Felix Lehner – Synthese von Denken und Tun
by Kristin Schmidt
Felix Lehner erhält den Prix Meret Oppenheim 2025. Der Kunstgiesser hat in St.Gallen im Sittertal ein internationales Zentrum für Kunst und Produktion entwickelt. Dazu gehören die Kunstgiesserei St.Gallen, die Stiftung Sitterwerk und das Kesselhaus Josephsohn. Der Preis wird zum 25. Mal verliehen. Die beiden anderen in diesem Jahr Ausgezeichneten sind Pamela Rosenkranz und Miroslav Šik.
Kristin Schmidt: Die Anfänge der Kunstgiesserei reichen über vierzig Jahre zurück und wurden schon oft beschrieben: Du hast mit einer kleinen Giesserei in Beinwil am See begonnen, gemeinsam mit einem Freund, daraus ist ein Betrieb mit 80 Fachleuten in St. Gallen und einer Werkstatt in Shanghai gewachsen.
Felix Lehner: Die Anfänge reichen noch etwas weiter zurück. Inspiriert durch Jürg Hassler’s Dokumentarfilm «Josephsohn – Stein des Anstoss» von 1977 organisierten Andrea Spychiger und ich 1981 in St. Gallen eine kleine Josephsohn-Ausstellung und eine Präsentation seiner neu erschienenen Monografie. Im Hof der Buchhandlung, wo ich zuvor eine Lehre gemacht hatte, half ich beim Aufbau der Skulpturen. Josephsohn übernachtete bei uns in der WG, ich war zwanzig Jahre alt, er sechzig. Ich arbeitete damals schon als Hilfsarbeiter in einer kleinen Kunstgiesserei in Bischofszell und erzählte ihm von meinem Traum, eine eigene Giesserei zu gründen. Etwas ungläubig lud er mich in sein Atelier in Zürich ein, wenn ich soweit sei. So war dann einige Jahre später der erste Guss in der eigenen Werkstatt ein kleines Relief von Josephsohn. Zwölf Abgüsse musste ich giessen, bis einer wirklich gut war. So hat eine lange Zusammenarbeit und Freundschaft begonnen, die für die Entwicklung der Kunstgiesserei immer sehr wichtig war.
KS: Wie hat das Werk von Hans Josephsohn Deine Arbeit geprägt?
FL: Josephsohn war nicht so sehr an der Technik interessiert, sein Interesse für ein Werk kam ganz vom Schauen her: Stimmen die Volumen und Masse? Wie entsteht in einem an und für sich toten Material eine Intensität durch die Form, die Leben erzeugt – optisch und in der Materie? Dieser radikale Blick und Anspruch des Künstlers war extrem lehrreich für mich. Mitunter sind es Nuancen, die den besonderen Guss ausmachen. Als Kunstgiesser begibt man sich schnell in Gefahr, Fehlstellen, die es bei jedem Guss geben kann, überdecken zu wollen. Bei diesen Entscheidungen braucht es ein Gegenüber und einen Austausch mit grossem Vertrauen – so wie bei Josephsohn. Über Monate und manchmal Jahre hat er im Gips um diese Intensität gerungen, bis es für ihn gestimmt hat und er sich zum Giessen entschloss. Durch die Transformation in Metall bekommt die Arbeit dann nochmals eine andere Qualität.
Josephsohn war beim Giessen nie dabei, das war ihm zu gefährlich und zu aufregend. Er wusste, wann wir giessen, und rief mich gleich am nächsten Morgen an, um nachzufragen, wie es gegangen ist. Damit meinte er nicht, ob der Guss technisch geglückt ist, sondern ob das Kunstwerk, die Skulptur gut ist. Es ging nicht um technische Perfektion, sondern darum, wann es richtig ist für ihn als Künstler. Wenn man Josephsohn dazu befragte, meinte er, «Ein gutes Kunstwerk ist nicht zwingend ein fehlerfreies Werk».
KS: In der Kunstgiesserei arbeiten Du und Dein ganzes Team sehr eng mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Wie gelingt diese Nähe?
FL: Für viele der Künstlerinnen und Künstler entspricht die Arbeit bei uns einer erweiterten Ateliersituation. Hier können sie suchen, ausprobieren, Unsicherheiten zulassen. Wenn dies gelingt stellt sich eine grosse Intimität ein. Da geht es darum, die Dinge ernst zu nehmen und zugleich offen zu bleiben. Die Kunstgiesserei wird dann zu einem Organismus, in dem Experimentieren, Ausprobieren, Entdecken aber auch Scheitern möglich ist. Derzeit ist beispielsweise Ida Ekblad bei uns. Sie hat für ihre Arbeit mit Vielen aus unserem Team quer durch unsere Werkstätten der Kunstgiesserei zu tun. Sie alle sind Teil eines grossen Ganzen und tragen den Geist der Kunstgiesserei mit: die Offenheit, die Sorgfalt, die Qualität, den Respekt. Alles ist von diesem Klima durchdrungen – wie gearbeitet wird, wie gekocht wird, wie der Austausch miteinander gepflegt wird, wie die Gastateliers gestaltet sind.
KS: Die Gastateliers gehören mit der Bibliothek und dem dem Werkstoffarchiv zur Stiftung Sitterwerk. Was war Deine Motivation, die Stiftung mitzubegründen?
FL: Die geistige und künstlerische Auseinandersetzung nahe an der Materie und am Handwerk hat mich immer interessiert, nicht das Trennen und Ausschliessen, sondern die Synthese von Denken und Tun. Schon in den Anfängen mit den allgegenwärtigen technischen Schwierigkeiten in der kleinen Werkstatt in Beinwil hatte ich das Bedürfnis, andere Giessereien zu sehen. Jede Reise war damit verbunden, Werkstätten in ganz Europa zu besuchen. Das war für mich als Autodidakt immer sehr anregend. Zudem habe ich regelmässig Kongresse zu antiken Bronzen besucht und dort Fachleute kennengelernt. So aufregend! Materialforschung und -analyse, Naturwissenschaft in Kombination mit Artefakten, Kunstwerken. Und ich habe Bücher studiert und gesammelt. Sie sind gemeinsam mit Materialmustern oft die Grundlage eines Künstlerateliers; sie sind die Erweiterung des Werkstattbegriffs – aus diesem Gedanken heraus haben wir die Stiftung Sitterwerk gegründet. Eingeladene Künstlerinnen und Künstler können hier auf Wissen unmittelbar zugreifen ohne Erwartungen von Aussen. Hier wirken Produktion und Forschung, das Bewusstsein um die Geschichte und die Neugier auf Neues zusammen.
KS: Auch die Kunstgiesserei hat sich stets weiterentwickelt, sie ist inzwischen viel mehr als eine klassische Metallgiesserei. Ihr arbeitet mit Glas, Keramik, Kunststoffen, Robotik und Zucker.
FL: Glas, Keramik und Metall sind verwandt. Kultur- und technikgeschichtlich wurde alles in den gleichen Werkstätten entwickelt und bearbeitet. So sind die Metallurgie und Alchemie im Umfeld der Keramik entstanden: Ein Keramikofen ist einem Wachsausschmelzofen nicht unähnlich.
Für uns begann die Erweiterung vom Metallguss zum Glas mit der Skulptur «La Spirale» von Meret Oppenheim. Das Modell für den Brunnen in Basel war eine kleine Edition aus den 1970er Jahren. An ihr waren rote und blaue Gläser beweglich mit kleinen Stiften befestigt. Hätten wir bei der dreieinhalb Meter hohen Messingplastik einfach farbige Gläser eingeklebt, hätten sie wie Mosaiksteine ausgesehen. Deshalb haben wir eine Art Kardanaufhängung mit Gegengewichten entwickelt. Jetzt können sich die Gläser in alle Richtungen leicht bewegen. Durch die Bewegung im Wind gibt es kaum merkliche Veränderungen der Reflexionen. Für uns war schnell klar, wir wollen nicht nur die Aufhängung konstruieren, sondern auch die Gläser selbst giessen. Das war der erste Schritt zu einer Glaswerkstatt.
KS: Auch für Pierre Huyghe werdet Ihr immer wieder zu Erfinderinnen und Erfindern.
FL: Für Pierre Huyghe haben wir während der Pandemie Objekte aus Zucker, Bronze und Mikroorganismen entwickelt. Wir haben organische Materialien gesucht, die sich im Laufe der Zeit verändern: Gelatine, Schellack, Agar Agar, Harze, Kolophonium, Pigmente. Mit diesen organischen Stoffen wollte der Künstler Gehirnaktivitäten nachbilden, die immer nur einen Moment lang existieren und sich im ganzen Universum auf diese Weise niemals wiederholen werden. Pierre ist kein Bildhauer, er braucht viele Muster, um denken und weiterarbeiten zu können. Die Pakete gingen hin und her zwischen uns und seinem Atelier in Santiago de Chile. Und mit grossem Vergnügen und Konzentration wurden sie dann in Zoom-Sitzungen mit Pierre und dem Werkstattteam besprochen. Das war ein ungewöhnlicher, fruchtbarer Dialog. Pierre hat oft die schönsten Stücke, in die wir uns verliebt hatten, weggelassen. Schliesslich muss es für ihn und sein künstlerisches Gespür stimmen.
Das ist genauso wie bei Katharina Fritsch und ihrem Ringen um den richtigen Farbton für den «Hahn», 2013 für den Trafalgar Square in London. Am Schluss standen sechzehn sehr ähnliche Farbmuster zur Auswahl. Die allermeisten Menschen sehen diese kleinen Unterschiede vermutlich nicht, jeder der Farbtöne ist toll! Aber die Künstlerin hat den Anspruch, es mit ihrem Gefühl kompromisslos abzugleichen. Ich glaube, nicht die Entscheidung für den absoluten Farbton macht das Kunstwerk aus, sondern diese radikale Intention der Künstlerin dahinter. Diese Unbedingtheit liegt bei allen Künstlerinnen und Künstlern an einem anderen Ort. Jede Person ist wichtig hinter ihrem Kunstwerk.
KS: Nicht immer kennt Ihr die Person schon, wenn Ihr Euch für eine Zusammenarbeit entscheidet.
FL: Mit Precious Okoyomon haben wir vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal zusammengearbeitet. Precious wollte in einer Garteninstallation im Retiro Park in Madrid ein bewegliches Mischwesen integrieren mit einer Anmutung zwischen Mensch und Schaf und einem lebendigem Blick. Vor Weihnachten kam die Anfrage, ob wir die Figur bis Februar fertigstellen könnten. Nur sieben Wochen Produktionszeit für eine hochkomplexe und robotergesteuerte Figur! Trotz aller Unwägbarkeiten haben wir entschieden: Wir versuchen es! Wir bestellten in China eine supernaturalistische Sexdoll aus Silikon mit eingebauter Mechanik. Sie kam Mitte Januar an, wir hatten also nur drei Wochen Zeit, um die Figur zu operieren, Fell wachsen zu lassen und sie zum Leben zu erwecken. Parallel haben wir das Stickereikleid, die Hufe, die Augenmechanik und die Steuerung vorbereitet. So ist aus der abgründigen Pornopuppe ein magisches Wesen entstanden. Unter so grossem Zeit- und finanziellem Druck funktionieren die Dinge nur, wenn die Grundkonstellation stimmt und eine positive Energie fliesst. Es geht immer darum, das Optimum zu erreichen, aber noch wichtiger sind Vertrauen und Verbindlichkeit. Beides macht den Unterschied.
Felix Lehner ist 1960 in St. Gallen geboren und aufgewachsen. Nach der Lehre als Buchhändler arbeitet er bis 1982 in der Kunstgiesserei Zollinger in Bischofszell. 1983 eröffnet er in Beinwil am See eine eigene Kunstgiesserei, die er 1994 nach St.Gallen in die Hallen der ehemaligen Färberei im Sittertal zügelt. 2012 kommt das Partnerunternehmen in Shanghai hinzu. 2006 gründet Lehner mit Daniel Rohner und Hans Jörg Schmid die Stiftung Sitterwerk. 2017 erhält er den Kunstpreis des Kantons St.Gallen und 2018 den Kulturpreis der Stadt St. Gallen.