Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Erstens, zweitens, unendlich

Barbara Signer verwandelt die Kunsthalle Arbon in einen Parcours der Möglichkeiten. Sie inszeniert Portale und verwandelt die reale Welt in einen magischen Vergnügungspark.

Portale sind Tore zu anderen Welten: Goldene Ringe öffnen Durchgänge zu weit entfernten Orten, auf dem Gleis Neundreiviertel treffen sich Zauberschüler und in einem Kleiderschrank beginnt das magische Land Narnia. Die Gestalt der Portale ist ebenso vielfältig wie ihre Macht, aus der Realität herauszuführen. Das funktioniert in Romanen, Filmen oder Computerspielen genauso wie in der Kunst. Es ist alles eine Frage der Vorstellungskraft. Darauf vertraut Barbara Signer in ihrer aktuellen Ausstellung. Die Künstlerin hat in der Kunsthalle Arbon vier Portale aufgestellt und sie der Unendlichkeit gewidmet. Aber wie sollen ein Bogen aus Luftballons, ein Teich, ein Prisma mit Strassenlaternen und eine Bank unter eine Blume in die Ewigkeit führen? Aus einiger Entfernung wirken diese Objekte etwas verloren in der riesigen Lagerhalle mit ihrem schroffen Asphaltboden, den Stahlträgern und Stützen. Das ändert sich rasch beim Näherkommen: Diese Präsentation ist nicht für einen festen Standort entwickelt, sondern will erkundet werden. Erst dann entfaltet sich die besondere Stimmung zwischen Unterhaltung und Verlorenheit, zwischen Vergnügungspark und Endzeitkulisse.

Teich statt Kuchentafel

An den Anfang stellt die Künstlerin ein Tor aus Luftballons. Deren zarte Farben verheissen unbefangene Festlaune, aber statt auf eine Kuchentafel fällt der nächste Blick auf einen tiefschwarzen Teich. Eine einsame Strassenlaterne spiegelt sich in der glatten Wasseroberfläche. Jetzt bloss nicht hineinfallen, vielleicht führt dieses Portal in eine andere Welt? Vielleicht gibt es kein zurück? Besser weiter, zum nächsten Portal. Kopfüber spiegelt es sich bereits im Teich. Auch dieses Objekt ist rätselhaft. Lilafarbene Verstrebungen bilden ein dreieckiges Gehäuse. An den Aussenseiten befinden sich auch hier Kandelaber. Doch was beleuchten sie? Dort ist keine Strasse und kein Treffpunkt. Auch das Zentrum des Bauwerkes lädt nicht zum Verweilen ein. Durch den dreieckigen Grundriss erzwingt es eine Entscheidung: nach rechts, nach links oder zurück? Barbara Signer gibt den Weg nicht vor. Ihre Ausstellung ist ein Parcours der Möglichkeiten und Übergänge. Eines führt zum nächsten, durch die präzise Gestaltung bietet jedes der gezeigten Werke den Anreiz weiterzuschauen und sich weiterzubewegen.

Ein magischer Steinhaufen

Die Künstlerin kombiniert Elemente aus der realen Welt und eigens entwickelte Objekte. Sie verwandelt Bekanntes in Ungewohntes, fügt zusammen, was bis dahin keine Gemeinsamkeiten hatte, ändert Grössenverhältnisse und erfindet neue Farben. Die berühmte «Endlose Säule» von Constantin Brâncuși beispielsweise hängt in Arbon als Halskette von den Dachträgern. Als Kette ist sie viel zu gross und aber gemessen am rumänischen Vorbild ist sie winzig. Überdies sind die Kettenglieder hellblau und stehen damit in eindrücklichem Kontrast zu den Rostfarben der Halle.
«Cairn» hat die Künstlerin aus Steinen von einem Felssturz am Calanca errichtet. Aus der Mitte dieses Steinhaufens leuchtet kaltes Licht. Nur von einer einzigen Betrachtungsposition aus gleicht es zwei strahlenden Augen: Die leblosen Steine werden zu einem magischen Wesen. Barbara Signer spielt immer wieder mit solchen Übergangsmomenten. Sie inszeniert vieldeutige Situationen und Stimmungen mit dem Potential, sich stetig zu verändern. Mit dem Ausstellungstitel zeig sie dieses Spektrum auf: «The First the Last Eternity» sang die deutsche Band Snap! Mitte der 1990er Jahre. In Arbon beginnt die Unendlichkeit oder sie nimmt ein Ende. Wer die Portale durchschreitet, findet es heraus. Einen Versuch ist es allemal wert.

Kunst unter Obstbäumen

Die Open Air-Biennale im Weiertal widmet sich in diesem Jahr der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Unter dem Titel ‹Common Ground› vereinen sich 17 künstlerische Positionen mit der von Menschenhand gestalteten Natur des Landschaftsgartens.

Winterthur Wülflingen — 33 mal 33 Meter – so viel Land braucht ein Mensch, um sich pflanzenbasiert zu versorgen. Je nach Wohnort und Herkunftsstaat erscheint dies viel oder wenig Fläche. Wie gross so ein Areal tatsächlich ist, zeigt Uriel Orlow im Kulturort Weiertal. Hier, am Rande Winterthurs, auf einem idyllischen Stück Land mit hoch gewachsenen Obstbäumen, kleinen Weihern und blühenden Sträuchern, hat der Künstler ein Stück Wiese abgesteckt: Vier einfache Markierungen zeigen eindrücklich, was Bodenbesitz bedeuten kann und wie somit Land, Arbeit und Agrarkultur das Leben sichern oder verändern können. Wer aber besitzt diese Ressourcen tatsächlich und wie werden sie genutzt? Was ist der Mehrwert gemeinschaftlicher und fürsorglicher Lebensweisen? Wie funktionieren Räume jenseits konservativer Produktions- und Konsumlogiken? Diese Fragen stehen im Zentrum der 8. Biennale Weiertal, kuratiert von Sabine Rusterholz Petko. ‹Common Ground› beginnt bereits auf dem Weg vom Bahnhof Winterthur Wülflingen zum Ausstellungsort. Die Luzernerin Martina Lussi hat aus lokalen Geräuschen einen Klangraum gestaltet. Die Komposition kann auf eigenen Kopfhörern angehört werden – idealerweise vermengt mit den reichen Umgebungsgeräuschen. Letztere mischen sich auch in die Tonspur von Ishita Chakrabortys Installation mit Alltagsgeräuschen aus Westbengalen und Thesen zum Ökofeminismus inmitten eines Hags aus Saristoffen.
Im Weiertal lohnt sich das genaue Hinhören genauso wie das genaue Hinsehen. So ist etwa der Stapel aus ausgedienten Autoreifen kein achtlos deponiertes Zivilisationsrelikt, sondern ein eigens installiertes Ökosystem von Brigham Baker: Längst haben sich Wasserlachen in Altreifen als Brutplätze etabliert. Immer wieder lenken die Kunstwerke den Blick weg vom Anthropozentrismus hin zur Natur, wenn etwa Reto Pulfer einen Ziergarten für Pflanzen anlegt, die üblicherweise als Unkraut eingestuft werden, wenn Dunja Herzog Bienenvölkern Strohkörbe anbietet, statt der vor allem für die Bienenwirtschaft praktischen Holzkästen, oder wenn Thomas Julier den Biber ins Zentrum seiner Recherchen stellt. Gemeinsam ist allen Arbeiten ihr ephemerer Charakter. Sie fügen sich in den Garten ein, werden ihn aber nach dem Sommer wieder verlassen. Sie behaupten keinen Ewigkeitsanspruch und passen auch damit zum Ausstellungsthema: Ein gemeinsam genutzter Raum bleibt im Idealfall flexibel für neue Nutzungen, für offene Teilhabe und eine sich stetig wandelnde Balance zwischen Natur und Kultur.

→ ‹Common Ground›, Biennale Weiertal, bis 10.9.
www.biennaleweiertal.ch

Barbara Signer

Arbon — Die Stille dringt durchs Ohr ins Hirn. Dort stösst sie auf lauten Widerspruch. Denn das Auge meldet Strassenlaternen, Luftballons und blinkende, bunte Lichter. Aber der dazugehörige Verkehrslärm, das Lachen und die Unterhaltungen fehlen. Es bleibt still in der Kunsthalle Arbon, einzig das alte Industriedach knackt in der Sommerhitze. Im Kopf tönt es trotzdem, dank den Ohrwurmqualitäten des Ausstellungstitels: ‹The First the Last Eternity› – viel mehr Text hatte der 1994er Hit von SNAP! nicht, dabei gäbe es Einiges zu sagen zum Thema Ewigkeit. Barbara Signer beweist das mit einer poetischen, bildreichen Erzählung. Mit Versatzstücken aus Vergnügungsparks, aus dem urbanen Raum und aus fiktiven Welten entwirft sie einen Parcours der Optionen. Zentrale Elemente sind vier ‹Gates›: Durch das Ballontor gehen oder nicht? In den spiegelblanken, schwarzen Teich eintauchen? Im dreieckigen Tor die Richtung wechseln? Oder sich mit unbestimmtem Ziel der Kontemplation hingeben? Jedes ‹Gate› ist gleichzeitig ein Eingang und ein Ausgang, es verlangt eine Entscheidung und führt zum nächsten ‹Gate› und zur nächsten Entscheidung. Jede davon bringt die Ewigkeit ein Stück näher, jeder Schritt könnte bereits ihr Anfang sein. Ihren Sog entfalten diese Portale einerseits durch ihre Farbigkeit und Gestalt, andererseits durch ihre Kombination. Das Luftballontor beispielsweise verbreitet unbefangene Festlaune. Die Farben sind zart, die Ballons prall, nur die schwarzen Stellen stören bewusst die heitere Stimmung, sie künden von Fäulnis oder brütendem Unheil. Dahinter die schwarze Wasserfläche, beleuchtet von einem japanischen Kandelaber, sie ist mehr Spiegel als See. Sie reflektiert ihre Umgebung und verweist stets auf das Andere. ‹Gate IV (New Directions)› wiederum erzwingt die Entscheidung: Wer ins lilafarbene, dreieckige Portal eintritt, kann es nicht geradlinig durchqueren, sondern muss wählen – links beispielsweise führt der Weg zu einer überdimensionalen hellblauen Halskette, einer Mutation Brâncușis ‹Endloser Säule›.
So unterschiedlich die einzelnen Arbeiten sind, so gut spielen sie zusammen. Alles fügt sich zu einem stimmigen Ganzen: Barbara Signer konstruiert eine Übergangszone zwischen Realität und Parallelwelt. Dieser Schwebezustand besitzt magische Anziehungskraft und irritiert zugleich, er lockt mit Vertrautem und führt ins Ungewisse, vielleicht sogar in die Unendlichkeit.

→ ‹Barbara Signer – The First the Last Eternity›, Kunsthalle Arbon, bis 23.7.
↗ www.kunsthallearbon.ch

Kunst und Frosch im Garten

Quak! Ist es Kunst? Quak! Eine Soundinstallation? Quak! Eine Performance? Es ist ein Frosch! Einer, der einfach da ist, echt und leibhaftig, und bei jedem Quaken die Backen aufbläst wie aus dem Bilderbuch. Typisch Kulturort Weiertal: Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen eigens Inszeniertem und dem, was sowieso da ist. Die Natur hat den Garten mitgestaltet, der zuvor von Menschenhand entworfen wurde. Dieser Garten wiederum ist Bühne, Partner und Ausgangspunkt für die Kunst. In diesem Jahr für «Common Ground»: Die aktuelle Ausgabe der Biennale Weiertal untersucht das Potential gemeinschaftlich genutzter Orte – ob am Rande Winterthurs oder überall sonst in der Welt. Sie stellt sich ökologische, ästhetische und soziale Fragen, denkt an die Tiere, an kulturelles Erbe, an künftige Herausforderungen. Diese grossen Themen kommen im Weiertal leichtfüssig daher. Das mag an der Stimmung im sommerlichen Garten liegen, aber auch an der Flüchtigkeit der Kunst: Hier im Kulturort Weiertal sind die 17 künstlerischen Positionen nur zu Gast. Der Frosch jedoch darf bleiben.

‹Common Ground›, Biennale Weiertal, bis 10.9.
www.biennaleweiertal.ch

Mit dem Zug durchs Kunst(Zeug)Haus

Modelleisenbahnen brauchen Platz, sind aufwendig in Installation und Unterhalt und auf Kinderwunschzetteln tauchen sie kaum noch auf – ausgestorben sind sie deshalb trotzdem nicht. Sie haben beispielsweise eine Nische gefunden in der zeitgenössischen Kunst. Das aktuellste Beispiel dafür liefert David Renggli mit seiner Einzelausstellung im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil. Fünf voneinander unabhängige Schienensysteme schlängeln sich dort durch das Obergeschoss. Der makellos weisse Boden im bietet die perfekte Folie für die schwarzen Gleise und die kunterbunten Züge darauf. Doch «Untitled Train» ist mehr als eine hübsche, räumliche Zeichnung; das Werk kommentiert auf hintersinnige und poetische Weise heutige Befindlichkeiten. Satzfragmente auf den kleinen Waggons reichen aus, um das ganze Spektrum zwischen «Ja», «Nein» und «Vielleicht» auszudrücken. Wer es etwas deutlicher mag, wird in Rengglis Gemälden und den Leuchtkästen fündig. Reklame und Exotik, Klatsch und Tratsch, Kunst und Kitsch treffen hier in kunterbunten Bildern aufeinander. Das macht Spass, lässt sich aber auch als pointierter Kommentar zur Konsumwelt lesen.

‹David Renggli – Jahrmarkt der Gefühle›, Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil-Jona, bis 6.8.
www.kunstzeughaus.ch

Das flimmernde Ja und das grelle Pink

David Renggli spielt mit den Wörtern, Gedanken und Bildern. Der Zürcher Künstler lässt im Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil Züge fahren, Gedanken kreisen und Farben knallen. So heiter und unbefangen die Werke daherkommen, so ernst und aktuell sind ihre Hintergründe.

Rapperswil-Jona — «SAY» fordern drei Versalien. Darüber radial ausgerichtete Streifen, darunter ein Halbkreis: Ein Sonnenuntergang aus Neonröhren. Unter der Horizontlinie kein gespiegeltes «Say», sondern ein spiegelverkehrtes Neon-«Yes». In krakeligen Buchstaben versinkt es zwischen flimmernden Linien: Das Ja geht unter – hier wie im Sexualstrafrecht. Der Nationalrat hatte noch im November der Forderung «Nur Ja heisst Ja» zugestimmt und damit den Tatbestand der Vergewaltigung neu klassifiziert. Im Ständerat wurde daraus ein weniger weitreichendes «Nein heisst Nein». David Renggli bezieht sich mit ‹Say Yes› nicht ausdrücklich auf diese Entscheidung und doch: Seine Arbeiten im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zeigen deutlich, dass ihm diese Themen weder fremd noch egal sind. Die Ausstellung ist in zwei Teile gegliedert und das ist eine gute kuratorische Entscheidung. Der grösste Bereich im Obergeschoss ist ‹Untitled Train› vorbehalten. Hier hängen keine Gemälde, keine Leuchtschrift, nichts an den weissen Wänden. Der Fokus liegt vollständig auf sich durch den Raum schlängelnden, schwarzen Modelleisenbahnschienen. Sie nehmen einerseits Bezug auf das geschwungene Oberlicht und stehen andererseits in Kontrast zu den spitzwinklig aufeinander zulaufenden Dachsparren, den Pfeilern und dem Weiss des Raumes: eine hochästhetische Bodenzeichnung. Und mehr als das: Auf den Schienen ziehen fünf Modelleisenbahnloks kunterbunte Waggons hinter sich her. Beschriftet sind sie mit Seufzern, Gedankensplittern, Alltagsweisheiten und schliesslich einem «Noch wach». Spätestens hier kommt das hochaktuelle und doch versinkende Ja ins Spiel: Das Wortpaar bezieht sich auf Benjamin von Stuckrad-Barres kürzlich erschienenes, gleichnamiges Buch über den strukturellen Machtmissbrauch im Mediengeschäft. Gilt dort ein «Nein»? Wie verhält es sich dort mit «wollen können müssen»? – Wörter, die ebenfalls auf den kleinen Waggons stehen.
David Renggli lässt alles offen, er deutet lieber an. Spielerisch und vieldeutig flicht er zeitgenössische Bildwelten, Denkmuster und Themen ineinander. So mixt er in Leuchtkästen Klatsch und Erotik aus der Boulevardpresse mit Reklamesujets und Kunstzitaten oder malt seine ‹SUV-Bilder› auf Bettbezüge aus dem Brockenhaus: Ethnokitsch, Dollarnoten, Disneymotive mischen sich mit albernen Autonamen, Penissymbolik und imitierten Wasserzeichen. Die Farben knallen, Kermit lacht in Pink, ein Besen wischt alles beiseite – die Welt dreht sich schnell, was heute noch gilt, ist morgen vielleicht ganz anders.

→ ‹David Renggli – Jahrmarkt der Gefühle›, Kunst(Zeug)Haus, Rapperswil-Jona, bis 6.8.
↗ www.kunstzeughaus.ch

Aus Sicht der Pflanze

Die einen stellen Blumen aus, die anderen lassen Pflanzen regieren. Zu erstgenannten gehört die Kunsthalle München: «Flowers Forever» ist eine kunterbunte Schau, die den blühenden Schönheiten einmal quer durch die Kunst- und Kulturgeschichte folgt, sie aber als Objekt präsentiert. Es geht auch anders: Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt, was Pflanzen können, wie sie handeln, sich verbünden und wie unerlässlich sie für uns sind. Bereits Ende 2020 wurde in Vaduz das «Parlament der Pflanzen» ausgerufen, jetzt vertieft eine zweite Ausstellung das Thema, setzt neue Schwerpunkte, präsentiert neue Werke, neue künstlerische Positionen und knüpft zugleich an Früheres an. Pflanzen werden als gemeinschaftlich organisierte Lebewesen ernstgenommen, die nicht nur sich selbst, sondern auch uns Menschen retten können. Sogar der «Politik der Pflanzen» ist ein Ausstellungsteil gewidmet mit Werken aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich. Hier wie in allen Sälen fällt die stimmige Szenographie auf: Wissensinseln sind wie Baumhäuser gestaltet, schwere, grüne Vorhänge schirmen Videoinstallationen ab, immer wieder wechselt die Perspektive von klein zu gross und umgekehrt – so wird der Gang durch die Botanik auch im Museum zum Vergnügen.

→ ‹Parlament der Pflanzen II›, Kunstmuseum Liechtenstein, bis 22.10.
www.kunstmuseum.li

Parlament der Pflanzen — Die Kraft der Pflanzen

Müssen wir die Pflanzen retten oder retten sie uns? Das Kunstmuseum Liechtenstein greift ‹Parlament der Pflanzen II› ein bereits früher bearbeitetes Thema wieder auf. Diese Vertiefung lohnt sich inhaltlich und in der Ausstellungsgestaltung. Gezeigt werden 19 künstlerische Positionen.

Vaduz — Zum Einstieg der Wald: Mooskissen, Baumriesen, Dickicht, Blattgrün – Thomas Struths Werkgruppe ‹Pictures of Paradise› zeigt intakte Natur, ohne Menschen, ohne Tiere. Der Künstler fotografiert Wälder in Australien, Japan, Peru oder in Bayern. Die entstandenen grossformatigen Bilder porträtieren jedoch keine einzelnen Biotope, sondern den unermesslichen Naturraum, seine Vitalität, seine Schönheit und seine Kraft, auf die Menschen einzuwirken, ihnen Stille und Wohlsein zu schenken. Damit steht bereits zum Auftakt von ‹Parlament der Pflanzen II› im Kunstmuseum Liechtenstein nicht das einzelne Gewächs im Mittelpunkt, sondern die Symbiose, die Gemeinschaft der Pflanzen, das Beziehungsgeflecht der Lebewesen – auch zwischen Flora und Mensch.
Während in der ersten Ausgabe von ‹Parlament der Pflanzen› 2020 noch der anthropozentrische Blick auf Pflanzen dominierte, wird im zweiten Teil des Ausstellungsprojektes immer wieder deutlich, wie sehr es auf das Miteinander ankommt: So zeigt Ursula Biemann das Leben indigener Gemeinschaften mit dem Wald, Polly Apfelbaum die Vielfalt der Nutzpflanzen oder Uriel Orlow pflanzliche Kommunikationsnetzwerke und das «Waldbewusstsein». Pflanzen werden mehr und mehr als Subjekt, denn als Objekt begriffen. Erst dadurch wird ein neues Zusammenleben möglich. Auch die Kiewer Künstlerin Alevtina Kakhidze sieht Pflanzen als handelnde Wesen, sie beschreibt sie als pazifistisch und hebt ihre Widerstandskraft und Beharrlichkeit hervor. Dies hat bereits grosse Nähe zum Politischen, dem ein besonderer Ausstellungsteil gewidmet ist: Die unter ‹Politik der Pflanzen› gezeigten Positionen stammen aus dem Bestand der Graphischen Sammlung der ETH Zürich und beschäftigen sich mit Grenzziehungen, ökonomischem Druck oder dem Verhältnis von Kultur und Natur. Monica Ursina Jäger beispielsweise lässt die Pflanzenwelt architektonische Strukturen durchdringen und verwendet als Zeichenmaterial Chlorophyllin. Dieses Ausstellungsinsert ist durch die zartgrüne Wandfarbe und kleinerformatige Arbeiten auf Papier durch eine andere Masstäblichkeit gekennzeichnet.
Ebenfalls räumlich eigenständig sind die eingebauten Wissensinseln. Sie führen zu philosophischen, naturwissenschaftlichen oder historischen Exkursionen in die Pflanzenwelt, begleitet von künstlerischen Arbeiten. Aber auch ihre Szenografie schlägt eine Brücke zum Thema: Auf ihren hölzernen Stelzen gleichen sie Baumhäusern und verleihen auch diesem theoretischen Teil der Schau eine sinnliche Ästhetik.

Rohstoff und Problemmaterie

Monira Al Qadiri präsentiert im Kunsthaus Bregenz die Ergebnisse ihrer Erfahrungen und Forschungen zur Erdölförderung und deren Folgen. Ihre Arbeiten sind hochästhetisch, obgleich sie die negativen Seiten des globalen Erdölkonsums ins Zentrum stellen.

Bregenz — Bohrköpfe sind dazu entwickelt zu penetrieren. Sie dringen ins Gestein ein, hinterlassen Löcher, fressen sich vor zu Bodenschätzen. Damit ist ihre eigentliche Aufgabe erledigt, ihre Wirkung jedoch entfalten sie weit darüber hinaus. Im Falle des Erdöls sogar global und in nahezu jedem Lebensbereich: Ist es seinen Lagerstätten entnommen, erlangt es eine neue Permanenz. Monira Al Qadiri (*1983) thematisiert diese Zusammenhänge, kommt vom Kleinsten zum Grossen, zeigt direkte Wirkungen und unbeabsichtigte Nebeneffekte. Die Künstlerin schöpft dabei aus der lokalen wie aus einer globalen Sicht, ist sie doch in Senegal geboren, in der Erdölnation Kuwait aufgewachsen, hat in Japan studiert und lebt aktuell in Berlin.
In ihrer Ausstellung im Kunsthaus Bregenz zeigt Al Qadiri aktuelle Arbeiten in einer durchdachten Abfolge. Im Foyer hängen riesenhafte Nachbildungen der Molekularstruktur petrochemischer Substanzen. Die luftgefüllten Objekte verweisen mit ihrer Monumentalität auf die Omnipräsenz des Erdöls und behaupten mit ihrer Ähnlichkeit zu Jahrmarktballons dennoch ihre Harmlosigkeit.
Die Bohrköpfe, die Al Qadiri in einer kleineren Version vergangenes Jahr an der Biennale Venedig zeigte, sind das Herzstück der Ausstellung. Sie drehen sich im ersten Obergeschoss, lassen ihren Flipflop-Lack in schönsten Farben schillern oder hängen in makellosem Weiss an der Wand. Sie bestechen durch rhythmisch angeordnete Schneidwerkzeuge und zeigen allesamt: Der Bohrkopf ist nicht das Problem. Es ist der Mensch, der die Technik entwickelt hat, der sie braucht und sie doch nicht im Griff hat. Das verdeutlicht die Künstlern im Treppenhaus und den beiden Stockwerken darüber: Sie spielt mit Tankerfotos in Bullaugen auf die Unterwasserlacke an, die Muscheln, Schnecken und Algenbewuchs verhindern sollen, dabei jedoch schädliche Substanzen absondern. Über die daraufhin zu beobachtenden Geschlechtsveränderungen bei Schalentieren lässt sie zwei Muscheln einen eindringlichen Dialog führen. Im obersten Stockwerk schliesslich platziert sie auf eigens installiertem, glänzend weissem Boden schwarze Glasvögel und -pfützen. Das Bild ölverschmierter, verendender Tiere ist illustrativ und überdeutlich. Aus der Erfahrungswelt der Künstlerin stammend, soll es als unmissverständlicher Weckruf verstanden werden. Dabei muss dahin gestellt bleiben, wieviel Erdöl in der gesamten Ausstellungsproduktion steckt.

→ ‹Monira Al Qadiri. Mutant Passages›, Kunsthaus Bregenz, bis 2.7.
↗ www.kunsthaus-bregenz.at

Jiajia Zhang – Mein Content – dein Content

Jiajia Zhang zeigt im Kunstmuseum St.Gallen ihre erste museale Einzelausstellung. Scharfsinnig analysiert die Künstlerin die ambivalente Raumsituation des Hauses und führt sie thematisch mit der eigenen Arbeit zusammen: Ihre Videos, Installationen und Objekte befassen sich mit den schwindenden Grenzen zwischen privat und öffentlich unter dem Einfluss der Digitalisierung.

St. Gallen — Kunsträume, die nicht als solche gebaut worden sind, gibt es viele: von Fabrikhallen bis zu Ladengeschäften, von Banken bis zu Bahnhöfen. Das Kunstmuseum St.Gallen wurde als eben solches erbaut, das Untergeschoss jedoch entstand 1983 als räumliche Erweiterung für das Naturmuseum im selben Haus. Damals wurde eine breite, abfallende Rampe ins neoklassizistische Gebäude gebrochen, um den Zugang zum Untergeschoss möglichst offen und niederschwellig zu gestalten. Das Foyer – selbst eine Zwischenzone, ein Durchgangsort – wurde gleichsam in das Untergeschoss hinein verlängert und führte direkt in die naturhistorischen Sammlungen. Seit fast sieben Jahren und bis zum geplanten Umbau nutzt das Kunstmuseum die postmodernen Räume. Das gelingt überraschend gut, aber noch nie so perfekt wie in der aktuellen Ausstellung von Jiajia Zhang. Die 1981 in China geborene Künstlerin lebte zehn Jahre in St.Gallen und kehrt jetzt für ihre erste museale Einzelausstellung dorthin zurück. Kürzlich war sie für sieben Monate in der Residenz des Istituto Svizzero in Mailand und hat ihre dortigen Recherchen in die Ausstellung integriert. Das Leitthema ist die Entgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre. Das Phänomen manifestiert sich sowohl physisch als auch medial und die Schnittstellen sind allerorten zu sehen. Jiajia Zhang hat sie in Mailand auf dem Domplatz ebenso untersucht wie in gängigen Social-Media-Kanälen und transferiert auch ihre Forschungsergebnisse in vielfältige Ausdrucksformen. Sie bilden dennoch in der Ausstellung eine starke Einheit. Das liegt nicht zuletzt an Zhangs gekonntem Umgang mit dem Raum: «Das Untergeschoss ist spezifisch. So führt die Rampe nicht in einen Raum, sondern in einen Raumkomplex, ein Raumgefüge. Es ist verwandt mit den Arkaden und Galerien in Mailand, also mit undefinierten Räumen, in denen Häusliches und Städtisches gleichzeitig stattfindet.» Diesen Aspekt verdeutlicht Zhang, die vor ihrem Kunststudium an der ZHdK an der ETH Architektur studierte, bereits auf der Rampe. Diese ist mit Granitplatten ausgestattet und damit dem Aussenbereich näher als einem Ausstellungssaal. Die Künstlerin platziert genau hier ein Zeichen für einen Innenraum: Michael E. Smiths mauvefarbene Loungesessel ‹Untitled, 2018› aus der hauseigenen Sammlung provozieren in diesem Durchgang ein Innehalten.

Innen und Aussen verschränken sich

In der Sichtachse der Rampe hängt hingegen ein Element des Aussenraumes: ‹Fenster (Script)›, 2023, von Jiajia Zhang ist die Nachbildung eines Schaufensters. Dort, wo üblicherweise die Öffnungszeiten stehen, referieren Zeitnotationen auf einen Säuglingsrhythmus: Die Künstlerin ist vor vier Monaten Mutter geworden. Mit diesen intimen Angaben wie auch mit dem geschlossenen Lamellenvorhang im Inneren der Vitrine verschränken sich einmal mehr Privates und Öffentliches.
Jiajia Zhang hatte für ihre Ausstellung freien Zugriff auf die Sammlung des Kunstmuseums. Neben Werken von Michael E. Smith sind in unmittelbarer Nähe zum Schaufenster die ‹Awnings›, 2000 von Rita McBride zu sehen. In einem kleineren Raum verweisen die ‹Elite Shopping Bags›, 1997 von Sylvie Fleury und ein ‹Schachtelkörper› des St.Galler Künstlers David Bürkler auf Haul-Videos. In ihnen stellen Menschen soeben gekaufte Produkte vor: Die im öffentlichen Raum erworbenen Konsumartikel werden im privaten Rahmen ausgepackt und gefilmt, um sie dann wieder im halböffentlichen Raum der Internet-Videoportale zu präsentieren: «In diesen Videos gibt es eine komplexe Schnittstelle zwischen privat und öffentlich: Man schaut die Filme für sich, mal zu Hause, mal im öffentlichen Raum. Der Pool der Filme ist sehr öffentlich, aber die Inhalte wiederum privat und intim: Dreissig Millionen Menschen schauen, was jemand daheim tut.»

Die grosse Schar der Influencer

So wird heute «Content» produziert. Privatpersonen, denen längst ein Massenpublikum folgt, die sich aber weiterhin als privat agierende Menschen darstellen, kreieren Inhalte. Andere konsumieren diesen «Content», verbreiten ihn weiter und reizen zu neuer Produktion. Diese Wechselwirkungen analysiert Zhang insbesondere in ihren Videocollagen. ‹Social Gifts›, 2023 entstand in Mailand und reiht Sequenzen aneinander: Menschen produzieren sich für andere. Sie posieren einzeln, miteinander, stehend, auf den Bodenplatten des Domplatzes liegend, zeigen ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihre Taschen. Nie nimmt Zhang die Gesichter ins Bild, ebenso wenig die Architektur. Viel wichtiger ist die Stadt als Bühne, ihr Licht und ihre urbane Atmosphäre. Diesem Treiben hinterlegt die Künstlerin eine Lesung von Gertrude Steins Text ‹Was sind Meisterwerke und warum gibt es so wenige davon?› und spiegelt ihn mit der Frage ‹Was sind Influencer und warum gibt es so viele davon?›. Damit trifft Einzigartigkeit auf Menge und Authentizität auf Inszenierung: «Ich beobachtete, wie sich die Menschen verhalten, wie sie sich zur Schau stellen. Der Dom als Meisterwerk bleibt im Hintergrund. Man sieht ihn nie. Das ist die Gegenthese zum Text: Das Meisterwerk kann nicht regiert werden, sondern nur die Kleidung und Gestik.»

Ein sehr lautes Flüstern

Das Meisterwerk steht für sich selbst, aber, so fragt Zhang, «wie frei sind die Influencer sich selbst gegenüber, da sie immer ein Publikum mitdenken müssen?» Sie wollen beeinflussen, beeindrucken, fesseln. Sie brauchen eine Fangemeinde, Klicks und Likes. Das potentielle Publikum soll sich involviert fühlen und dabei bleiben, deshalb muss einerseits in hoher Frequenz agiert werden, andererseits kommt es auf die Inhalte an: Vermeintlich Privates ist einzigartig und berührend. Dahinter steht das Versprechen von Authentizität, Vertrauen und Nähe. Je persönlicher, intimer die Präsentation, desto grösser die Aufmerksamkeit. Dieses Paradoxon ist besonders augenfällig in den sogenannten sozialen Medien, funktioniert aber auch im realen Raum und wird von Jiajia Zhang treffend in Installationen übersetzt: So lädt ein mit Münzen gefüllter Metalltrog dazu ein, weitere Münzen hineinzuwerfen wie in die als Wunschbrunnen verklärte Fontana di Trevi in Rom. Das Geräusch des Auftreffens wird dabei verstärkt zu einem lauten Ton. Jiajia Zhang spielt damit auf private Rituale auf öffentlichen Plätzen an: «Was man flüstert, bekommt hier Präsenz. Zudem gibt es neue Beziehungen von Dingen, in diesem Fall von Münzen. Damit trägt ein sehr privater Wunsch zu einem öffentlichen Bild bei.» Das gilt auch für die Vorhängeschlösser, die von Paaren an Geländern berühmter Brücken befestigt werden: Ab mit dem Schlüssel in den Fluss, auf dass die Verbindung ewig halte. Der intime Wunsch und sein massenhafter Ausdruck im Stadtraum führte bereits zu Geländereinstürzen. Jiajia Zhang montiert fünf einzelne Vorhängeschlösser in die Passage des Untergeschosses. Es sind handelsübliche Schlösser, die eigens für Liebespaare hergestellt worden sind, sie haben die Form zweier miteinander verbundener Herzen. Die eingravierten Buchstaben sind allerdings keine Initialen, sondern erste Babylaute. Die Künstlerin bezieht sich damit auf Sprache als eine sehr abstrakte Ausdrucksform; abstrakt wie ein Liebesschwur, so abstrakt, so dass ein Schloss zusätzlich kund tun muss, was Worte versprochen haben. «You Left Something Behind» – das Schloss bleibt zurück. Wem es gehörte, wissen einzig die, die es aufgehängt haben. Aber der Ausstellungstitel schlägt einen viel grösseren Bogen: «You Left Something Behind» erinnert die Shopping-Plattform, wenn Konsumartikel im digitalen Warenkorb zurück gelassen wurden. Doch die Spuren in der Online-Datenwelt sind viel umfangreicher als die Information über nicht gekaufte Stücke. Diese Verflechtungen, die Wechselwirkungen zwischen Bilder- und Videokonsum und deren Produktion, die Abhängigkeiten und Verlockungen visualisiert Jiajia Zhang

Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 17. April 2023.

→ ‹Jiajia Zhang – You Left Something Behind›, Kunstmuseum St.Gallen, bis 27.8.
↗ www.kunstmuseumsg.ch

Jiajia Zhang (*1981 in Hefei, China), lebt in Zürich.
2001–2007 Studium der Architektur, ETH Zürich
2007–2008 International Center of Photography, New York
2020 Master of Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Auszeichnungen
2022 Swiss Art Award
2022 Shizuko Yoshikawa Advancement Award for Young Woman Artists

Einzelausstellungen:

2021 ‹If Every Day Were a Holiday, Towns Would Be More Mysterious›, Coalmine Kunsthaus Zürich
2020 ‹Follow You Follow Me›, Cherish Genf im Haus Wien
2015 ‹Trying to be here›, Architektur Forum Ostschweiz, St.Gallen

Gruppenausstellungen (Auswahl):
2022 ‹Kino›, Fluentum, Berlin
2022 ‹La réforme de Pooky›, Friart, Fribourg
2021 Werkschau, Museum Haus Konstruktiv, Zürich
2020 ‹Summer of Suspense›, Kunsthalle Zürich
2018 ‹Heimspiel›, Kunst Halle Sankt Gallen
2016 ‹Der Horizont ist klar›, Nextex, St.Gallen