzte sich der Schuppel in Gesprächen mit dem Brauchtum auseinander und erinnerte sich an den Kampf um das Frauenstimmrecht, in dem der Ostschweizer Künstler H.R. Fricker (1947–2023) eine besondere Rolle spielte. All das ist in einem Video festgehalten. In der Kunsthalle Wil wird es auf eine grosse Leinwand projiziert. Damit steht es im räumlichen Zentrum der Ausstellung, zugleich ist es gleichberechtigter Teil einer raumgreifenden Installation: Zöpfe aus Flachs, Hanf, Sisal, Wolle oder Haaren liegen auf dem Boden der Kunsthalle, hängen über den Stahlträgern des Obergeschosses, schlängeln sich auf dessen Brüstung und entlang des Geländers. Sie winden sich aus dem Fenster heraus und wieder hinein in den Ausstellungsraum. Sie sind mehrere Meter lang oder kurz und buschig, mit eingeflochtenen Gräsern, Blüten oder Zweigen. Sie stehen für die Kulturgeschichte des Zopfes einerseits und für das starke, gut miteinander verbundene, sichtbare und keineswegs ausschliesslich männliche Kollektiv. 

«Vanessà Heer – Vo Schand und Schuppel», Kunsthalle Wil, bis 6. Oktober
kunsthallewil.ch

Weisse Wannen, stilles Wasser: Der Basler Künstler Max Leiß zeigt in der Kunsthalle Arbon den Bodensee als Ort der Arbeit und der Freizeit

Max Leiß erweist dem Bodensee Reverenz. Für seine Recherchen ist er mit dem Kanu während einer Woche dem Ufer entlanggefahren. Der in der Schweiz und in Frankreich lebende Künstler verwandelt die Kunsthalle Arbon in ein «Seestück».

Campingplätze, Badis, Museen, Jachthäfen, Velowege ­­­­– das Bodenseeufer wird durch Freizeitangebote geprägt. Zugleich steht es für Arbeits- und Werkplätze. Es bietet kleinen und grossen Unternehmen Platz und ist durchzogen von Wirtschaftswegen. Beides gehört gleichermassen zum Bodensee und beides wird von Max Leiß in seiner Schau «Seestück» in der Kunsthalle Arbon verwoben.

Bereits das Gebäude der Kunsthalle trägt beide Welten in sich. Einst diente es als Fabrikations- und Lagerhalle. Heute ist es ein Kulturort mit Ausstellungen, die sich immer wieder mit der Industriegeschichte des Hauses auseinandersetzen. Auch Max Leiß hat sich von der Vergangenheit inspirieren lassen, als die Firma Schädler in der Halle noch Schubkarren produzierte und lagerte.

Schubkarren als Scharnier zwischen Natur und Kultur

Der in Basel und Marseille lebende Künstler hat gebrauchte Karetten zusammengetragen, die Räder und Holme demontiert und die verbleibenden Teile weiss gestrichen. In verschiedenen Positionen – aufrecht, gekippt, verkehrt herum – sind sie auf dem schrundigen Boden der Halle platziert. Manche der Wannen sind mit Wasser gefüllt. Sie muten wie kleine künstliche Teiche an und stehen doch in denkbar grossem Kontrast zu natürlichen Wasserstellen: Das klare Wasser in den weissen Behältern ist still und ohne Leben.

Leiß inszeniert die Schubkarren als Scharnier zwischen Natur und Kultur – so wie sie auch in ihrer eigentlichen Funktion verwendet werden: Wenn die Welt in eine neue Form gebracht wird, dienen sie bei den Bau- und Gartenarbeiten als Transportmittel. Jetzt sind sie zu Kunstobjekten verwandelt und ordnen sich in die lange Geschichte der künstlerisch transformierten Alltagsgegenstände ein.

Kaum noch unberührte Natur

Die kleinen, weissen Bassins bilden nicht nur einen Gegensatz zur Natur und zum Industriecharme der Kunsthalle, sondern auch zum so viel grösseren Bodensee. Auch ihn integriert Max Leiß in seine Ausstellung. Mit dem Kajak ist der Künstler eine Woche lang dem Ufer des Sees entlanggefahren. Die auf dieser Reise entstandenen Filmaufnahmen und das verwendete schmale Boot zeigt er im Untergeschoss der Halle.

Wie bei einem Pfahldorf stehen hier die Stützen dicht an dicht, während der gleichmässige Paddelschlag vom Sound des Videos ins Ohr dringt. Die Aufnahmen zeigen das Wechselspiel von Freizeit und Arbeit am Bodensee: die Uferstellen, die zum Baden einladen, deren Nähe zu bebauten Zonen, den Schilfgürtel und dann wieder Zeichen der Industrialisierung, die Stille, aber auch die Lichter am anderen Ufer.

Das Video zeigt deutlich: Unberührte Natur am Bodensee gibt es kaum, der Mensch hat hier fast überall die Hand im Spiel. Doch die Vielfalt ist gross und bietet Raum für lohnende Erkundungen. Leiss hat für die Projektion den passenden Ort gewählt: Das Dunkel des Untergeschosses erlaubt förmlich, hinab- und einzutauchen in diese Vielfalt.

Um das «Seestück» des Künstlers abzurunden, muss nicht nur aufgetaucht, sondern bis ins Obergeschoss der Kunsthalle hinaufgestiegen werden. Hier zeigt Leiß Fotografien, die am Rhein in der Nähe von Basel entstanden sind. Damit verweist er darauf, dass der Bodensee kein sich geschlossener Wasserraum ist. Die Wasserstrasse zieht sich von hier aus weiter, nimmt andere Formen an und hat erneut industrielle und kulturelle Bedeutung.

Der Sommer geht, die Kunst kommt.

Am Sonntag tat der Sommer noch einmal so, als müsse er nie abtreten. Es war ein perfekter Tag für die Badi – und für die Kunst. Beide trafen im Freibad Heiden aufs Schönste zusammen, denn der «Streunende Hund» war hier zu Gast.

«Papa, wieso hat´s da so Fotos?» Etwas ist anders in der Badi Heiden. Zwischen den blauen Türen der Umkleidekabinen stehen gerahmte Fotos am Boden. Die Schliessfächer grüssen mit poetischen Botschaften. Auf einem Handtuch schwimmt jemand durch die Wiese. Kunst hat sich am vergangenen Sonntag im Schwimmbad Heiden unter die Badegäste gemischt. Nicht gross und knallig, sondern leise und schön, unterhaltsam und nachhaltig – und überall dort, wo ein weisses Fähnchen im Boden steckte. Darauf abgebildet ist ein Hund: das Symbol des Kollektivs «Streunender Hund». Seit 2019 sind unter diesem Namen Künstlerinnen, Künstler und andere Kulturaktive gemeinsam in der Ostschweiz unterwegs. Ihre Kunstwerke und Aktionen in der Badi Heiden sind alle für diesen Ort entstanden. Dabei war die Ausgangslage nicht einfach, denn die 1932 eröffnete Anlage ist denkmalgeschützt. Nirgends darf ein Nagel in die Wand geschlagen, etwas fest geklebt oder aufgemalt werden. Umso ideenreicher haben die Kollektivmitglieder und ihre Gäste die Kunst platziert. Ein Beispiel sind die am Boden platzierten Fotos von Wassili Widmer, die alle Mitglieder des Kollektives an einem regnerischen Frühsommertag in der Badi zeigen. Ein anderes sind die «Tropfsteine» von Sven Bösiger: Von einem dünnen, zerknitterten Aluminiumblech rinnt Wasser auf ein zweites und erinnert an einen erfrischenden Sommerregen. Auf den Treppenstufen liegt ein bedrucktes Neoprentuch von Donia Jornod, darauf glitzerten kleine Wasserpfützen im Licht. Einige Meter weiter trägt einer der schattenspendenden Bäume ein Kleid. Laura-Maria Drage hat es ihm angezogen. Die kommunizierenden Schliessfächer sind die Idee von Gabriela Falkner. «Schön, Dich hier oben zu sehen!» oder «Psst. Ich bin bereits im Winterschlaf.» verkünden sie in einfacher Schrift auf weissen Postkarten. Der schwimmende Mensch als Motivdruck auf einem Badetuch: Damit erweitert Mirjam Kradolfer das Becken bis auf die Wiese. Florian Gugger hingegen hat den Alpstein in die Badi geholt: Als Epoxy-Plastik glänzt er am Beckenrad in der Sonne.
Mehrere Künstlerinnen und Künstler luden die Badegäste ein, Teil ihrer Kunst zu werden. Fridolin Schoch bot einen Workshop an, in dem Fächer bemalt werden konnten. Harlis Schweizer malte direkt auf die Haut: Wer wollte, konnte ein Stück Badi auf dem Körper mit nach Hause tragen – als Original der Künstlerin. Auch von Birgit Widmer gab es etwas zum mitnehmen: ihre Zeichnung einer Meereswelle, gedruckt auf Seidenpapier. Das Duo kappenthuler/federer lichtete Interessierte mit Lochkameras vor ihrem Lieblingsplatz in der Badi ab. Der Technikraum des Bademeisters diente ihnen als Dunkelkammer. Die Beteiligten schwärmen vom unkomplizierten Zusammenspiel mit Gemeinde und Badi-Verantwortlichen. Dies wird am 1. Februar eine Fortsetzung finden: In fünf Monaten nämlich wird der «Streunende Hund» zum zweiten Mal in der Badi Heiden vorbeikommen. Er wird das Bad aus dem Winterschlaf wecken und neue oder weiterentwickelte Arbeiten werden hinzukommen.

Zehnmal künstlerische Schaffensjahrzehnte

Vier Künstlerinnen und sechs Künstler stellen neben- und miteinander im Museum zu Allerheiligen aus: Das Miteinander besteht im biografischem Bezug zur Region Schaffhausen und dem Alter – alle sind in den 1940er Jahren geboren. Das Nebeneinander findet mit sorgfältig gewählten Räumen für jede der künstlerischen Positionen statt.

Schaffhausen — Eine Würdigung, eine Überblicksschau, eine Kabinettausstellung – «Generation im Aufbruch» ist ein besonderes Projekt. Es versucht nicht, die Werke in einen Dialog zu zwingen oder sonstige Querbezüge zu konstruieren, sondern zeigt jede Position separat. Das entspricht einerseits dem Bestreben, jede Position in ihrer Eigenständigkeit zu unterstreichen. Andererseits kommt es der heterogenen Herangehensweise der Ausstellenden entgegen, die sich im Vorfeld unterschiedlich intensiv einbrachten: Manche entschieden sich für einen intensiven Austausch mit dem Kurator Julian Denzler, andere wählten ihre Werke selbst aus und arbeiteten weitestgehend autonom.
Eigens für die Präsentation wurden kurze Videoporträts gedreht. Sie erzählen oder interpretieren nicht einfach, was zu sehen ist. Stattdessen sprechen die Künstlerinnen und Künstler über Haltungen, Motivationen, Inspirationen oder glückliche Schaffensmomente.
Die Ausstellung beginnt bereits neben dem Museum mit den Objekten des Eisenplastikers Vincenzo Baviera: Sie bestehen aus Kraftwerks-Isolatoren und bringen eine neue Zeitebene in den mittelalterlichen Kreuzgang. Renate Eiseneggers Fotografien und Tuschezeichnungen speisen sich aus Wut und Engagement und zeigen den weiblichen Menschen malträtiert, untersucht, behandelt, maskiert. Im Raum daneben fesseln die mit lebendigem Strich hingeworfene Szenen aus Operationssälen von Linda Graedel. René Moser zeigt seine «Schreine» aus Eisenblech und René Eisenegger eine Wandinstallation aus gefundenen Materialien. Von Walter Pfeiffer, der vor allem als Fotograf bekannt ist, sind dichte Stilleben und Porträts in Gouache zu sehen. Erich Brändles Gemälde bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Beatrix Schären malt flammende, expressive Bilder zu existentiellen Themen, angeregt von der Kultur der Tairona in Kolumbien. Erwin Gloor hat jahrzehntelang mit gestischer Handschrift den Rheinfall porträtiert. Seit 2004 hat er sich dem fotorealistischen Gemälden zugewandt, die Ausstellung zeigt eine repräsentative Auswahl. Ursula Goetz´ künstlerische Position wird postum gewürdigt: Sie verstarb während der Ausstellungsvorbereitungen. Zu sehen sind ihre ungegenständlichen, austarierten Kompositionen in Acryl.
Zeichnungen, Malerei, Fotografie, Plastiken und Installationen – die Ausstellung zeigt Vielfalt und Qualität der Arbeit einer älteren Kunstgeneration.

‹Generation im Aufbruch›, Museum zu Allerheiligen, bis 20.10.
allerheiligen.ch

Düfte ausstellen? Funktioniert!

Teufen — Düfte gehen direkt ins Hirn. Sie sind vielfältig und flüchtig. Sie wecken Erinnerungen, lösen Emotionen aus und werden sehr individuell interpretiert. Lässt sich dieser olfaktorische Reichtum ausstellen? Das Zeughaus Teufen liefert die Antwort mit einer gelungenen Präsentation. Erarbeitet wurde sie vom Zürcher Parfümeur Andreas Wilhelm gemeinsam mit der Szenografin Clara Sollberger. Wilhelm kreiert Parfüms für Marken aus aller Welt und eigene Duftkollektionen. Für das Zeughaus Teufen hat er die Essenzen der Liebe herausgefiltert: Hingabe, Lust, Verliebtheit, Eifersucht, Vertrauen, Trauer und Unschuld sind als Duftnote in hunderte kleiner Flaschen abgefüllt. Ihnen gehört der grosse Auftritt in der Ausstellung. Wem der lichtdurchflutete Raum dennoch zuviel Ablenkung bietet, darf sich eine rotlederne Augenbinde umlegen, um sich vollständig auf den Geruchssinn zu konzentrieren. Den Gegenpart zu dieser Reduktion bildet der «Liebesrausch»: ein kleines, in rotes Licht getauchtes Kabinett. Hier ist der Geruchseindruck bombastisch und in seiner Intensität nur kurz auszuhalten. Woraus so ein Duftfeuerwerk entsteht, zeigt der Raum gegenüber: Wilhelms Labor ist temporär zu Gast in Teufen. Flaschen, Kanister und Rührgefässe, Zutatenlisten und Pipetten – betörende Düfte zu mischen, ist eine profane Angelegenheit. ks

‹Andreas Wilhelm – Liebe›, Zeughaus Teufen, bis 6.10.
zeughausteufen.ch

Seismografin des Weltgeschehens

Eva Wipf war ebenso eigenwillig wie hartnäckig. Ihr Werk entwickelte sie angesichts der weltpolitischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und in Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen. Das Kunstmuseum Thurgau zeigt eine gross angelegte Retrospektive der oft übersehenen Künstlerin.

Warth — ‹Zu lang im Bett mit Fantasien. Schade um mich…› Eva Wipf notiert diese Sequenz 1962. Ihre Gedankenwelt ist düster und hat viel mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten ihrer Zeit zu tun. Die 1929 geborene Künstlerin wuchs als Tochter eines evangelikalen Missionars auf und in die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges hinein. Sie beschäftigte sich Zeit ihres Lebens mit den Schrecken von Diktaturen, Kriegen und Verfolgung, aber auch mit religiösen Grundsätzen und mit ihrer Rolle als Künstlerin in einer patriarchalisch geprägten Umgebung. Eine Akademie hat Wipf nicht besucht, doch sie war eine regelmässige Ausstellungsgängerin, kannte das Werk von Giacometti, Cornell, Oppenheim, Dubuffet und vielen Anderen. Ihr Oeuvre aber verarbeitet nicht einfach das Gesehene, sondern entsteht aus einem eigenständigen Schöpferdrang.
Das Kunstmuseum Thurgau zeigt in der Karthause Ittingen eine gross angelegte Retrospektive der 1978 verstorbenen Künstlerin. Die Schau folgt ungefähr der Biografie, richtet das Augenmerk aber vor allem auf Themengebiete. So werden einerseits in sich geschlossene Werkkomplexe und andererseits Konstanten in Wipfs Arbeit deutlich. Kontinuierlich arbeitet sie an ihren Assemblagen: Gebrauchte Holzkisten füllt sie mit gefundenen Dingen und Materialien. Von der Matratzenfeder über Schwämme, Zithern, Knochen oder Computerplatinen bis zum Zaunfragment ist alles dicht und sorgfältig angeordnet, mitunter symmetrisch oder in mehren Ebenen. Die Assemblagen muten an wie kleine Schreine und beherbergen Wipfs Ansichten zur Welt. Ein Kasten widmet sich Dr. Mengele, ein anderer Napoleon, einer ist als «Altar für eine Bombe (Zitteraltar)», 1976 bezeichnet, es gibt das «Höllentor», 1973–1975, einen Kasten zu Auschwitz und einige zu christlichen Themen. Ordnung steht in ihnen nicht für Harmonie, sondern viel mehr für Zwänge, Automatismen oder Dogmen. Das malerische Werk Wipfs ist nicht weniger vielfältig. Hier verwirklicht die Künstlerin halluzinatorische Bildprogramme. Mal zeigt sie die Schöpfung kaputt, die Erde verwüstet, dann wieder baut sie kristalline Himmelsstädte oder entwirft Paradiesgärten. Doch auch diese sind keine bukolischen Idyllen, sondern dunkel und menschenleer. Wipfs Bildsprache erinnert an den magischen Realismus, den späten Surrealismus, die Art Brut, den Tachismus, aber ihre Synthese und künstlerische Unbedingtheit ist einzigartig. ks

‹Eva Wipf – Seismograf in Nacht und Licht›, Kunstmuseum Thurgau, bis 19.12.
kunstmuseum.tg.ch

Die Goldach als Landschaftsgärtnerin

Die Goldach rauscht am Chastenloch vorbei. Lukas Indermaur ist begeistert. Die Wassermassen im Juni 2024 sind auch für den Gewässerverantwortlichen des WWF Regiobüro AR/AI-SG-TG nicht alltäglich: «Jetzt strömen hier fünf Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch, normal für diese Jahreszeit sind ein halber bis ein Kubikmeter.» Aber es hat viel geregnet in diesem Frühsommer und die Hänge sind steil. Letztere sorgen für eine Besonderheit: «Durch die stark bewaldeten Hänge gelangen über den Uferbereich viele Stämme ins strömende Wasser. Aus flussmorphologischer Sicht ist das sehr gut.» Indermaur spricht von Strömungsschatten und Pionierhabitaten, von Initialräumen und dem Schwemmholz als Nukleus: Hinter den Stämmen entstehen stillere Wasserbereiche, dort siedeln seltene Tierarten wie beispielsweise Gelbbauchunke und Geburtshelferkröte. Je nach Hochwasser verändern sich deren Lebensräume jährlich und bleiben dadurch räuberfrei: «Das Hochwasser ist der Herzschlag einer Aue.»
In der Goldach spielt vieles ideal zusammen: Sie ist ein eher siedlungsferner Fluss, die landwirtschaftlichen Belastungen sind niedrig. Im Geotopinventar wird ihr sogar nationale Bedeutung zugemessen, denn der Goldachgletscher hat hier eine einzigartige Landschaft geschaffen mit riesigen Gletschertöpfen und Schmelzwasserrinnen: «Die Strudeltöpfe sind wie ausgestanzt.» Indermaur kennt diese Formationen von seinen regelmässigen Flusswanderungen. Auf dem Wegstück Richtung Zweibrücken kommt der Trogener Gewässerbiologe erneut ins Schwärmen: «Hier sind alle Ingredienzen, die eine Aue braucht: starker Abfluss, Schwemmholz, Geschiebe, Sandbank, Fische.» Wo Fische sind, sind auch Angler. Indermaur sieht das locker, denn «Fischer sind die Augen und Ohren am Gewässer.» Sie kennen den Fluss und spüren Veränderungen. Einzig den Besatz sieht er kritisch: «Hier hoch kommen Bachforellen nicht auf natürlichem Weg, das sind ausgesetzte Exemplare.» Die Seeforellen beispielsweise schaffen es drei bis vier Kilometer die Mündung hinauf. Die Goldach ist damit der drittwichtigste Zufluss für deren Population am Bodensee – von der Quelle bis zur Mündung ist der Fluss ein Primärlebensraum für viele. Damit das so bleibt, ist es am besten, den Fluss in Ruhe zu lassen: «Der Fluss ist sein eigener Landschaftsgärtner.»

Obacht Kultur, GOLDACH, No. 49 | 2024/2