Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Silvan Köppel: Schrott zu neuem Leben erwecken

Gelbe Bauhelme weisen den Weg. Wer sich aufmacht nach Mohren bei Reute kann den Abzweig zu Silvan Köppels Rifugium nicht verpassen. Schon der Briefkasten ist kein Standardmodell, sondern eine mit Eisenteilen bestückte Wegmarke. Nun noch in tiefen Furchen einhundert Meter abwärts und die Schrottgebilde sind übermannshoch und überall: Eine Seilbahn mit Velo hoch über den Köpfen, ein Fahnenmast mit Kranführerkabine, Spinnentiere, eine Giraffe, Fantasievögel, aber auch alltägliche Gebrauchsdinge wie ein Gartentisch, Stühle oder eben der Briefkasten sind in den vergangenen dreissig Jahren entstanden und werden weitere Nachbarstücke erhalten. Silvan Köppels Werkstatt ist Atelier und Lager zugleich. Hier ist alles der Grösse, der Art oder der Form nach geordnet und wartet darauf, eine neue Form und neues Leben zubekommen. Silvan Köppel ist gelernter Schlosser und hat seine Passion im Verwerten aussortierter Dinge gefunden: Alte Schaufelblätter werden zu Barhockersitzflächen. Ein alter Matratzenrahmen wird zum Wandbild. Ein alter Heizkörper zu den Rippen eines Tieres. Silvan Köppel achtet darauf, den Dingen ihre Präsenz zu lassen: «Ich habe es gern, wenn beispielsweise die Fahrradketten noch zu sehen sind als das Rückgrat einer Figur.» Dabei spürt er bei jedem Ausgangsmaterial das Potential: «Das Material trägt Energie in sich, oder eben nicht. Je mehr Energie drin steckt, desto besser lässt es sich wieder verarbeiten.» Das gilt für einen ausrangierten Traktorsitz ebenso wie für den Nähmaschinentisch, aber manches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert: «Heute haben viele Dinge keine Substanz mehr. So ist eine Zange aus Werkzeugstahl etwas anderes als billige Teile, die auf kurzlebigen Konsum ausgerichtet sind.» In vielen Anwendungen dominiert inzwischen der Kunststoff und vieles wird achtlos weggeworfen, auch das thematisiert Köppel: Im hinteren Teil des Geländes steht ein ausrangierter Anhänger, verwandelt in eine Unterwasserwelt voller Dinge. Sie sind verbraucht, aber sie sind noch da. Sie liegen am Meeresboden und zeugen von Achtlosigkeit. Silvan Köppel beschäftigt diese fehlende Wertschätzung: «Wie gehen wir um mit dem, was übrig bleibt, was wir hinterlassen?» Mit seinen eigenen Kreationen ist Köppel pragmatisch: Das Diorama selbst ist bereits wieder überwachsen von Brombeerranken und Gestrüpp und man ahnt es bereits: Bei Köppel darf sich die Natur die Dinge zurück holen.

Obacht Kultur, WIEDER UND WEITER, No. 48 | 2024/1

B e t t i n a S c h n e i d e r W e d e r , M a r i a T a c k m a n n : Übersehenes in neues Licht setzen

Was werfen wir weg? Was heben wir auf? Sehen wir das Weggeworfene noch? Eignet es sich für etwas? Der Umgang mit übriggebliebenen, ausgeschiedenen, nicht mehr zugehörigen Dingen ist Teil gesellschaftlicher Normen und Möglichkeiten. Aber er ist nicht unveränderlich. Der Blick auf Reste und Abfälle lässt sich schärfen und neue Wertmassstäbe werden möglich. Am besten bereits im Kindesalter. Bettina Schneider Weder aus Stein ist Theaterpädagogin und hat auf Anregung der Kulturagentin Jelena Moser mit einer Primarschulklasse den Recyclinghof in Gais erforscht: «Mit den Kindern haben wir untersucht, wie Dinge tönen, die weggeworfen wurden. Wir haben die Schönheit von Rost angesehen. Wir haben die Gerüche analysiert: Was empfinden wir als angenehm und was nicht? Es geht bei dieser Arbeit um eine andere Art von Aufmerksamkeit.» Inhaltlicher Ausgangspunkt waren «Die Olchies» von Kinderbuchautor Erhard Dietl: «Sie leben auf dem Müll und finden gut, was wir eklig finden. Dank dieser Figuren konnten wir Verschiebungen üben und Prägungen hinterfragen: Riecht beispielsweise ein Flaschencontainer wirklich eklig? Es geht darum, Glaubenssätze zu hinterfragen beispielsweise wie konform die Gesellschaft sein muss.» Diese Arbeit wirkt weit übers momentane Tun und die Aufführung hinaus: «Die Beschäftigung mit einem Thema ist für mich nachhaltig, wenn durch ästhetische Erfahrungen Wissen entsteht und Lernprozesse beginnen.» Das gilt auch für das Publikum und wirkt in den kleinen, oft unbeachteten Dingen: «Meine Arbeit ist nah an dem, was besteht. Ich versuche Alltägliches performativ umzusetzen. So können auch alltägliche Handlungen Schönheit entfalten.»
Die Ästhetik des Alltäglichen, des Übersehenen oder Liegengebliebenen ist auch für Maria Tackmann zentral. Die Künstlerin lebt seit drei Jahren in Wald, ist jedoch mit ihrer künstlerischen Arbeit nicht ans heimische Atelier gebunden: «Ich arbeite stets vor Ort mit dem, was mich umgibt. Ziehe ich weiter, lasse ich gefundene Dinge wieder zurück.» Nicht immer ist es leicht, etwas gehen zu lassen, auch für Maria Tackmann: «Ich bin viel unterwegs. Dinge anzuhäufen widerspricht dem. Jedoch kann es schwierig sein loszulassen, wenn Arbeit in etwas steckt. Ich versuche diese Ambivalenz in Ausstellungen zu thematisieren. Ausserdem kann man loslassen üben.» Zumal die Künstlerin darauf vertrauen kann, dass es überall Arbeitsmaterial gibt: «Ich reise oft mit Nichts an. Das ist einerseits aufregend, andererseits habe ich immer die Gewissheit, etwas zu finden. Das ist sogar in Monaco gelungen.» Maria Tackmann hat dort mit Studierenden gearbeitet und war durchaus skeptisch, was sich in dem herausgeputzten Kleinstaat überhaupt anbietet. Aber selbst dort bleiben natürliche Materialien liegen oder Abfall: «Es war erstaunlich, welch individuelle Sammlungen zusammengetragen wurden.» So eine Sammlung kann ein Ausgangspunkt sein, um persönliche Prozesse anzuregen: «Es geht darum zu sichten, zu schauen, zu entscheiden, was mit dem Gefundenen passieren kann.» Bei der Arbeit mit Kindern ist das nicht anders: «Aktuell arbeite ich mit zehn Schulkindern. Auf unseren Streifzügen finden die einen Blätter, Zweige oder Blüten, die anderen finden Müll.» Die Künstlerin greift in diese Sammlungen nicht ein: «Die Kinder beschäftigen sich selbst mit ihrer Sammlung. Sie dürfen sich von ihrem Blick lenken lassen und auswählen. Aus allem kann etwas entstehen. In Deutschland habe ich mit Kindern gearbeitet, die auch Glasscherben oder Zigarettenstummel in ihre Sammlung integriert haben.» Wichtig ist zweierlei: Es wird nicht gewertet und der Blick sollte offen bleiben.

Obacht Kultur, WIEDER UND WEITER, No. 48 | 2024/1

Serra bleibt

Ende März verstarb der Bildhauer Richard Serra. Die raumgreifenden Stahlplastiken des weltbekannten Künstlers wurden ebenso gefeiert wie abgelehnt. In der Stadt St.Gallen haben seine Werke einen festen Platz.

Richard Serra und St.Gallen – trotz anfänglicher Skepsis wurde diese Verbindung einzigartig: «In St.Gallen sind drei Arbeiten Serras aus drei verschiedenen Werkserien permanent zu sehen, das gibt es in keinem anderen Ort der Schweiz.» Roland Wäspe, von 1989 bis 2022 Direktor des Kunstmuseum St.Gallen gerät ins Schwärmen, wenn er von Richard Serras Werken in St.Gallen berichtet. Da ist erstens der «Trunk» aus Münster, der im Stadtpark seinen Platz gefunden hat. Dann sind da die beiden Stahlplatten, die im Obergeschoss des Kunstmuseums seit 35 Jahren zugleich stabil und fragil an der Wand lehnen. Ein ganz besonderes Werk schliesslich ist «Corner Pentagon»: Das schwarze Fünfeck im oberen Foyer des Kunstmuseums ist eines der sehr seltenen Wandbilder Serras. Bei der Installation aller drei Werke war Roland Wäspe dabei. Und er hat die Diskussionen zuvor erlebt: Würde der «Trunk» den Stadtpark verschandeln? Passt dieses Werk überhaupt nach St.Gallen? Würde es Max Oertlis «Gauklerbrunnen» die Schau stehlen? Die Fragen wurden ernst genommen: Es gab öffentliche Veranstaltungen, Serra reiste mehrmals nach St.Gallen, vor Ort wurde ein 1:1 Modell aufgestellt. Schliesslich konnten die Kritiker überzeugt und die Finanzierung gesichert werden. 1989, nur zwei Jahre nach der Wiedereröffnung des Museums, wurde der «Trunk» in St.Gallen aufgestellt – ausgerechnet in jenem Jahr, als Serras «Tilted Arc» in New York abgebrochen wurde. Jene knapp 37 Meter lange, geschwungene Stahlplatte auf der Federal Plaza hatte zu viel Anstoss erregt. Roland Wäspe begründet das mit der raumordnenden Kraft von Serras Kunst: «Sie hat etwas Unverrückbares. Das kann durchaus bedrohlich wirken, so als ob einem die Wände entgegenkommen.» In St.Gallen jedoch gab es Erfahrungen mit dem Störungspotential der Kunst: «Mit Serras Stahlplastiken ist es ähnlich wie bei Roman Signers Werken: Gegenüber dieser Kunst ist keine neutrale Position möglich, weil sie auch auf der physischen Ebene eindrücklich ist. Sie verlangt eine eindeutige Haltung.» Das liegt auch an der Präsenz dieser Werke im öffentlichen Raum. Serras Werke messen sich mit grosser Geste mit der Architektur. Aber sie sind auch im Museum am richtigen Platz: Dank des grossen Engagements des Sammlers Heiner E. Schmid sind im Kunstmuseum St.Gallen gleich zwei Werke Serras dauerhaft zu sehen. Das «Corner Pentagon» hat Serra 1988 vor Ort gemalt. Dafür schwärzte er imprägnierte Leinwand mit Wachskreide, montierte sie an der Wand und trug nochmals zwei Schichten des schwarzen Materials auf. Erwärmt wurde die Farbe im Foyer auf einem Bitumenkocher. Abenteuerlich für das Museum war auch die Installation von «Thelma, is that you?». Die zweimal 1,8 Tonnen schweren Platten wurden im Osttrakt an einem eigens installierten T-Träger ins Obergeschoss gezogen und dann zentimeterweise an den endgültigen Ort gebracht, dem einzigen der statisch überhaupt dafür in Frage kam. Zur Lastenverteilung waren auf dem Parkett Aluminiumplatten verlegt. Sie wurden später nochmals gebraucht: Für die Steinskulpturen von Peter Kamm anlässlich seine Ausstellung zum Manor-Kunstpreis. Das ist laut Roland Wäspe kein Zufall: «Auch Kamm ist ein Ur-Plastiker, der an der schieren Physis interessiert ist.» So passt es gut, dass wenige Meter von Serras «Trunk» ein Stein von Peter Kamm seinen Platz gefunden hat. Aber auch die Serra-Geschichte in St.Gallen ist weitergegangen: Mit dem Ankauf der Sammlung Ricke kamen weitere Werke ins Haus. St.Gallen wird also auch nach dem Tod des Künstlers fest mit seinem Werk verbunden bleiben.

Facettenreiches Schwarz

Winterthur — Schwarz ist eine Farbe. Schwarz ist keine Farbe, sondern die Abwesenheit des Lichts. Schwarz ist – im Gegenteil – das Licht selbst. Letzteres war das Diktum des Franzosen Pierre Soulages. Für ihn war Schwarz die aktivste Farbe überhaupt, weil sie alle anderen zum Leuchten bringt. Das kann nur Schwarz. Und es kann noch viel mehr, wie die aktuelle Ausstellung im oxyd in Winterthur zeigt. Sie ist die erste Koproduktion des unabhängigen Kunstraumes mit der Künstler:innengruppe Winterthur. Elf der fast 100 Mitglieder der Gruppe sind in der Schau ‹Facettenreiches Schwarz› vertreten. Ihnen geht es um weit mehr als um die Farbdiskussion: Inhaltlich ist Schwarz das Transportmittel für die Schwere, die Leere, die Trauer, das Vergessen. Formal ermöglicht es Strenge, Konzentration und starke Kontraste. Das thematische Spektrum reicht in der Ausstellung von Gewalt über Mystik bis zum Kosmos. Es ist so breit wie die mediale Vielfalt: Klassische Holzschnitte und Kohlezeichnungen sind zu sehen, Videos und Siebdrucke, Werke aus Seilen oder harzgetränkten Sturmmasken.
Den Einstieg in die Ausstellung macht Bruno Streich mit seiner Serie ‹Nightscape›, 2019. Anlässlich der Demenzerkrankung seiner Mutter begann er altertümliche Landschaftsgemälde mit dunkler Ölfarbe zu überdecken. Die ursprünglichen Farben und Formen sind noch vorhanden, aber kaum mehr zu erkennen. Das Schwarz schliesst sie ein, undurchdringlich, unwiderruflich. Der Künstler liefert ein treffendes Bild für den Verlust der Erinnerungen und der Fähigkeit zu kommunizieren.
Die Beschränkung auf die dunkelste aller Farben lenkt den Blick auf ihren Reichtum. Beispielsweise auf die pudrige Oberfläche der Gummibänder in Katharina Henkings Arbeit ‹Bomba›, 2017 oder auf die Lichtreflexe in Gregor Frehners ‹Armada›, 2023/2024: Ein Kahn und zwölf U-Boote aus schwarz eingefärbtem Bienenwachs stehen für den politisch brisanten Migrationsweg über das Mittelmeer.
Den gelungenen Anschluss der Ausstellung setzt Theres Liechtis Videoprojektion ‹Feuer im Dach›, 2015. Vor schwarzem Hintergrund gehen archetypische, weisse Papierhäuser in Flammen auf. Die Kirche, das Einfamilienhaus, der Wohnblock – langsam verbrennen sie und stehen dank dem Loop wieder unversehrt da. Diese Bilder sind ebenso einfach wie ausdrucksstark. Form und Inhalt bilden eine Einheit. Schwarz sind der Hintergrund und die Asche, schwarz das Drama und das Nichts – bis zum Neuanfang.

Pflanzen unterwegs

Pflanzen liefern medizinische Wirkstoffe, Nahrung, Baumaterialien, Textilfasern, Farben – die Liste ist noch deutlich länger. Benoît Billotte nutzt die Pflanzen für seine künstlerische Arbeit und stellt sie auch inhaltlich in den Mittelpunkt. Für das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil hat der Künstler eigens neue Werke entwickelt.

Pflanzen bereisen die Welt. Das Einjährige Berufkraut ist von Nordamerika aus in die Schweiz gekommen und hier auf die Schwarze Liste der invasiven Neophyten. Die Haargurke ebenso, allerdings hat sie noch einen Zwischenschritt in Südeuropa eingelegt. Die Chinesische Hanfpalme hat von Asien aus auf den Weg in diese Liste gemacht. Und der Lästige Schwimmfarn aus Südamerika hat es sogar unter die Top 100 der «World’s Worst Invasive Alien Species» geschafft.
Lästig oder nicht, die Pflanzen sind mobil. Der Mensch und seine Lust am Exotischen hat viel damit zu tun. Benoît Billotte untersucht diese Wechselbeziehungen: Wie nutzen wir die Pflanzen? Wie nutzen sie uns? Und was hat das Reisen damit zu tun? Der in Genf und im französischen Metz lebende Künstler ist fasziniert von alten See- und Landkarten einerseits und der Vielfalt der pflanzlichen Verwendungszwecke andererseits. Im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil bringt er beides auf sehenswerte Weise zusammen. Die Ausstellung ist als Reise zu Wasser und zu Lande angelegt und beginnt im Wurzelbereich der Pflanzen: Über die Flügel der gläsernen Eingangstür des Kunsthauses zieht sich ein Wurzelgeflecht, gezeichnet aus Sand. Das Motiv hat Billotte dem Wurzelatlas von Lore Kutschera und Erwin Lichtenegger aus den 1960er Jahren entlehnt. Das Buch versammelt Zeichnungen von Wurzeln, zweidimensional aufgefächert bis in ihre kleinsten Verästelungen. Billotte hat den Sand mit Plakatleim auf den Scheiben befestigt. Lange halten wird er nicht, aber das gehört zum Konzept des Künstlers: «Meine Arbeit thematisiert die Zeit und die Endlichkeit. Damit entspricht sie uns Menschen. Ich will keine Werke mit Ewigkeitsanspruch kreieren.» Stattdessen setzt Billotte auf vergängliche Materialien. Baumwollstoffe färbt er mit Pflanzensäften. Als Bildgrund verwendet er Bambus-, Bananen oder Lotusblätter. Sie sind beispielsweise erhältlich in asiatischen Lebensmittelläden und werden dort als Essgefässe angeboten: «Ich schätze die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Blätter. Sie werden als Geschirr, als Kochbehältnis und zur Aufbewahrung genutzt.» Billotte bedruckt diese Blätter beispielsweise mit Bildern von Porzellantellern, die wiederum mit Pflanzenmotiven bemalt sind. Oft wurden für solche Dekorationen exotisch anmutende Pflanzen gewählt – für Billotte ein wichtiger inhaltlicher Ansatz. Er untersucht, welches Prestige sich mit diesen Pflanzen verband, welche Aussagen sie transportieren sollten und welcher Aufwand dafür betrieben wurde. Sein Wissen hat der Künstler sich unter anderem in Atelieraufenthalten angeeignet. So hat er im Botanischen Garten in Genf gearbeitet und wohnte auf einer Bananenplantage in Mexiko. Dort gab es wenig Arbeitsmaterialien, also experimentierte Billotte mit Pflanzenfarben.
Auch für dreidimensionale Kunst eignet sich pflanzliches Material gut: Geflochtene Bambusstrukturen, wie sie im ozeanischen Raum lange Zeit als Fischreusen genutzt wurden, setzt Billotte ein, um darauf aufmerksam zu machen, wie Kunststoff pflanzliche Materialien zurückdrängt und handwerkliches Wissen verloren geht. Im Hintergrund der Bambusobjekte leuchtet es hellblau: Die eine Stirnwand des Ausstellungssaales ist mit Kupferfarbe im unteren Drittel gestrichen – sie markiert den Horizont, die See, das Wasser. Gegenüber davon erstrahlt das obere Drittel hellblau – hier ist der wolkenlose Himmel nicht fern. Das Bindeglied sind zwei grosse Baumwolltücher, gefärbt mit Pflanzenfarben. Die Details der verschiedenen Schichten, die Übergänge und Verläufe, die Linien und Schattierungen gleichen kartografischen Werken. Mit gezeichneten Schiffen und Meeresungeheuern auf der einen und Hütten, Lasttieren und Pflanzen auf der anderen Karte thematisiert Billotte das Reisen zu Wasser und zu Lande. Konkrete Hinweise auf geografische Orte liefert er keine: «Karten werden genutzt, um sich zu finden. Ich verwende Karten, um mich zu verlieren.» Verloren gehen werden auch die Karten selbst: Die Farben werden ausbleichen, die Baumwolle wird brüchig werden – pflanzliche Materialien halten nicht ewig, aber wir können nicht auf sie verzichten.

Benoît Billotte — «It is allowed to fade out.»


Benoît Billotte ist ein Reisender. Er streift durch die Zeiten, durch die Botanik, durch Kartenmaterial, durch kulturelle Landschaften. Die auf diesen Erkundungstouren gesammelten Materialien fliessen oft unmittelbar in seine künstlerische Arbeit ein. So färbt Billotte beispielsweise Stoffe mit Pflanzen, verwendet sie als Bilduntergrund oder als Motiv. Mit feinsinnigen, fragilen Werken lenkt er den Blick auf den weiten Weg der Pflanzen um die Welt. In seiner ersten musealen Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum hat der Gebrauchswert der Pflanzen ebenso Platz wie ihre Verwendung als Dekorations- oder Prestigeobjekt.


Rapperswil — Stadtpläne, Landkarten, Atlanten – zur räumlichen Orientierung werden die analogen Medien der Kartografie kaum noch genutzt; digitale Navigationssoftware hat sie längst abgelöst. Ihren Reiz haben sie dennoch nicht verloren. Ihre Vielfalt reicht von der schnell auf der Rückseite einer Quittung hingeworfenen Wegbeschreibung über jahrhundertealte Seekarten bis zur sorgfältig von Kinderhand gezeichneten Schatzkarte. In all diesen Kartenvarianten lassen sich Informationen unterbringen, die kein Navigationsgerät liefern kann. Sie sind individuell sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Inhalt. Sie transportieren Aussagen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, fantastische Ideen oder Hinweise auf die Urheberschaft. Benoît Billotte arbeitet mit diesen verschiedenen Ebenen und Qualitäten des Kartenmaterials. Der in Metz geborene Künstler fertigt selbst neue Karten an und greift dafür auch auf bestehende zurück. Damit knüpft er ein dichtes Netz von Bezügen, in deren Zentrum die Welt der Pflanzen steht.

Kunst ohne Ewigkeitsanspruch

Bereits über die Flügel der gläsernen Eingangstür des Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zieht sich eine feingliedrige Installation: ‹Fondements›, 2024, zeigt ein Wurzelgeflecht, gezeichnet aus Sand. Das Motiv hat Billotte dem Wurzelatlas von Lore Kutschera und Erwin Lichtenegger aus den 1960er Jahren entlehnt. Das Buch versammelt Zeichnungen von Wurzeln, zweidimensional aufgefächert bis in ihre kleinsten Verästelungen. Sie lassen sich aus Sand zwar weniger feingliedrig darstellen, sind aber dank der körnigen Struktur ebenso detailreich. Zudem ist das Sandbild vergänglich. Es hält dank Plakatkleber auf der Scheibe und wird nach der Ausstellung einfach mit Wasser abgewaschen.

Billotte bekennt sich ausdrücklich zum Ephemeren: «Meine Arbeit thematisiert die Zeit und die Endlichkeit. Damit entspricht sie uns Menschen. Ich will keine Werke mit Ewigkeitsanspruch kreieren.» Dieser Verzicht auf massive, alles überdauernde Werke durchzieht die gesamte Ausstellung und verleiht ihr eine grosse Leichtigkeit. ‹Le 4ème mur›, 2024, beispielsweise ist eine zarte und doch raumbildende Installation: Der Vorhang schliesst den Treppenaufgang zum oberen Ausstellungssaal hin ab und öffnet ihn zugleich. Er ist mit Säften von Kurkuma, Genet, Reseda und Birke gefärbt und ist inspiriert von den Arbeiten Anni Albers’ (1899–1994). Die Künstlerin schuf textile Raumteiler für grosse Gebäude, ähnlich konstruiert Benoît Billotte eine Eingangssituation: «In der Ausstellung habe ich eine Reise inszeniert. Sie beginnt bereits bei der Tür im Erdgeschoss mit dem Wurzelbereich. Oben folgt der Überraschungsmoment eines Vorhanges: Nach dem Durchschreiten ist eine Entscheidung notwendig. Du musst aktiv werden und Deine Wahl treffen. Der linke Teil der Ausstellung ist dem Meeres- und Küstenleben gewidmet, der rechte Teil der Erde, den Bäumen und Blättern.»

Pflanzen als Behältnis, Farbe, Dekor

In beiden Ausstellungsteilen sind Pflanzen das Material und das Thema zugleich: «Pflanzen werden als Medizin genutzt, als Nahrung, Baustoff und als dekoratives Element. Mir liefern Pflanzen natürliche Tinte und ich schätze besonders die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten von Blättern im Nahrungszusammenhang. Sie werden eingesetzt als Geschirr, als Kochbehältnis und zur Aufbewahrung. Das gilt für Bananenblätter ebenso wie für Mais-, Lotus- und Bambusblätter.» Benoît Billotte bedruckt beispielsweise kreisrunde Ausstanzungen von Bananenblättern – erworben als pflanzliche Teller in einem Lebensmittelgeschäft – mit Reprofotografien aus der Keramiksammlung des Genfer Musée Ariana. Das jahrtausendealte Bedürfnis, Essgefässe mit pflanzlichen Motiven zu dekorieren, verbindet er mit dem Essgefäss selbst und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Mehrwert der Pflanzen. Auch diese Arbeit ist dem Verschwinden geweiht: «Die Bananenblätter zerstören sich selbst. Sie werden braun und zerfallen. Für mich ist das in Ordnung.»
Auf andere Weise werden die beiden grossen Stofflandschaften langsam verschwinden: ‹Le carrefour est le seul endroit qui existe›, 2021, und ‹Vivons la croisée des chemins›, 2021, werden im Tageslicht ausbleichen. Der Künstler hat die Baumwolltücher von Hand und mit Naturfarben gefärbt. Die Technik des pflanzlichen Färbens erlernte er während einer Residency in der Casa Proal in Mexiko vor vier Jahren: «Ich lebte dort relativ alleine auf einer Bananenfarm und musste nehmen, was vorhanden war. Alle Pflanzenfarben in der Ausstellung sind selbstgemacht. Ich habe dafür viel experimentiert mit der Menge, der Dauer und den Farbschattierungen.» Die Details der in verschiedenen Schichten gefärbten Vorhänge, die Übergänge und Verläufe, die Linien und Schattierungen gleichen Landschaften und Territorien. Hinzu kommen Federstiftzeichnungen. Hier mischt Billotte Reales mit Fantastischem. Die Seekarte markieren beispielsweise Segelschiffe und Meeresungeheuer. Die Landkarte kennzeichnen ein Dromedar, Behausungen aus Pflanzen und ein Astrolabium. Integriert sind ausserdem poetische Textschnipsel wie etwa: «Fremd uns selbst.»

Pflanzen auf Reisen

In alten Karten zeigten die Fabelwesen an, wie gefährlich eine Reise war; mit Phantominseln wurde die Route verunklärt; fremdartige Tiere betonten die Exotik. Billotte untersucht insbesondere die dank der Seefahrt überlieferten Pflanzendarstellungen: «Früher war es wichtig zu zeigen, was man von Reisen mitbrachte. Dies war auch wirtschaftlich bedeutsam und prägte die Ikonographie.» Ein von Früchten und Blüten überquellendes Füllhorn beispielsweise braucht kaum weitere Erläuterungen über Erfolg einer Unternehmung. Ausserdem zitiert der Künstler in ‹De l’abondance›, 2023 – einer Serie von Fotogravüren auf getrockneten Bambusblättern – die Abbildung eines Wardschen Kastens. Erst mithilfe dieser gewächshausähnlichen Konstruktion des englischen Botanikers und Arztes Nathaniel Bagshaw Ward (1791–1868) wurde ab 1833 der massenhafte Transport von Pflanzen aus Übersee möglich. Billotte sucht seine Materialien jedoch am liebsten vor Ort: «Während eines Atelieraufenthaltes in Genf, arbeitete ich im Botanischen Garten. Ich habe mich dort sowohl mit dem handwerklichen Nutzen der Pflanzen beschäftigt als auch mit dem wissenschaftlichen Zugang. Wie viele botanischen Institutionen hat der Botanische Garten Genf eine Bibliothek und eine Sammlung exotischer Pflanzen. Von letzterer ausgehend, habe ich mit den heimischen Pflanzen angenähert.» Für Billotte ist es wichtig, sich auf den Ausstellungsort einzulassen, das gilt für deutlich mehr Aspekte als für die Botanik. In Rapperswil beispielsweise wird das wellenförmige Dach zum Dialogpartner für Werke zur maritimen Lebenswelt. Und es gibt ein weiteres schönes Zusammentreffen: Das Kunst(Zeug)Haus beherbergt eine der grössten Robinson-Bibliotheken weltweit. Als Insel mitten im Ausstellungsraum beherbergt die Sammlung mehr als 4’000 Robinsonaden von Büchern über Zeichnungen und Puzzles bis zu Filmen. Daniel Defoe (1660–1731) bediente mit seiner Geschichte über den schiffbrüchigen Robinson Crusoe die damalige Südseeromantik, Paradies- und Reisesehnsüchte und Vorstellungen von vermeintlicher Allmacht gegenüber der Natur – Themenfelder also, die Benoît Billotte aus heutiger Sicht scharfsinnig analysiert. Eine Robinsonade inszeniert er dabei nicht, ebenso verzichtet er auf Belehrung oder Anklage. Stattdessen setzt er auf Beobachtung und Schärfung der Sinne. Er bringt Fiktives in ein austariertes Verhältnis zur Wissenschaft und Persönliches in einen weltumspannenden Zusammenhang. Billottes Reisen umspannen die Zeit, die Territorien und die Fantasie.

Die Zitate entstammen einem Gespräch mit der Künstler während des Ausstellungsaufbaus am 10. Februar im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil.

Michael E. Smith

Winterthur — Leuchtstoffröhren, quadratische Metallplatten, Holzkuben — reduzierte Materialien, Industrieprodukte, präzise platziert: Das war Minimal Art in Reinform. Fehlende Leuchtstoffröhren, ovale, geflochtene Teppiche, eine verstaubte Vitrine – Alltagssituationen, gebrauchtes, altes Zeug, präzise platziert: Das ist Michael E. Smiths Antwort. Statt geometrischer Perfektion gehen die Dinge aus dem Leim. Sie quellen auf, wackeln vor sich hin, sind dreckig. Beispielsweise der Schuhkarton: Einst ein Quader in Blau, geziert mit den bekannten, akkuraten drei Streifen; jetzt ein schiefer Körper. Aus dem Inneren wuchert Baumschaum hervor. Die Flächen wölben sich, die Geometrie löst sich auf. Darüber sechs Leuchtstoffröhren, eigentlich. Michael E. Smith hat fünf der sechs Beleuchtungselemente im Ausstellungsraum entfernt – eins muss reichen, Symmetrie war gestern.
Smith hat den Erweiterungsbau des Kunst Museum Winterthur mit wenigen Werken bestückt, diese aber reichen aus für einen Perspektivwechsel. Ausgangspunkt sind die aufmerksamen Beobachtungen des US-amerikanischen Künstlers. Was so beiläufig daher kommt, wie die Schuhschachtel oder ein mit Kunstrasen halb bedecktes Fenster, ist das Ergebnis langer und minutiöser Suche und Vorbereitung und fügt sich in eine ausgetüftelte Licht- und Soundregie. Wenn zwei Plastiktonnen tönen, wird dieses Geräusch an einem entfernten Punkt der Ausstellung wieder aufgenommen. In den Tonnen steckt je eine Zierleiste. Die Tonnen werden mit Elektromotoren zum Vibrieren gebracht, die Zierleisten wackeln. Ihre Goldoptik, die künstlich erzeugte Patina, das Material – nichts ist mehr zu erkennen, nichts davon ist mehr wichtig, die Komik regiert. Genauso wie bei den Tennisbällen, die sich in Stahltonnen drehen, ebenfalls angetrieben von Elektromotoren. Auch sie erzeugen ein Geräusch, das über den Saal hinaus tönt.
Michael E. Smith analysiert die Räume, die Gegenstände und konstruiert Beziehungen zwischen beiden, sogar über die Ausstellung hinaus. So hat er in die benachbarten Malerei-Schau «Von Gerhard Richter bis Mary Heilmann» eigene Werke eingeschleust. Und auf dem Weg durch die Dauerausstellungen zum Erweiterungsbau lohnt sich bereits ein aufmerksamer Blick für Smithsche Interventionen, noch mehr aber auf dem Rückweg, wenn die Sinne geschärft sind für seine akkurat gesetzten Bedeutungsverschiebungen.

Willkommen zurück

Die Sammlung Hahnloser ist heimgekehrt. Nach zehn Jahren Schliesszeit und einem umfassenden Umbau öffnet die Villa Flora in Winterthur wieder ihre Türen. Die Balance zwischen Erhalt der baulichen Originalsubstanz und einem musealen Betrieb ist gelungen.

Wer die Villa Flora aus früheren Zeiten kennt, wird überrascht sein. Wer Menschenmengen vor Renoir, van Gogh und Monet erwartet wie in grossen, weltweit berühmten Museen, wird ebenso überrascht sein. Wer Museumssäle erwartet, in denen das Tageslicht abgeschirmt ist und die Wege lang sind, wird staunen. Die neue Villa Flora in Winterthur ist anders. Sie ist ein Museum mit Mass – ein Museum, das der Kunst und ihren Gästen die ideale Atmosphäre bietet. Zehn Jahre lang war das Haus geschlossen und die Sammlung auf verschiedene Ausstellungsinstitutionen Europas verteilt. Nun wird es nach umfassender Restaurierung und mit einem neuen Erweiterungsbau wieder eröffnet: Die Sammlung Arthur und Hedy Hahnloser ist an ihren Heimatort zurückgekehrt.
Der Anbau wurde vom Basler Architekturbüro jessenvollenweider als Gartenpavillon gestaltet und ist das neue Foyer des Museums. Damit wurde die Ausrichtung der Villa grundlegend verändert: Die ursprüngliche Hauptfassade an der Tösstalstrasse hat ihre Empfangsfunktion an die Seitenfront des Gebäudes abgegeben. Das hatte Platz- und Sicherheitsgründe und tut dem würdigen Rahmen für alle Eintretenden keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Durchblicke in den Garten und die ersten Blicke hinauf ins Hochparterre üben einen unwiderstehlichen Sog aus. Umgebung, Anbau und Villa bilden einen stimmigen Dreiklang, der sich auch deshalb entfaltet, weil die Villa vom Staub früherer Zeiten befreit wurde. Die alten Möbelstücke, Teppiche, Vasen und der Konzertflügel wurden entfernt, die Wandbespannungen gereinigt, teilweise wurden neue Tapeten nach alten Entwürfen gedruckt. Hedy Hahnloser hätte ihre Freude. Sie hatte diese Tapeten entworfen und gemeinsam mit einem Architektenteam auch den Salon gestaltet, der damals als Meisterstück zeitgenössischer Raumkunst gefeiert wurde. Jetzt sind im Salon Gemälde von Cézanne und van Gogh ausgestellt. Beispielsweise der «Sämann» aus dem Jahre 1888. Ihm wie allen anderen ausgestellten Bildern werden die Proportionen der einst privaten Räume, ihr Licht und ihr Ambiente besonders gerecht. Auch die Nachbarschaften der Gemälde sind wohlüberlegt. In der Bibliothek haben die Zeitgenossen Renoir, Redon und Bonnard Platz gefunden. Im Grünen Zimmer, das vor der Renovierung noch nicht öffentlich zugänglich war, begegnen sich jetzt van Gogh und Toulouse-Lautrec. Damit werden hier die Wegbereiter und Vorläufer jener Künstler präsentiert, die den Schwerpunkt der Sammlung Arthur und Hedy Hahnloser bilden: Das Paar begeisterte sich für die Künstlergruppe der Nabis und für die Fauves um Henri Matisse. Diesen Künstlern ist das Obergeschoss der Villa Flora gewidmet. Einen besonders engen Austausch pflegten Hahnlosers mit Pierre Bonnard und Félix Vallotton. Beide Künstler erhalten viel Platz, aber auf monografische Räume wurde verzichtet. Wichtiger sind motivische und kunsthistorische Verwandtschaften. Ein Raum ist beispielsweise den Interieurs gewidmet, einer jenen Künstlern, die am Pariser Herbstsalon 1905 für Furore sorgten. Ein anderer Raum vereint Landschaftsszenen wie beispielsweise die Feriengesellschaften in der Normandie. Dazu passt bestens, dass immer wieder Blicke aus den Fenstern hinunter in den Garten möglich sind: In der Villa Flora hängt die Kunst nicht in dunklen Kammern, sondern tritt wie schon zu Zeiten Arthur und Hedy Hahnlosers in den Kontakt mit der Welt.

Ein Ausstellungsfenster für die Jungen

Frisch von der Kunstakademie: Das Kunstmuseum Appenzell zeigt «Plattform24». Die langjährige Ausstellungsreihe präsentiert junge Künstlerinnen und Künstlern nach ihrem Studienabschluss. Zu sehen sind vielfältige, spielerische und humorvolle Kunstwerke.

Junge Kunst, witzige Kunst, engagierte Kunst: Wer sein Studium an einer Schweizer Kunsthochschulen beendet hat, kann voller Tatendrang ins Künstlerdasein starten. Zwölf der letztjährigen Absolventinnen und Absolventen zeigen im Kunstmuseum Appenzell, was sie können. Sie sind Teil eines ebenso sinnvollen wie erfolgreichen Formats: «Plattform» präsentiert seit 18 Jahren Kunst frisch von den Akademien. Die diesjährige Ausgabe macht zum ersten Mal Halt in der Ostschweiz und hat im Kunstmuseum Appenzell den idealen architektonischen Rahmen gefunden. In jedem der zwölf nahezu gleich grossen Kabinette des Museums ist eine künstlerische Position zu sehen. Ausgewählt wurden die Werke von einem sechsköpfigen Team. Es hat die Künstlerinnen und Künstler seit ihrem Studienabschluss ein Jahr lang begleitet – ein langer, aber lohnenswerter Weg zur ersten musealen Präsentation.

Zum Auftakt Malerei

Die Ergebnisse überzeugen und spiegeln ein breites mediales Spektrum. Den Auftakt macht die Malerei. Anastasia Pavlou zeigt im ersten Ausstellungsraum ein Ensemble aus fünf Werken, die mehr sind als Bilder. Die Künstlerin malt, übermalt, schneidet Stücke der Gemälde aus, dreht sie um, verwendet bedruckte Stoffe, zeichnet auf den Malgrund oder legt ihn in Falten. Lustvoll sucht sie nach dem richtigen Moment: Wann ist der Idealzustand erreicht? Von da aus folgt der nächste Schritt: Die Anordnung im Ausstellungsraum – schliesslich gibt es für jedes Werk nur einen besten Platz. Pavlou hat ihn für ihre fünfteilige Serie gefunden. Das gilt auch für viele der anderen Beteiligten, ganz gleich ob ihre Werke installativ sind oder gemalt, skulptural oder filmisch. Ob sie mit Licht arbeiten, mit Sound oder ganz viele Modelleisenbahnschienen montieren, so wie Leevi Toija.
Der finnische Künstler hängt die Dutzende Miniaturschienen und -weichen auf Augenhöhe und mit Blick zu einem der drei grossen Fenster des Museums hin zu den nahen Gleisanlagen der Appenzeller Bahn. Hier kommt Kunst und Leben zusammen. Indem Toija Dutzende die Gleisstücke auf A4-Blättern platziert, thematisiert er Normierungen und Strukturen in der Spielzeug- und in der realen Welt. Andere Künstlerinnen und Künstler richten ihre Aufmerksamkeit auf die Mehrdeutigkeit der Dinge, auf den Umgang der Menschen mit Nutztieren oder auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Kontrolle.

Informationsflut und Traditionen

Der Genfer Yul Tomatala interessiert sich für den aktuellen Umgang mit Fotografien und künstlich generierten Bildern. Er arbeitet seit dem Studium in der Bildredaktion eines Westschweizer Medienhauses. Für die Ausstellung hat er eine grossformatige Installation entworfen, die an Plakatwände erinnert. Das Bild darauf ist in viele kleine Teile zerlegt und zeigt Stapel von Aktenordnern – ein Symbol für die Informationsflut einerseits und die daraus entstehende Erschöpfung andererseits.
Der Rundgang durch die vielseitige Ausstellung endet mit einem humorvollen Schwenk ins Appenzellerland: Marine Aebischer aus dem ländlich geprägten Teil des Kantons Freiburg erkundet die Spannung zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und Traditionen. Im Kunstmuseum Appenzell bringt sie mit einem Basslautsprecher ein Set Schellen zum Tönen und zeigt einen stark vergrösserten, transparenten Ouroboros, aber ohne die Ohrschuefe der Sennen: Neue Techniken treffen auf ländliche kulturelle Praktiken. Das ist kein Widerspruch, sondern ein vergnüglicher Kommentar zu zeitgenössischen Lebenswelten.

Was ist Malerei heute?

Wenige Meter entfernt vom Ittinger Klostergarten entfernt gibt es eine zweite Idylle: Olga Titus hat den Gewölbekeller des Kunstmuseum Thurgau in eine paradiesische Grotte verwandelt. Licht, Farben, Motive überlagen sich und fluten den Raum. Mit ihrer Installation, den Lenticulardrucken und Paillettenbildern erneuert die Künstlerin die Malerei.

Das Paradies ist im Keller. Zuhinterst im dunklen Gewölbe. Dorthin hat es sich zurückgezogen, dort hat Olga Titus es wiedererweckt. Die Künstlerin hat im Untergeschoss des Kunstmuseums Thurgau eine neue Version des Garten Eden entworfen. Während sich Meldungen über Dürren, Waldbrände, Überschwemmungen, Artensterben und invasive Neozoen aneinanderreihen, grünt und blüht es in Olga Titus´ Welt. Seen glitzern. Bäume, Farn und Berge fügen sich zu einer pittoresken, den ganzen Raum umspannenden Szenerie. Sie ist geschmückt mit Blüten, garniert mit Früchten, hie und da spriesst ein Pilz. Ein Bein streckt sich ins Bild oder ein anderes anthropomorphes Zeichen. Aber der Mensch ist hier nicht bedrohlich, seine Spuren fügen sich harmonisch ins Ganze. Die Natur ist im Gleichgewicht. Ein Idealzustand also – einer allerdings, der wie so Vieles heute nicht ohne Strom und Digitalisierung auskommt.
Olga Titus ist mit ihrer Arbeit auf der Höhe der Zeit. Sie arbeitet mit digitalen Medien, mit zeitgenössischen Drucktechniken und am Computer erzeugten Bildkonglomeraten. Ein wichtiges Element ihrer jüngeren Arbeiten sind zudem Lenticulardrucke. Die Technik selbst ist seit langem bekannt und verbreitet. Genutzt wird sie beispielsweise seit Jahrzehnten für Postkarten mit optischen Kippmomenten. Dafür wird ein Motiv gleichzeitig aus zwei oder mehreren Blickwinkeln heraus aufgenommen. Die Negative werden durch das Linsenraster belichtet, und winzige Linsen oder Prismen erzeugen einen dreidimensionalen Eindruck oder einen Wackeleffekt bei Bewegungen vor dem Bild. Dafür wurden früher analoge Fotografien verwendet. Olga Titus hingegen setzt vollständig auf digitales Material. Sie kombiniert eingescannte analoge Fundstücke, vorhandene digitale Bilder und eigens am Computer erzeugte Motive. Alles fügt sich nahtlos zueinander, Eines geht ins Andere über, die Farbenvielfalt ist ebenso gross wie das Formenvokabular. Dank des Lenticularverfahrens entstehen tiefe Bildräume aus mehreren, räumlich anmutenden Schichten. Zentimeterweise ändert sich je nach Blickwinkel die gesamte Ansicht. Am besten lässt sich im ersten Ausstellungssaal erkennen. Dort zeigt Olga Titus einzelne Lenticulardrucke. Bei jeder Bewegung vor den Bildern ändert sich der überbordende Detailreichtum des Linsenrasterbildes. In diese postergrossen Hochformate sind überdies Videoobjekte integriert, die ebenfalls dafür sorgen, dass kein Motivmoment dem anderen gleicht.
Olga Titus hat schlüssige Wege gefunden, die Malerei mit digitalen Mitteln zu erneuern. Sie selbst ist noch mit klassischer Malerei ins Kunststudium eingezogen. Inzwischen gehören zu ihren Bildexperimenten auch monumentale Formate aus Wendepailletten. Diese Technik wurde vor Jahrzehnten in St.Gallen erfunden und in der Haute Couture eingesetzt. Inzwischen hat sie den globalen Textilmarkt erobert – und wird von Olga Titus für die Kunst genutzt: Die Pailletten werden auf beiden Seiten mit ungegenständlichen Motiven bedruckt. Die Künstlerin kann mit jedem Handstreich das Bild verändern. Immer wieder aufs Neue. Nie wird ein Bildmoment dem anderen gleichen. Gestische Malerei ist hier auf dem nächsten Level angekommen.
Garniert ist diese Form der Malerei mit den Glitzereffekten der Pailletten. Es funkelt und schimmert, das Auge findet kaum Halt, immer locken der nächste Lichtreflex, die nächste fragile Schattenlinie. Vergleichen lassen sich diese wandfüllenden Textilarbeiten mit Tapisserien. Auch die spätmittelalterlichen Wandteppiche waren gefüllt mit Mustern und Formen, auch sie schufen Illusionsräume mit grosser Sogwirkung.
Zusätzlich zeigt Olga Titus neue Prägebilder aus Metall. Hier steht die Linie im Vordergrund, die Verwandtschaft zur Zeichnung ist gross – ein anderes wichtiges künstlerisches Medium für Titus. Im Obergeschoss des Ausstellungsraumes sind ausserdem fünf Videoarbeiten aus den vergangenen zehn Jahren zu sehen. Sie sind spielerisch in Inhalt und Machart. Die Künstlerin zitiert Gattungen wie Science Fiction, Telenovela, Werbung, arbeitet Kunststile und Religionskitsch ein. Sie verwebt Motive aus unterschiedlichen Quellen zu neuen Welten – hierarchielos, nicht wertend, sondern lustvoll und üppig. Damit ergibt die Ausstellung ein schlüssiges Ganzes in ihrer Fülle, ihrem frischen Blick und ihren neuen künstlerischen Ansätzen.