Inhabiting the Interstice or Why We Never Dream of the Internet

by Kristin Schmidt

Videoinstallation von Liv Burkhard und Kim da Motta

«Wie die Schauspieler eine Maske aufsetzen, damit auf ihrer Stirne nicht die Scham erscheine, so betrete ich das Theater der Welt – maskiert.» René Descartes (1596–1650)
Wir brauchen keine Masken mehr. Wir haben Avatare, Profilbilder oder andere virtuelle Identitäten. Wir verschwinden hinter Firewalls, Touchscreens oder in künstlichen Spielewelten. Der neuzeitliche Denker Descartes fragte sich, ob die Dinge in Wahrheit so sind, wie sie dem Menschen erscheinen. Existieren die Dinge überhaupt? Oder lassen Menschen sich von ihren Sinnen täuschen? Existieren wenigstens die Menschen? Oder ist alles nur ein wahnwitziger Traum? Immerhin eines wurde für Descartes zur Gewissheit: Wer zweifelt, denkt. Wer denkt, ist. Das Denken, die geistige Substanz und der Körper sind eine Einheit. Wer aber sind wir, wenn wir online sind? Wo sind wir, wenn unser Denken im digitalen Raum unterwegs ist, unser Körper jedoch in der realen Welt bleibt?
Liv Burkhard und Kim da Motta untersuchen in Inhabiting the Interstice or Why We Never Dream of the Internet die Übergänge und Grenzen zwischen realer und der virtueller Welt. Sie begeben sich dafür selbst in Zonen des Übergangs. Mehrere Monate lang führten sie einen Dialog in einem Instant-Messanger-Dienst. Parallel dazu haben sie ihre Accounts im Second Life reaktiviert. Diese virtuelle Plattform wurde im Jahr 2003 gestartet und verhiess eine vollständige Parallelwelt: Kommunikation, Konsum, Unterhaltung – alles sollte hier möglich sein. Die Marketing-Abteilungen von Städten kreierten virtuelle Abbilder der realen Städte, Firmen versprachen sich von einer Präsenz im Second Life zusätzliche Einnahmequellen, Nutzerinnen und Nutzer bauten die Welt als 3D-Modell weiter.
In der zweiteiligen Videoinstallation von Liv Burkhard und Kim da Motta erscheint Second Life als Kopie der realen Welt. Und sie bleibt disparat: Sie transportiert die Irritationen einer Imitation und will dennoch reales Erlebnis in einem virtuellen Raum ermöglichen. Sie formuliert eine gegenständliche Welt und ist doch nur deren Abklatsch. Diese Brüche sind ein zentrales Thema in der Konversation der beiden Künstlerinnen, und sie betreffen nicht nur die Differenz zwischen Simulation und Original, zwischen on- und offline, sondern auch die Einflüsse der Digitalisierung auf die Existenz im Hier und Jetzt.
Die umfassende Nutzung von Smartphones, die weit mehr sind als Phones und doch weniger smart, als es suggeriert wird, verändert das Erleben der realen Welt. Sie verändert die Kommunikation, die Routine, die Sinnes- und Selbstwahrnehmung, die nonverbale Interaktion. Ein Beispiel ist die Orientierung vor Ort. Navigationsgeräte leiten direkt zum Ziel. Gedruckte Karten und Stadtpläne sind überflüssig geworden, mäanderndes Suchen ebenso. Das Umherschweifen, wie es die Situationistische Internationale Mitte des vergangenen Jahrhunderts zum Prinzip erhob, ist einer präzisen Steuerung der menschlichen Routen gewichen. Statt vorgegebene oder ausgetretene Pfade bewusst zu meiden und auf alle herkömmliche Bewegungs- und Handlungsmotive zu verzichten, um die psychogeografischen Zusammenhänge der Stadt zu erkunden, führt die Navigationssoftware die Wege auf den Meter genau. Die Verbundenheit mit der Welt, die Aneignung des städtischen Raumes weicht einem isolierten Zustand, der einzig der konkreten Orientierung untergeordnet ist.
Liv Burkhard und Kim da Motta erörtern in ihrer Konversation weitere Beispiele wie die Permanenz des Online-Seins unser Leben beeinflusst. Sie analysieren das veränderte Verhalten in Situationen des Wartens, Einflüsse des ständigen Erreichbarseins auf die Verbindlichkeit, die neue Art, Nachrichten zu konsumieren und zu verarbeiten. Die Künstlerinnen präsentieren keine Gewissheiten zu neuen Gewohnheiten oder Befindlichkeiten, sondern nähern sich mit Fragen und Antworten dem Thema an. Diesen offenen Austausch verknüpfen sie mit einer vielgestaltigen visuellen Ebene: filmischen Alltagssequenzen, 3D-Simulationen, Sprechblasen der digitalen Kommunikation oder Einblicke in virtuelle Welten im Stil von Let´s Play-Videos. In dieser Zusammenschau und ihrer Gleichzeitigkeit mit mündlicher und schriftlicher Kommunikation finden Liv Burkhard und Kim da Motta einen adäquaten Weg, der aktuell stattfindenden Transformation des Agierens und Denkens eine Form zu geben. Die Fülle der Bilder und die sprachliche Dichte verschweigt auch die intakte Chance nicht, der Macht der Omnipräsenz des Virtuellen etwas entgegenzusetzen: «There is always a way out.»

Einführungstext, Projektraum AUTO, St.Gallen, 7. – 8. Juni 2024,