Durch Bilder reisen

by Kristin Schmidt

Yves Netzhammer hat seinen ersten Langfilm realisiert. Der in Diessenhofen aufgewachsene Künstler thematisiert die Natur der menschlichen Beziehungen und betont die Künstlichkeit digital erzeugter Bilder, statt sie in detailreichen Imitationen verschwinden zu lassen.

Menschen ohne Gesicht, Geschlecht und Kleidung, Haut ohne Falten, Tiere ohne Fell: Der Künstler Yves Netzhammer verzichtet auf alles, was lebendigen Wesen ein einzigartiges Aussehen verleiht – in seinen Videos und Videoinstallationen ebenso wie in seinem ersten Langfilm «Reise der Schatten». Der von der Kulturförderung des Kantons Thurgau mitfinanzierte Film kommt am 16. Januar in die Kinos und ist ein grosses künstlerisches und filmisches Abenteuer. 
Künstler, die sich in die Filmwelt begeben, hat es zwar vereinzelt bereits gegeben, aber sie sind noch immer Exoten. Das liegt einerseits an den personellen und technischen Ressourcen, die ein Langfilm erfordert, andererseits aber auch an der inhaltlichen Struktur. Langfilme erzählen zumeist lineare Geschichten. In Netzhammers künstlerischen Videos hingehen fügen sich Einzelsequenzen aneinander. Verbunden sind sie durch die starke, einzigartige Bildsprache Netzhammers. Die gesichts- und geschlechtslosen Wesen agieren in symbolischen, abstrakten Räumen. Alles ist auf die Grundform reduziert: Geometrie statt Detail, Farbflächen statt Naturalismus. 
Funktioniert dies auch auf der Kinoleinwand und für ein Filmpublikum? Durchaus! Denn Netzhammer versucht nicht, mit computeranimierten Filmen um Naturnähe oder perfekt imitierte Realität zu konkurrieren. Stattdessen bleibt er seinem eigenständigen künstlerischen Ausdruck treu. Zudem ist sein Film ist nie vorhersehbar, jede Wendung ist möglich, nicht nur technisch, sondern auch gedanklich. Ein Nachen wird zu einer Kammer und wieder zum Boot. Die Sonne multipliziert sich, wird zum Kreis und wieder zur Sonne, dann zur Scheibe, die sich schliesslich als Himmel entpuppt. Ein Blutstropfen wird zur Drohne, ein Stacheldraht zu einer Ranke und wieder zum Stacheldraht. Metamorphosen sind in alle Richtungen möglich. Bildelemente mutieren, Szenen folgen rasch aufeinander, gegenständliche Elemente verwandeln sich in abstrakte Räume oder konkrete Landschaftsausschnitte, die anschliessend in sich zusammenklappen. Schnell kann aus einer Idylle ein Schockmoment werden.
Netzhammers Figur folgt einer Spur, oder wie es der Künstler beschreibt: «Sie versucht immer wieder, sich an ein Gegenüber heranzutasten und Beziehungen einzugehen, scheitert jedoch eins ums andere Mal». Es wird geschnitten, geritzt, zertrennt, gestorben, amputiert, penetriert. Mensch und Mensch oder Mensch und Affe begegnen einander mal auf Augenhöhe, als Gefährten, dann jedoch hilfsbedürftig und in deutlicher Rangordnung. Sie verlieren sich, finden sich wieder, das Drama beginnt von vorn. Das wird jedoch nie langweilig. Einerseits weil Netzhammer virtuos mit seinem künstlerischen Vokabular spielt und sich selten die nächste Verwandlung erahnen lässt. Andererseits berührt der Film nicht nur grundlegende existentielle Themen, sondern setzt sich auch mit hochaktuellen Fragestellungen auseinander: Welche Macht hat die Technik, wie bestimmt sie unser Leben? Drohnen beispielsweise sind im Film allgegenwärtig und lassen Mensch und Tier zu fremdgesteuerten Werkzeugen werden. Im Kontrast dazu bieten klassische, in der Kunstgeschichte oft genutzte Elemente Halt: Buch, Kerze und Spiegel leiten und heilen.
Netzhammers assoziative, traumhafte Erzählung entfaltet einen grossen Sog. Das liegt auch an der Musik von Anthony Pateras. Sie begleitet die Figuren massvoll und stimmig. Abgesehen von dieser Zusammenarbeit hat Netzhammers seinen Film in mehrjähriger Arbeit jedoch allein konzipiert, gestaltet und mit der Rechenleistung von 14 Computern realisiert. Und die zahlreichen Festivaleinladungen geben ihm recht: Der Aufwand hat sich gelohnt, der Erstling muss kein Einzelstück bleiben.