Nachgefragt
by Kristin Schmidt
«Wir erleben eine Welle im autobiografischen Schreiben»: Ausserrhoder Festival blickt in die Tiefe von Autobiografien. Der Zürcher Professor für Populäre Kulturen gehört zu den Initianten des Festivals in Heiden. Wir haben nachgefragt, was es braucht für eine gute Autobiografie.
Beim Autobiografie Festival geht es sowohl um das autobiografische Schreiben als auch um das Interesse der Anderen daran. Welche Motivationen stecken dahinter?
Das autobiografische Schreiben hat eine lange Tradition. Bereits in der frühen Neuzeit haben Menschen grosse Leistungen, die sie tatsächlich oder angeblich vorzuweisen hatten, Revue passieren lassen. Im Pietismus beginnt dann die Autobiografie als Selbstbefragung: «Wo stehe ich? Was ist positiv verlaufen? Was hat sich negativ ausgewirkt?» Solche Autobiografien revidieren zwar nicht die Geschichtsschreibung, aber sie dokumentieren, wie historische Meilensteine erlebt werden. Seither erleben wir eine Demokratisierung des Schreibens. So wurde anlässlich der Expo.02 die Website meet-my-life.net initiiert, auf der autobiografische Aufzeichnungen geteilt werden können, zudem wurden Schnellkurse in autobiografischem Schreiben angeboten. Damit es ein literarischer Erfolg wird, braucht es allerdings Begabung und entsprechendes Handwerkszeug. Das Interesse daran ist gross, das habe ich auch in meinen Kursen im Rahmen der Seniorenuniversität gemerkt.
Die Leserschaft von Autobiografien wiederum unterscheidet sich nicht sehr von jener fiktionaler Literatur: Sie möchte Erfahrungen kennenlernen, die sie selbst nicht gemacht hat. So schrieb ein Fluglotse aus dem Appenzellerland von seiner Erkrankung an Grauem Star, literarisch verschränkte er die Erfahrung der Operation mit jener aus seiner Arbeitswelt. Diese Parallelmontage eröffnete eine neue Perspektive.
Ist das Interesse am Autobiografischen eine Altersfrage?
Bis 65 hat man wenig Zeit für Autobiografien, aber dann überschwemmen einen die Erinnerungen. Man fragt sich, «Wie bin ich zu dem Menschen geworden, der ich jetzt bin?», und möchte dies mitteilen. Oft beginnt das im familiären Kontext, beispielsweise wenn die Grosseltern ihr Leben ihren Enkelkindern erzählen. Damit aus solchen Schilderungen ein Buch entsteht, braucht es Disziplin, Zeit und Raum. Die wenigsten schreiben ihre Autobiografie wie Thomas Platter der Ältere im 16. Jahrhundert in dreissig Tagen herunter. Aus Sicht der Volkskunde wäre natürlich auch die Beschreibung eines sechzehnjährigen Lebens sehr spannend, aber die jungen Leute haben diese Zeitkapazität leider nicht.
Kann der Blick zurück den Blick nach vorn verändern?
Weil Autobiografien erst im späteren Lebenslauf geschrieben werden, ist auch die verbleibende Zukunft kleiner. So nimmt die Relevanz der Erfahrungen für die eigene Zukunft ab. Aber Leserinnen und Leser können an der Erfahrung Anderer partizipieren. Sie können ihr Bild des Menschen erweitern. Und Erzählungen über schambehaftete, tabuisierte Erlebnisse können ihnen die Möglichkeit eröffnen, darüber zu sprechen und den Bann zu brechen. Für solche Autobiografien braucht es Mut.
Wie sehr kommt es auf die Besonderheiten einer Lebensgeschichte an, wie sehr auf die Prominenz, und wie sehr auf die literarische Qualität?
Wir erleben derzeit eine Welle im autobiografischen Schreiben, aber die Frage nach der literarischen Qualität ist unabhängig von Besonderheiten oder Prominenz. Wenn zehn Menschen beschreiben, wie in den 1930er Jahren einmal wöchentlich in der einbetonierten Wanne im Keller gebadet wurde, kann vielleicht nur eine der Schilderungen als Literatur gelten – auch wenn alle zehn sozialgeschichtlich interessant sind. Aber wenn jemand schreiben kann, kann er über alles schreiben. In meinen Kursen stelle ich unter anderem die Aufgabe, banalste Ereignisse zu schildern, etwa, wie eine Tasse zum Mund geführt wird. Interessanterweise haben Menschen, die solche Szenen literarisch verarbeiten können, schon länger gern geschrieben, sie haben vielleicht als Kind schon an der Schreibmaschine des Vaters gesessen oder in der Schule gern Aufsätze verfasst.
Wie lässt sich Autobiografisches Schreiben in ein Festival übersetzen?
In meinen Kursen wurde oft der Wunsch nach einem Austausch mit Fachleuten und Publikum geäussert. Bei einer Reise nach Heiden anlässlich des Kursabschlusses entstand die Idee eines Festivals. Nun laden wir bereits zum dritten Mal Menschen ein, ihre Texte zu lesen. Darauf reagieren dann jeweils zwei Profis aus dem Wissenschafts- und Literaturbetrieb. Es geht nicht darum, Noten zu verteilen, sondern nützliche Hinweise zu geben. Das Publikum schätzt die Gespräche darüber, was gekonnt und was weniger gelungen ist. Unser Anliegen ist es, die literarische Produktion von Laien zu fördern. Künftig wollen wir die Plattform öffentlicher gestalten, so dass Interessierte von sich aus Texte einreichen können. Eine andere geplante Erweiterung ist die Aufzeichnung des Programmes, damit sich insbesondere die Autorinnen und Autoren die Rückmeldungen noch einmal in Ruhe anhören können, das Bedürfnis danach ist gross.