Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Saiten Sommertip – Andreas Wilhelm

Teufen — Die Sieben ist eine besondere Zahl. Raben, Geisslein, Todsünden – sie sind zu siebt. Aber auch in der Liebe lässt sich die Sieben finden. Das Zeughaus Teufen zählt: Hingabe, Lust, Verliebtheit, Eifersucht, Vertrauen, Trauer, Unschuld. In der aktuellen Ausstellung in Teufen geht Andreas Wilhelm diesen Essenzen der Liebe nach. Der Parfümeur hat sieben Düfte kreiert – für jedes Gefühl einen. In Teufen stehen sie im Mittelpunkt. Keine szenischen Bilder werden entworfen, keine Kunstinstallation wird drum herum gebaut. Die Gerüche haben den grossen Auftritt. Wilhelm vertraut ihnen aus Erfahrung. Der Zürcher arbeitet beim weltgrössten Hersteller von Aromen und Duftstoffen und erzählt Geschichten über die Nase. Aber er zeigt auch die profane Seite der Düfte: In einem vor Ort eingerichteten Labor lässt er sich über die Schulter schauen. Dabei wird manches Duftmysterium entzaubert, nichtsdestotrotz: Vom olfaktorischen Faszination lebt die gesamte Schau oder besser: die Nasenreise. ks

  1. Juni bis 6. Oktober 2024, www.zeughausteufen.ch

Saiten Sommertip – Karin Schwarzbek

Rapperswil — Die Financial Times und La Gazzetto dello Sport werden auf rosafarbenem Papier gedruckt. Die Heimtrikots von Inter Miami und dessen Stürmer Lionel Messi sind rosa und in Ausnüchterungszellen soll Rosa als Aggressionshemmer dienen. Rosa ist mitnichten das Gegenstück zu Babyblau. Auch nicht bei Karin Schwarzbek. Die Künstlerin hat im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil ein Fenstergitter rosa gestrichen, eine rosafarbene Slackline gespannt und kombiniert schwarze Sicherheitsgurte mit Gewichtsmanschetten in Rosa. Und alles kommt ohne rosarote Brille daher: Die Zürcherin mit Thurgauer Wurzeln beschäftigt sich intensiv und kritisch mit heutigen Ansprüchen an Körper und mit deren Manipulation durch Sport, Kleidung oder andere Utensilien. Sie verarbeitet Sicherheitswesten, Regencapes oder Badeanzüge in ihrer Kunst. Die Materialien werden gedehnt und neu zusammengenäht, versperren den Weg oder spreizen sich in den Raum. Sie werden mit Malerei kombiniert oder selbst in ein Bild verwandelt – Schwarzbek kombiniert die Auseinandersetzung mit der Kunst und dem Körper zu einem stimmigen Ganzen. ks

  1. Mai 2024 – 4. August 2024, www.kunstzeughaus.ch

Barry Le Va

Vaduz — «Einen Eindruck von Ganzheit ausschliessen und sich auf Einzelteile, Fragmente, unvollständige Handlungen und Strukturen konzentrieren.» – Diese Notiz von Barry Le Va (1941–2021) aus dem Jahr 1989 charakterisiert nahezu alle seiner dreidimensionalen Arbeiten, die derzeit im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen sind. ‹In a State of Flux› ist die erste Retrospektive nach dem Tod des US-amerikanischen Künstlers. Sie richtet das Augenmerk nicht nur auf den radikalen Bildhauer, sondern ebenso sehr auf den bedachten Denker und Planer.
Der Ausstellungsparcours beginnt mit Werken von herausfordernder Präsenz: ‹Cleaved Wall› (1969–70) besteht aus zwölf in die Wand gehauenen Metzgerbeilen. Für ‹Shots from the End of a Glass Line› (1969–70) werden fünf Revolverschüsse auf ein Stahlrohr am Ende einer Schlangenlinie aus zerbrochenem Glas abgegeben. Aus der Serie der ‹scatter pieces› aus zersplitterten Scheiben sind drei Beispiele vertreten. Barry Le Va hat mit diesen Werken die Bildhauerei an ihre Grenze geführt; er hat destruktive Momente in eine konstruktive Form überführt. Aus der Zerstörung und Streuung resultieren neue Ordnungssysteme wie Stapel, Reihen oder die variabel angeordneten ‹Distribution Pieces› aus Filzstücken und Metallkugeln. Und er hat Prozesse initiiert, die für jede Installation neu ausgeführt werden müssen – dies führte für die erste Ausstellung nach seinem Tod zu vielen Fragestellungen und intensiven Recherchen in unterschiedlichen Archiven. Briefe, Notizen und Zeichnungen des Künstlers lieferten Hinweise für die Ausführung und mehr noch: Dank der Forschungsarbeit kann bisher unentdecktes Material gezeigt werden, beispielsweise ein Film-Fragment des Videopioniers Gerry Schum mit Anweisungen von Le Va.
Der Präsentation gelingt die enge Verbindung zwischen dem Physischen und dem Konzeptuellen in Barry Le Vas Schaffen. Jedem skulpturalen Werk gehen zahlreiche Studien voraus. Der Künstler skizziert Varianten, Vorüberlegungen und räumliche Situationen. Diese Notationen werden im Kunstmuseum Liechtenstein in Nachbarschaft zu den Installationen gezeigt, jedoch ohne deren Präsenz zu beeinträchtigen: Raumgreifende Werke und Zeichnungskonvoluten folgen einander in schlüssiger Inszenierung.
Zur Ausstellung ist eine dreibändige Publikation in Arbeit unter anderem mit erst- und wiederveröffentlichten Interviews mit dem Künstler.

‹Barry Le Va – In a State of Flux›, Kunstmuseum Liechtenstein, bis 29.9. 2024, Fruitmarket, Edinburgh, 26.10.2024–2.2.2025 und Museum Kurhaus Kleve, Frühjahr 2025

kunstmuseum.li

Notiert: «Alles, was Du nicht essen kannst» im Textilmuseum

St.Gallen — Das Textilmuseum St.Gallen widmet sich aktuell dem Essen. ‹All You CanNOT Eat› ist jedoch keine klassische Präsentation von Tischwäsche im Wandel der Zeiten, von Küchentüchern, Schürzen oder Kochmützen. Das Museum geht einen neuen Weg: Im Ausstellungssaal sind dreizehn Tische gedeckt. Jeder wurde von unterschiedlichen Kollektiven und Profis aus den Bereichen Mode, Textil, Grafik, Keramik oder Kunst gestaltet; auch Studierende der Hochschule für Design, Film und Kunst in Luzern aus den Studiengängen Objekt- und Textildesign sind dabei. Ein Tisch biegt sich unter der Last von Alltagskitsch in Form von Fake-Food. Auf einem anderen türmen sich gestrickte Fantasiefrüchte. Bei einem dritten hängen die Objekte der Essbegierde in der Luft, während die Tischplatte bedrohlich in Schieflage geraten ist. Beni Bischofs Installation ‹It’s Finger Lickin’ Good› (2024) ist unter dem Tisch platziert und führt in lustvoll-gruselige Fastfoodwelten. Von eklig bis gediegen, von spartanisch bis sinnlich – die Ausstellung spielt mit den Codes und Traditionen der Tischkultur. Von der Tapete bis zum Saalheft in Form einer Menükarte ist alles durchgestaltet und liefert Denkanstösse zur Nahrungsaufnahme unter soziologischen und kulturellen Aspekten. Die Ausstellung ist Teil von ‹Esswelten›, einem Gemeinschaftsprojekt der Stiftsbibliothek St.Gallen, des Kulturmuseum St.Gallen und des Textilmuseum St.Gallen.
 
‹All You CanNOT Eat›, Textilmuseum St.Gallen, bis 13.10.
textilmuseum.ch

Nachgefragt

«Wir erleben eine Welle im autobiografischen Schreiben»: Ausserrhoder Festival blickt in die Tiefe von Autobiografien. Der Zürcher Professor für Populäre Kulturen, Alfred Messerli, gehört zu den Initianten des Festivals in Heiden. Wir haben nachgefragt, was es braucht für eine gute Autobiografie.

Beim Autobiografie Festival geht es sowohl um das autobiografische Schreiben als auch um das Interesse der Anderen daran. Welche Motivationen stecken dahinter?

Das autobiografische Schreiben hat eine lange Tradition. Bereits in der frühen Neuzeit haben Menschen grosse Leistungen, die sie tatsächlich oder angeblich vorzuweisen hatten, Revue passieren lassen. Im Pietismus beginnt dann die Autobiografie als Selbstbefragung: «Wo stehe ich? Was ist positiv verlaufen? Was hat sich negativ ausgewirkt?» Solche Autobiografien revidieren zwar nicht die Geschichtsschreibung, aber sie dokumentieren, wie historische Meilensteine erlebt werden. Seither erleben wir eine Demokratisierung des Schreibens. So wurde anlässlich der Expo.02 die Website meet-my-life.net initiiert, auf der autobiografische Aufzeichnungen geteilt werden können, zudem wurden Schnellkurse in autobiografischem Schreiben angeboten. Damit es ein literarischer Erfolg wird, braucht es allerdings Begabung und entsprechendes Handwerkszeug. Das Interesse daran ist gross, das habe ich auch in meinen Kursen im Rahmen der Seniorenuniversität gemerkt.
Die Leserschaft von Autobiografien wiederum unterscheidet sich nicht sehr von jener fiktionaler Literatur: Sie möchte Erfahrungen kennenlernen, die sie selbst nicht gemacht hat. So schrieb ein Fluglotse aus dem Appenzellerland von seiner Erkrankung an Grauem Star, literarisch verschränkte er die Erfahrung der Operation mit jener aus seiner Arbeitswelt. Diese Parallelmontage eröffnete eine neue Perspektive.

Ist das Interesse am Autobiografischen eine Altersfrage?

Bis 65 hat man wenig Zeit für Autobiografien, aber dann überschwemmen einen die Erinnerungen. Man fragt sich, «Wie bin ich zu dem Menschen geworden, der ich jetzt bin?», und möchte dies mitteilen. Oft beginnt das im familiären Kontext, beispielsweise wenn die Grosseltern ihr Leben ihren Enkelkindern erzählen. Damit aus solchen Schilderungen ein Buch entsteht, braucht es Disziplin, Zeit und Raum. Die wenigsten schreiben ihre Autobiografie wie Thomas Platter der Ältere im 16. Jahrhundert in dreissig Tagen herunter. Aus Sicht der Volkskunde wäre natürlich auch die Beschreibung eines sechzehnjährigen Lebens sehr spannend, aber die jungen Leute haben diese Zeitkapazität leider nicht.

Kann der Blick zurück den Blick nach vorn verändern?

Weil Autobiografien erst im späteren Lebenslauf geschrieben werden, ist auch die verbleibende Zukunft kleiner. So nimmt die Relevanz der Erfahrungen für die eigene Zukunft ab. Aber Leserinnen und Leser können an der Erfahrung Anderer partizipieren. Sie können ihr Bild des Menschen erweitern. Und Erzählungen über schambehaftete, tabuisierte Erlebnisse können ihnen die Möglichkeit eröffnen, darüber zu sprechen und den Bann zu brechen. Für solche Autobiografien braucht es Mut.

Wie sehr kommt es auf die Besonderheiten einer Lebensgeschichte an, wie sehr auf die Prominenz, und wie sehr auf die literarische Qualität?

Wir erleben derzeit eine Welle im autobiografischen Schreiben, aber die Frage nach der literarischen Qualität ist unabhängig von Besonderheiten oder Prominenz. Wenn zehn Menschen beschreiben, wie in den 1930er Jahren einmal wöchentlich in der einbetonierten Wanne im Keller gebadet wurde, kann vielleicht nur eine der Schilderungen als Literatur gelten – auch wenn alle zehn sozialgeschichtlich interessant sind. Aber wenn jemand schreiben kann, kann er über alles schreiben. In meinen Kursen stelle ich unter anderem die Aufgabe, banalste Ereignisse zu schildern, etwa, wie eine Tasse zum Mund geführt wird. Interessanterweise haben Menschen, die solche Szenen literarisch verarbeiten können, schon länger gern geschrieben, sie haben vielleicht als Kind schon an der Schreibmaschine des Vaters gesessen oder in der Schule gern Aufsätze verfasst.

Wie lässt sich Autobiografisches Schreiben in ein Festival übersetzen?

In meinen Kursen wurde oft der Wunsch nach einem Austausch mit Fachleuten und Publikum geäussert. Bei einer Reise nach Heiden anlässlich des Kursabschlusses entstand die Idee eines Festivals. Nun laden wir bereits zum dritten Mal Menschen ein, ihre Texte zu lesen. Darauf reagieren dann jeweils zwei Profis aus dem Wissenschafts- und Literaturbetrieb. Es geht nicht darum, Noten zu verteilen, sondern nützliche Hinweise zu geben. Das Publikum schätzt die Gespräche darüber, was gekonnt und was weniger gelungen ist. Unser Anliegen ist es, die literarische Produktion von Laien zu fördern. Künftig wollen wir die Plattform öffentlicher gestalten, so dass Interessierte von sich aus Texte einreichen können. Eine andere geplante Erweiterung ist die Aufzeichnung des Programmes, damit sich insbesondere die Autorinnen und Autoren die Rückmeldungen noch einmal in Ruhe anhören können, das Bedürfnis danach ist gross.

Inhabiting the Interstice or Why We Never Dream of the Internet

Videoinstallation von Liv Burkhard und Kim da Motta

«Wie die Schauspieler eine Maske aufsetzen, damit auf ihrer Stirne nicht die Scham erscheine, so betrete ich das Theater der Welt – maskiert.» René Descartes (1596–1650)
Wir brauchen keine Masken mehr. Wir haben Avatare, Profilbilder oder andere virtuelle Identitäten. Wir verschwinden hinter Firewalls, Touchscreens oder in künstlichen Spielewelten. Der neuzeitliche Denker Descartes fragte sich, ob die Dinge in Wahrheit so sind, wie sie dem Menschen erscheinen. Existieren die Dinge überhaupt? Oder lassen Menschen sich von ihren Sinnen täuschen? Existieren wenigstens die Menschen? Oder ist alles nur ein wahnwitziger Traum? Immerhin eines wurde für Descartes zur Gewissheit: Wer zweifelt, denkt. Wer denkt, ist. Das Denken, die geistige Substanz und der Körper sind eine Einheit. Wer aber sind wir, wenn wir online sind? Wo sind wir, wenn unser Denken im digitalen Raum unterwegs ist, unser Körper jedoch in der realen Welt bleibt?
Liv Burkhard und Kim da Motta untersuchen in Inhabiting the Interstice or Why We Never Dream of the Internet die Übergänge und Grenzen zwischen realer und der virtueller Welt. Sie begeben sich dafür selbst in Zonen des Übergangs. Mehrere Monate lang führten sie einen Dialog in einem Instant-Messanger-Dienst. Parallel dazu haben sie ihre Accounts im Second Life reaktiviert. Diese virtuelle Plattform wurde im Jahr 2003 gestartet und verhiess eine vollständige Parallelwelt: Kommunikation, Konsum, Unterhaltung – alles sollte hier möglich sein. Die Marketing-Abteilungen von Städten kreierten virtuelle Abbilder der realen Städte, Firmen versprachen sich von einer Präsenz im Second Life zusätzliche Einnahmequellen, Nutzerinnen und Nutzer bauten die Welt als 3D-Modell weiter.
In der zweiteiligen Videoinstallation von Liv Burkhard und Kim da Motta erscheint Second Life als Kopie der realen Welt. Und sie bleibt disparat: Sie transportiert die Irritationen einer Imitation und will dennoch reales Erlebnis in einem virtuellen Raum ermöglichen. Sie formuliert eine gegenständliche Welt und ist doch nur deren Abklatsch. Diese Brüche sind ein zentrales Thema in der Konversation der beiden Künstlerinnen, und sie betreffen nicht nur die Differenz zwischen Simulation und Original, zwischen on- und offline, sondern auch die Einflüsse der Digitalisierung auf die Existenz im Hier und Jetzt.
Die umfassende Nutzung von Smartphones, die weit mehr sind als Phones und doch weniger smart, als es suggeriert wird, verändert das Erleben der realen Welt. Sie verändert die Kommunikation, die Routine, die Sinnes- und Selbstwahrnehmung, die nonverbale Interaktion. Ein Beispiel ist die Orientierung vor Ort. Navigationsgeräte leiten direkt zum Ziel. Gedruckte Karten und Stadtpläne sind überflüssig geworden, mäanderndes Suchen ebenso. Das Umherschweifen, wie es die Situationistische Internationale Mitte des vergangenen Jahrhunderts zum Prinzip erhob, ist einer präzisen Steuerung der menschlichen Routen gewichen. Statt vorgegebene oder ausgetretene Pfade bewusst zu meiden und auf alle herkömmliche Bewegungs- und Handlungsmotive zu verzichten, um die psychogeografischen Zusammenhänge der Stadt zu erkunden, führt die Navigationssoftware die Wege auf den Meter genau. Die Verbundenheit mit der Welt, die Aneignung des städtischen Raumes weicht einem isolierten Zustand, der einzig der konkreten Orientierung untergeordnet ist.
Liv Burkhard und Kim da Motta erörtern in ihrer Konversation weitere Beispiele wie die Permanenz des Online-Seins unser Leben beeinflusst. Sie analysieren das veränderte Verhalten in Situationen des Wartens, Einflüsse des ständigen Erreichbarseins auf die Verbindlichkeit, die neue Art, Nachrichten zu konsumieren und zu verarbeiten. Die Künstlerinnen präsentieren keine Gewissheiten zu neuen Gewohnheiten oder Befindlichkeiten, sondern nähern sich mit Fragen und Antworten dem Thema an. Diesen offenen Austausch verknüpfen sie mit einer vielgestaltigen visuellen Ebene: filmischen Alltagssequenzen, 3D-Simulationen, Sprechblasen der digitalen Kommunikation oder Einblicke in virtuelle Welten im Stil von Let´s Play-Videos. In dieser Zusammenschau und ihrer Gleichzeitigkeit mit mündlicher und schriftlicher Kommunikation finden Liv Burkhard und Kim da Motta einen adäquaten Weg, der aktuell stattfindenden Transformation des Agierens und Denkens eine Form zu geben. Die Fülle der Bilder und die sprachliche Dichte verschweigt auch die intakte Chance nicht, der Macht der Omnipräsenz des Virtuellen etwas entgegenzusetzen: «There is always a way out.»

Einführungstext, Projektraum AUTO, St.Gallen, 7. – 8. Juni 2024,

Gefahrenzone auf Kniehöhe

Karin Schwarzbek zeigt im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil aktuelle Arbeiten. Die Zürcher Künstlerin mit Thurgauer Wurzeln untersucht die komplexen Ansprüche an den menschlichen Körper. Ihre Arbeiten basieren auf bekannten Gegenständen und Materialien.

Selbstoptimierung ist angesagt: schöner, sportlicher, schlanker – den Body Positivity Bestrebungen zum trotz. Beinahe täglich ist zu lesen, wie viel Sport das Leben verlängert, welche Sportarten dies besonders effizient tun und was gegessen oder worauf verzichtet werden sollte. In den digitalen Netzwerken boomen Kurzvideos idealer Körper. Wenn sie durch Operationen geformt wurden, wird daraus kein Geheimnis mehr gemacht. Karin Schwarzbek thematisiert diese Durchdringung des Alltags mit dem Körperkult. Sie kommt dabei ganz ohne Bilder dieser Körper aus. Die Arbeit der 1967 geborenen Künstlerin ist subtiler und führt weit über die aktuelle Fitnesswelle hinaus: Wie werden Körper im öffentlichen Raum gesehen? Wie sollen sie geschützt oder gelenkt werden? Welche Verbindungslinien gibt es in die Welt der Kunst?

Ein Balanciergurt in Rosa

Schwarzbek verwendet in ihren Werken Gegenstände und Materialien aus der Welt des Sports und der Verkehrs- oder Arbeitssicherheit. So kombiniert sie beispielsweise schwarze Sicherheitsgurte mit rosafarbenen Gewichtsmanschetten, wie sie im Laufsport eingesetzt werden. Die daraus genähten Gestelle hängen im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil auf einem Kleiderständer als wollten sie sagen, wir sind bereit, bist Du es auch? Eine Aufforderung schwingt auch in der Bodenzeichnung aus Flüssigkreide mit. Ihre Abmessungen entsprechen den Bodenmatten unter einem Schwebebalken und gleichen einem übergrossen Raster für Hüpfspiele: Spring, aber betritt die Linien nicht! Für die Wagemutigen spannt sich eine rosafarbene Slackline in der Höhe eines Schwebebalkens über das Feld. Die Farbe des Gurtbandes spielt einerseits darauf an, dass der Schwebebalken im Wettkampfsport den Frauen vorbehalten ist. Andererseits zieht sich Rosa durch Karin Schwarzbeks Arbeit, weil die Farbe deutlich mehr Einsatzgebiete hat: Wenn die Künstlerin ein Fenstergitter in «Cool Down Pink» streicht, bezieht sie sich damit auf Rosa als Agressionshemmer. Ausnüchterungszellen werden damit ebenso gestrichen wie Kammern im Hochsicherheitstrakt von Gefängnissen. In Rapperswil ist zudem ein ganzes Fenster mit rosafarbener Folie ausgekleidet: Sanft verbreitet sich der Farbton im Raum.

Von der Malerei zum Körper

Karin Schwarzbek agiert hier und in vielen anderen Arbeiten mit ihrer Erfahrung als Malerin. In früheren Ausstellungen – beispielsweise in der Galerie Paul Hafner in St.Gallen – zeigte sie Gemälde in kraftvollen Farben in einer breit abgestuften Palette. Von diesen Bildern ausgehend interessierte sie sich mehr und mehr für die Farbe im Raum und die aufgespannte Leinwand als Objekt. Sie gelangte von dort aus zur Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und verarbeitet inzwischen bevorzugt Stoffe, die für den Einsatz am menschlichen Körper entwickelt wurden: Schwarzbek montiert eine dunkelgrüne Regenpellerine von einem ebenso grün gestrichenen Wandstück. Sie vernäht leuchtend orangefarbene Sicherheitswesten zu einem Tuch, das sie in den Raum spannt. Die Schnüre sind auf Kniehöhe angebracht: Die Warnfarbe kann ihren Dienst tun und vor dem Stolpern schützen. Über einem blauem Quadrat dehnt sich ein gleich grosses Stück Lycra weit in den Raum hinein. Es unterstreicht die für den Sport entwickelte Elastizität des Stoffes und steht für die Dynamik der Körper.
Immer wieder zeigt sich in der Ausstellung das gute räumliche Gespür der Künstlerin, nicht zuletzt deshalb passt die Ausstellung sehr gut ins Kunst(Zeug)Haus Rapperswil mit seinem schwungvoll gewölbten Dach.

Sophie Täuber Arp

Trogen — Von der Textilwelt der Ostschweiz in die Kunstwelt Europas: Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) war in mehrfacher Hinsicht eine Pionierin. Sie begann als Textilentwerferin in St.Gallen, unterrichtete nach Stationen in München und Hamburg an der an der Zürcher Kunstgewerbeschule und sorgte für ihren und Hans Arps Lebensunterhalt, bevor sie weiterzog nach Strassburg und Paris. Mühelos verband sie Kunst und Kunsthandwerk, trat als Ausdruckstänzerin auf und erhielt den Auftrag das Unterhaltungslokal Aubette zu gestalten. Sie war Herausgeberin und Autorin und pflegte ein grosses künstlerisches Netzwerk.
Die aktuelle Kabinettausstellung im Festsaal der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, kuratiert von Medea Hoch und Gabriele Lutz, befasst sich mit Sophie Taeuber-Arps frühem textilem Schaffen. Sie präsentiert neu entdeckte Entwürfe für die Klöppelheimarbeit im Berner Oberland und die Ostschweizer Textilindustrie. Zudem gibt sie Einblicke in das avantgardistische Entwurfsverfahren der Künstlerin. Inspiriert von historischen Textilien aus der Sammlung des damaligen Industrie- und Gewerbemuseums St. Gallen fand Tauber-Arp zu abstrahierten, vertikal-horizontalen Kompositionen, die oft radikaler waren als jene ihrer Künstlerkollegen. Zur Ausstellung erscheint im Verlag Scheidegger & Spiess die Publikation ‹Sophie Taeuber. Textilreformerin›.
 
‹Sophie Taeuber – Textilreformerin›, Festsaal der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, bis 28.7.
sophie-taeuber-arp.ch

Kilian Rüthemann

Wil — Zweihundert Kilogramm Silikon, gegossen zu einem fast zweieinhalb Meter langen Schlauch mit reichlich einem Meter Durchmesser – das ist ein unhandliches, schweres, instabiles Objekt. Es verformt sich, es rutscht weg, es lässt sich kaum greifen, geschweige denn aufstellen. Für Ausstellungen muss es trotzdem bewegt werden. Ist es dann platziert, sind ihm die Tücken des Installierens nicht mehr anzusehen. Für die Kunsthalle Wil hat Kilian Rüthemann jedoch das Handling von ‹Re-Position›, 2020 in den Fokus gerückt. Er hat sieben Personen einer Kunsttransportfirma gebeten, mit dem roten Silikonschlauch zu hantieren, drei Stunden lang und ohne Hilfsmittel wie Spannsets oder Gurte. Daraus entstand eine elfminütige filmische Dokumentation des menschliches Kooperierens angesichts ungewohnter Aufgaben und zugleich eine Arbeit über Gewicht und Dynamik als Eigenschaften bildhauerischer Objekte. Unterlegt ist das Video mit Musik des Zürchers Tapiwa Svosve, aufgenommen in einer Abwasserröhre. Die dramatischen, mitunter repetitiven Klänge korrespondieren mit dem Potential des Scheiterns das ‹Re-Position› innewohnt, müssen doch die Fachleute der Transportfirma wieder und wieder anpacken, aber das Gelingen ist nicht in jedem Moment sicher.
Kilian Rüthemann wandert mit seiner Arbeit regelmässig auf dem schmalen Grat zwischen Kontrolle und Kollaps. Er kennt seine Materialien genau und lotet präzise ihre Balance auf dem Höhepunkt der Fragilität aus. Anschaulich wird dies auch in den beiden Installationen für die Kunsthalle Wil. An der Wand im Erdgeschoss hat der Künstler neun grosse Stahlplatten fixiert und mit einer schwarzen Bitumen-Sand-Mischung bestrichen. Die wenigen Befestigungspunkte erlauben es den Platten, sich von der Wand zu schälen. Sie biegen sich in den Raum hinein, lösen die Wandoberfläche auf, lassen weisse Stellen zurück. Gegenüber stecken zwei Spiralwellstahlrohre in eigens geöffneten Fenstern. Sie halten nur durch ihr Eigengewicht. Die Durchdringung des Gebäudes ist brachial, zugleich zeugt die Geste von grossem räumlichen Verständnis. Rüthemann arbeitet nicht nur die skulpturalen Qualitäten der industriellen Materialien heraus, sondern verändert den Blick auf den gebauten Raum und seine Umgebung: Die Vorhalle wird Teil des Ausstellungsraums, der geflickten Asphaltboden antwortet dem Bitumen an der Wand und die Lattenkonstruktion vor der Fassade den gleichmässigen Wellen der verzinkten Rohre. Alle Elemente werden zur Partnern der Kunst.

Katja Schenker

Kreuzlingen — Der ‹Dreamer›, 2018 ist ein grosser Wurf. Katja Schenkers Kunstwerk für den Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz überzeugt als Körper im Raum und ist ein sensuelles Erlebnis. Es ist in Beton gegossene Erdgeschichte, Natur und Körperarbeit. Doch was passiert mit dem Monolith, wenn er seine einzigartige Präsenz mit Schalen, Scheiben und Wandstücken teilt? Der elf Meter hohe ‹Dreamer› wurde nach dem Betonguss in seine endgültige Form gefräst. Aus den dabei abgetragenen Platten hat Katja Schenker seither kleinere Arbeiten realisiert. Zu sehen sind sie aktuell in Kreuzlingen.
Die Präsentation im Kunstraum hat den Charakter einer konventionellen Galerieausstellung. Sie umfasst vier Werkgruppen mit jeweils einzeln platzierten Stücken: die ‹Dreamer›-Übrigbleibsel, die ‹dresses› aus Beton und Netzgewebe, die ‹Zementgärten› und die ‹rencontres›. Die drei letztgenannten Gruppen sind unmittelbar aus der Körperarbeit der Künstlerin hervorgegangen: Gebogene, gefaltete, zerdrückte Betongewänder, in Lehm getauchte Finger und umarmte Zementsäcke zeugen von der intensiven physischen Auseinandersetzung Schenkers mit Körper und Material. Seit langem ist die Künstlerin im Bereich Performance aktiv und verbindet dabei das Ephemere mit dem Bildhauerischen: Die gezeigten Stücke verstehen sich nicht als Relikte, da Performance und Objekt bei Schenker integral zusammengehören.
Im Tiefparterre sind vier Videos zu sehen. Drei davon halten Performances fest. Das vierte ist von der Künstlerin als ‹Dokumentation einer Entstehung› bezeichnet und kommentiert den ‹Dreamer› bis hin zur Sinnfrage: «Sollte jeder und jede einmal einen Turm gebaut haben?» Mehr als um die Kunst geht es hier um Gefühl und Befindlichkeit.
Die Stärken Schenkers – das zeigt diese Ausstellung – liegen im Performativen und in der Kunst am Bau. Für letztere hält Kreuzlingen sehenswerte Beispiele bereit. Im vergangenen Herbst wurde ‹einsinken› beim Familien- und Sportbad Bad Egelsee eingeweiht. Wenige Gehminuten entfernt steht ‹abfedern›, das 2015 für das Bundesamt für Gesundheit in Bern erstellt, dort aber wegen Umbaumassnahmen eingelagert wurde. Nun ist es in Kreuzlingen zu Gast. Zudem gehören zur Ausstellung zwei Fahrten zu je vier Kunst am Bau-Standorten von Katja Schenker. Diese räumliche Erweiterung tut der Schau gut, sie sorgt für die Offenheit und das In-Beziehung-Treten – Aspekte, die der Künstlerin bei ihrer Arbeit sehr wichtig sind.