Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Wie gehen wir mit dem Tod um?

Ein schweres Thema stimmig präsentiert

Wie schauen Künstlerinnen und Künstler auf die Werke anderer und auf eine bestehende Sammlung? In der neuen Reihe «Artist´s Choice» lädt das Kunstmuseum Liechtenstein Künstlerinnen und Künstler ein, eine Sammlungsausstellung zu kuratieren. Martina Morger ist die Erste.

Blau erzeugt Tiefe, Weite und lässt an den Himmel wie an das Meer denken. Es ist die Farbe der Sehnsucht, der Schwere und der Klarheit. Im Kunstmuseum Liechtenstein ist es die Farbe der Ausstellung «Are We Dead Yet?»: Blau schimmert ein Objekt in einer Vitrine, blau flimmern die Monitore. Blau taucht in einem Gemälde auf und in einer Neonschrift. Nachtblaue Samtvorhänge fallen bis auf den Boden. Diagonal hängen sie im Raum und dämpfen die Geräusche. Ausserdem ist die Beleuchtung reduziert. Alles passt zusammen: Martina Morger hat die Farbe gewählt, die Stoffe und die Dunkelheit. Die 1989 in Vaduz geborene Künstlerin war vom Museum eingeladen worden, ihren eigenen Blick auf die Kunstsammlung auszustellen.

Kunst kann den Tod überwinden

«Sind wir schon tot?» fragt Martina Morger mit dem Ausstellungstitel und greift ein tabuisiertes Thema auf. Früher gehörte der Tod zum Alltag: Oft lebten drei Generationen unter einem Dach und die Menschen starben nicht selten daheim. Der Tod war nah. Heute findet das Sterben anderswo statt. Ist der Tod deshalb ferner? Martina Morger verneint: «Das Sterben ist von Anfang an eingeschrieben ins Leben. Aber ich möchte zeigen, dass wir den Tod jeden Tag überwinden können. Die Kunst gibt uns die Möglichkeit dazu.»
In der Kunstgeschichte ist der Tod ein klassisches Thema, vom Christustod über den Totentanz bis zur Toteninsel. Aber wie stellt sich der Tod in zeitgenössischen Werken dar? An den Anfang ihrer Ausstellung stellt Martina Morger eine Fotoserie von Latifa Echakhch. Die in Marokko geborene Schweizerin hat Schnecken auf einem Friedhof fotografiert. Für Martina Morger ein perfektes Bild für das Werden und Vergehen: «Hier zeigt sich der ewige Kreislauf, ohne belehrend zu sein: Die Schnecken tanzen auf den Gräbern.» Neben den Tieren ist Plastikmüll zu sehen. Der sorgt dafür, dass es nicht zu idyllisch wird. Und er leitet über zu einem Werk von Pamela Rosenkranz: In einer PET-Flasche steht der Flüssigkeitsspiegel leicht schräg. Ist das Wasser erstarrt? Stirbt das Wasser, wenn es in Wegwerfflaschen abgefüllt wird? Antworten gibt Martina Morger keine, aber sie lenkt den Blick auf die kleinen Details und regt Fragen an: «Wie schauen wir auf die Dinge? Wie stellen wir Dinge dar?» Die Aufforderung, genau zu hinzusehen, verbindet sie mit dem grossen Thema: «Wie kommen wir mit dem Tod zurecht? Wie bewegen wir uns auf den Tod zu?»

Dialoge zwischen Kunstwerken

Martina Morger zieht feine Linien durch die Ausstellung und lässt Werke miteinander in einen Dialog treten. So filmt Marcel Odenbach in einem Aschenbecher abgelegte Zigaretten und blendet Aufnahmen der Progromnacht 1938 dahinter und Videos von zeitgenössischen Unruhen. Aleksandra Signer hingegen filmte zufällig einen Vogel, der wiederholt gegen das Atelierfenster flog, und hörte währenddessen Nachrichten über den Krieg 2006 im Libanon. Bei beiden Werken interessiert Martina Morger die Gleichzeitigkeit: «Aus welcher Perspektive beobachten wir das Weltgeschehen? Was tun wir, während es anderswo passiert, und wenn wir keinen Handlungsspielraum haben?»
Martina Morgers Auswahl ist vielseitig, sie vereint drastische Werke mit zurückhaltenden, bekannte mit bisher nicht gezeigten. Auf Werke aus dem eigenen Fundus verzichtet die Künstlerin in ihrer Schau. Sie lässt andere zu Wort kommen und verbindet sie in einer stimmigen Inszenierung, die das Thema nicht verharmlost und zugleich einen ästhetischen Gesamtklang entfaltet.

Das Museum als Motiv

Das Kunstmuseum Liechtenstein und die Hilti Art Foundation präsentierten ihre erste gemeinsame Ausstellung. Die Sammlungen sind entlang einer Fotoserie von Candida Höfer präsentiert. Die deutsche Fotografin stellt in ihren Arbeiten auch verborgene Räume der beiden Kunstmuseen vor.

Kunstdepots und Kistenlager, Lastenaufzüge und Treppenhäuser, Werkstätten und Lichtdecken – ein Museum hat mehr als Foyer, Café und Ausstellungssäle. Im Kunstmuseum Liechtenstein und in der Hilti Art Foundation sind diese verborgenen Räume jetzt ausgestellt: in Fotografien von Candida Höfer.
Die deutsche Künstlerin, 1944 in Eberswalde geboren, ist international bekannt dank ihrer Fotografien von Bibliotheken, Museen oder Opernsälen. Sie fotografiert diese Orte der Bildung und Hochkultur meist aus strenger Zentralperspektive, ohne zusätzliches Licht und menschenleer. Die grossformatigen Bilder zeigen eine erhabene Atmosphäre, es sind prachtvolle Innenräume in Stille und Schönheit.

Fotografien von Kisten und Treppen

Nun also die Lagerräume der beiden Kunstmuseen in Vaduz, die engen Treppen, die Aufzüge und sogar der Aussenraum – Candida Höfer zeigt hier eine ganz andere Facette ihrer Arbeit. Dazu kam es, weil das Kunstmuseum Liechtenstein und die Hilti Art Foundation zum ersten Mal eine gemeinsame Ausstellung planten. Von Anfang an war klar, die Präsentation solle von den beiden Sammlungen ausgehen, und der Wunsch war, Fotografien von Candida Höfer einzubeziehen.
Die Künstlerin wurde angefragt, ob sie sich vorstellen könnte, eigens das Kunstmuseum Liechtenstein mit einer Fotografie zu porträtieren. Sie konnte und hat in Vaduz sogar eine Serie von 21 Bildern realisiert. Diese Aufnahmen bilden den formalen Ausgangspunkt für die ausgewählten Werke aus den Sammlungen der beiden Häuser.
Die Ausstellung folgt einem einfachen Weg: In jedem der sieben Säle sind eine bis fünf der neuen Fotografien Höfers ausgestellt und passende Sammlungswerke zugeordnet. Wenn beispielsweise Höfer aufgereihte Kisten im Depot zeigt, wurde eines der geometrisch reduzierten Gemälde Mondrians daneben platziert. Zur regelmässigen Anordnung der Oberlichter passt ein Objekt der Minimal Art. Windet sich in der Fotografie von Candida Höfer ein Treppenhaus, so antwortet ihm ein Gemälde von Steven Parrino mit verdrehter Leinwand. Neben Aufnahmen des Aussendepots der Liechtensteinischen Landesbibliothek mit seinen regelmässigen Buchreihen hängt ein abstraktes Gemälde mit vertikalen Streifen. Zur Tenne in Vaduz passen Arte Povera und Surrealismus: Im fotografierten Schuppen liegen ausgediente Dinge. Ein Beil auf einem Klotz ist bereit, sie das zu Kleinholz zu verarbeiten. Die neben diesem Bild gezeigten Sammlungswerke enthalten Reisigbündel, Holz, Tierhäute oder Pflanzen – hier treffen Natur und Kultur schlüssig aufeinander.

Ein Aussenraum als Interieur

Candida Höfers Fotografien legen eine Spur durch beide Häuser. Daran entlang sind die Sammlungswerke aufgereiht. Es gibt Wiederbegegnungen und neue Nachbarschaften, aber nur eine einzige echte Überraschung: Im Seitenlichtsaal hängt ausserhalb der eigentlichen Ausstellung eine Aufnahme des schwarzen Museumsbaus. Candida Höfer, die sonst selten im Aussenraum fotografiert, verzichtet hier auf die Zentralperspektive und zeigt das Kunstmuseum im Vaduzer Städtle schräg von oben. Die hellen Bodenplatten, die sorgfältig platzierten, farbigen Tische und Stühle, die kegelförmig geschnittenen Buchsbäume – hier ist alles am richtigen Platz, alles sauber, nichts dem Zufall überlassen. Selbst das Licht wirkt homogen, Hintergrund und Himmel sind einem neutralen Weiss gewichen. So wirkt sogar ein Aussenraum wie ein Interieur – Candida Höfer bleibt sich treu.

Lene Marie Fossen

St.Gallen — Darf diese Kunst gezeigt werden? Die Selbstporträts von Lene Marie Fossen (1986–2019) haben diese Frage immer wieder provoziert. Eine Antwort gibt jetzt das St.Galler Museum im Lagerhaus und präsentiert die Arbeiten der norwegischen Fotografin erstmals ausserhalb ihres Landes. Damit stehen sie im Kontext der sogenannten Outsider Art und werden eng mit Fossens Biografie verknüpft. Das ist der richtige Umgang mit diesem Oeuvre, denn die Selbstporträts sind nicht zu trennen von Fossens Leben: Im Alter von zehn Jahren entscheidet sie, nicht mehr zu essen, und bleibt magersüchtig, bis sie an der Krankheit stirbt. Sie verweigert sich dem Älterwerden, dem Lauf der Zeit und überträgt dieses Thema in die Fotografie: Die Zeit dokumentieren, sie einfrieren – die Autodidaktin hält ihre fragile Existenz mit der Kamera fest. Sie fotografiert sich in entrückten Posen beispielsweise in einem verfallenen Krankenhaus auf der Insel Lesbos. Die sorgsam komponierten, hochästhetisierten Bilder sind ein sehr persönliches Lebenszeugnis. Eingebettet sind sie im Museum im Lagerhaus in die Schau ‹KörperBilder› aus der eigenen Sammlung. Auch hier steht der weibliche Körper im Zentrum, allerdings mit stark erotischen Konnotationen und sehr unmittelbarem Ausdruck.

Candida Höfer

Vaduz—Seit 2015 steht der helle Quader der Hilti Art Foundation neben dem dunklen des Kunstmuseum Liechtenstein. Die Architektursprache des jüngeren Museums lehnt sich an jene des 15 Jahre älteren an und beide teilen sich einen Eingang. Aber das Ausstellungsprogramm konzipierte jedes Haus für sich – bis jetzt. Candida Höfers fotografische Arbeit ist der Anlass für die erste gemeinsame Ausstellung. Die Künstlerin wurde angefragt, eine Aufnahme der Museumsräume zu realisieren, zudem sollten Sammlungswerke gezeigt werden. Entstanden sind schliesslich 21 neue Fotografien, die weit mehr als die klassischen Höferschen Interieurs sind. Die Künstlerin porträtierte Lastenaufzüge und Treppenhäuser, Depots und Kistenlager, Oberlichter und die mattschwarze, mit Flusskieseln durchsetzte Fassade des Kunstmuseums. Selbst das Bild einer alten Tenne in Vaduz ist entstanden. Alle Aufnahmen sind über sieben Ausstellungsräume hin verteilt und dienen als formale Impulsgeber: Mal hängt neben Bildern dicht gefüllter Bücherregale ein Gemälde der Geometrischen Abstraktion. Neben den Fotografien aufgestapelter Kisten sind ein Mondrian und Werke von Donald Judd platziert. Die abgelichtete, nahezu quadratische Aufzugstür findet Parallelen in drei Fassungen von Josef Albers´ ‹Homage to the Square›. Raum für Raum ist dieser formale Ansatz weitergedacht. Das ist einleuchtend, führt zu schönen Nachbarschaften und Wiederbegegnungen mit Sammlungswerken, ist aber auf Dauer etwas schulmeisterlich. Zudem werden Werke um der formalen Verwandtschaft willen auf ebendiese Form reduziert: Rosemarie Trockels Hommage an Malewitsch ist mehr als nur auf einen Keilrahmen gespannte Wolle und somit ein Beispiel für Stofflichkeit; Steven Parrinos ‹Spin-out Vortex› ist mehr als ein Stück verdrehter Leinwand, passend zu den Windungen eines Treppenhauses.
Spannender wird es dort, wo sich die Assoziationsfelder weiten: Wenn Barry Le Vas zertrümmerte Scheiben alle Raster in Frage stellen, wenn Lichtinstallationen immaterielle Räume öffnen, wenn auf Treppen mit Bewegung geantwortet wird oder wenn beispielsweise die fotografierten Leuchtstoffröhren der Depots auf Werke mit summenden Elektromotoren treffen. Neue Blicke öffnen auch Candida Höfers Arbeiten selbst, wenn sie die Zentralperspektive und den Innenraum verlassen und das sterile Vaduzer Zentrum zeigen. Hier wird plötzlich der Aussenraum zur Bühne und die Selbstinszenierung im Städtle zum Thema.

Kaspar Toggeburger

Winterthur — Der weibliche Akt steht im Zentrum: Er beherrscht das Format, ist zum Torso fragmentiert und behält doch seine kraftvolle und monumentale Körperlichkeit. Kaspar Toggenburger (*1960) dekliniert das klassische Sujet des Frauenaktes durch. Rückenansichten, Vorderansichten, liegende und halbaufgerichtete Torsi dominieren die aktuellen Gemälde in der Kabinettausstellung im Antiquaritat Harsch in Winterthur. Die üppigen Volumina sind mit vehementen Pinselstrichen und in kontrastierenden Farben herausgearbeitet. Violett trifft auf Türkis, Blau auf Gelb, Grün auf Rot. Besonders akzentuiert Toggenburger das Oval der Bein- und Armstümpfe und damit die Verstümmelung der Torsi. Dort, wo die Rümpfe ihren Kopf noch haben, gleicht dieser einem Totenschädel: Die Augenhöhlen sind leer, das Haupt ist kahl.
Die Akte sind mit brachialer Geste versehrt – mit dem Titel ‹Marignano› setzt Toggenburger bei einem Männerakt den Kriegsbezug. Auch die Kunstgeschichte ist nie weit entfernt: Während die Expressionisten und Neoexpressionisten stilistisch präsent sind – Toggenburger hat in den 1990er Jahren unter anderem bei A. R. Penck studiert, verweisen die Motive teilweise weiter in die Vergangenheit, etwa mit den Odalisken oder der ‹Susanna im Bade›. Indem Toggenburger die Odalisken auf Sockeln malt, löst er sie von der unmittelbaren Körperdarstellung und überführt sie auf eine übergeordnete Referenzebene: Er präsentiert, was bereits präsentiert wird.
Einen anderen Weg geht der Künstler mit seinen ‹Skizzenketten›. Ausgehend von einer einfachen Schwarzweisskopie einer Fotografie, einer Reproduktion oder einem gezeichneten Motiv entwickelt er gezeichnete Bilderzählungen. Toggenburger löst Figuren aus Kontexten, stellt sie in neue, er überführt tradierte Motive in die Gegenwart und von dort zurück ins Allgemeingültige. So taucht neben Hans Baldung Griens berühmten ‹Zwei Hexen›, 1523, ein Auto auf und schliesslich ein übergriffiger, bebrillter Mann; aus einer Frau mit gespreizten Beinen wird eine amöbenhafte Gestalt; ein ‹Susanna im Bade› bedrängender Mann fällt nach hinten über, um schliesslich in einem Fussballtor zu landen. Körper werden durch Zeit und Raum transformiert und bleiben doch immer Körper. Diese Skizzenketten sind nicht in der hierzulande gewohnten Leserichtung gehängt, sondern vertikal montiert. Derzeit werden sie auch im Kontext einer Max Beckmann-Retrospektive in Braunschweig gezeigt.

→ Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, bis 12.2.
↗ www.3landesmuseen-braunschweig.de/herzog-anton-ulrich-museum

→ Antiquariat und Galerie im Rathausdurchgang, Winterthur, bis 14.1.
↗ www.antiquariat-harsch.ch

GAFFA

«Appenzellerland», 2022, 156 x 26,5 cm, digitale Collage
Telefon gezückt, drauf getippt, Foto gemacht, weitergeschickt – nie zuvor war es einfacher, Sujets aufzunehmen, zu speichern oder weiterzugeben. Fotografiert wird, was schön ist, lustig oder einzigartig. Die Folge ist eine ständig grösser werdende Bilderflut. In diesem Strom platziert das Kollektiv Gaffa humorvolle, provokante und manchmal auch kaum sichtbare Irritationen. Die vier Künstler verwenden vorgefundenes Bildmaterial, senden es einander zu, verfremden es, bilden ungewohnte Kombinationen und treiben alles auf die Spitze. Sie verzerren, mischen, multiplizieren, addieren Bekanntes und Aussergewöhnliches, Mainstream und Seltenes, Absurdes und Alltägliches. In eigens herausgegebenen, thematischen Zines versammeln sie die gemeinsamen Arbeiten zu Kuchen und Klettergerüst, Industrie und illegal, Schmalz und Schwimmbad. Über sechzig Hefte sind bereits entstanden, in die sich jetzt Obacht-Bildbögen über das Appenzellerland einreihen: Da grinst der Bläss, da rennt der Bär, da bürstet der Bauer den Pneu. Die Bagger beackern den Schlorzifladen und der Traktor verliert die Fassung. Wie immer bei Gaffa sind die Bezüge grosszügig ausgelegt: Das Appenzellerland wird geografisch erweitert und unterwandert. Aus jedem Bildelement leuchtet unbändige Freude am Spiel mit Klischees und Stereotypen und damit, was gemeinhin als guter Geschmack verstanden wird. Der globale Strom der Bilder wird konterkariert und übersetzt in einen eigenständigen Bilderfluss – der sich sogar physisch manifestiert, dafür müssen nur noch die vier Doppelseiten aneinandergelegt werden.

Dario Forlin, Wanja Harb, Lucian Kunz, Linus Lutz sind das Kollektiv Gaffa. Seit 2016 veröffentlichen sie das Gaffa Zine. Dario Forlin ist im Appenzellerland geboren und aufgewachsen, Letzteres gilt auch für Wanja Harb und Lucian Kunz. Dario Forlin hat 2019 und das Kollektiv Gaffa 2022 einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung erhalten.

Ollie Schaich, FREE HAND, 2022

Mach, was du willst! – ein Satz, der sich je nach Betonung unterschiedlich interpretieren lässt: als Ausdruck enervierter Resignation, als Aufruf zum eigenständigen Handeln oder als Aufforderung, die eigenen Ideen frei in die Tat umzusetzen. Die letztgenannte Bedeutung entspricht der Carte blanche, der «weissen Karte». Wer sie erhält, hat Gestaltungsfreiheit. Zwar hat jede Carte blanche einen Rahmen, der sich im Obacht Magazin etwa durch das Heftformat und den Umfang ergibt. Aber darüber hinaus haben die Künstlerinnen und Künstler freie Hand. Ollie Schaich hat diese Ausgangslage wörtlich genommen, die Carte blanche und die freie Hand, und sie schlüssig übersetzt. Eines der zentralen Merkmale seiner Gestaltung ist die Reduktion. Was kaum mehr zu minimieren scheint, hat er nochmals reduziert: Das Papier präsentiert sich auf den ersten Blick makellos weiss, unbedruckt, ungestaltet. Wer dieses Blatt jedoch in die Hand nimmt und gegen eine Lichtquelle hält, entdeckt ein Wasserzeichen. Seit Jahrhunderten dienen Wasserzeichen dazu, ein Papier zu markieren, es als echt zu kennzeichnen. Erstellt werden sie durch ein Motiv im Schöpfsieb – die Papierdichte ist dort reduziert, das Motiv scheint durch. Wiesen sich damit anfangs die Handwerksbetrieben als Urheber des geschöpften Papieres aus, dienen Wasserzeichen später unter anderem bei Geldnoten als Sicherheitsmerkmal. Ollie Schaich verwendet ein eingedrucktes Wasserzeichen, ein sogenanntes inmarque watermark system: In Grossbuchstaben steht «FREE HAND» auf dem weissen Papier. Diese zwei sogenannten Four-Letter-Words fügen sich in ein Langzeitprojekt Ollie Schaichs. Seit einigen Jahren sammelt der Künstler und Grafiker diese vierbuchstabigen Wörter und hat sie bereits in einem Buch versammelt: von PING PONG bis HONG KONG, von TAKE bis CARE, von OPEN bis MIND. Die Wörter sind kurz, stark und prägnant. Unterstützt wird diese Kraft von der einfachen, fetten Schriftart. Nicht zuletzt deshalb liest sich FREE HAND wie eine Aufforderung, die Carte blanche selbst zu nutzen: Das weisse Blatt ist glatt, makellos und gerade dadurch für vieles offen. Es kann gefaltet, beschrieben, bemalt und bekritzelt werden. Es ist selbst bereits gestaltet, aber auf reduzierte und klare Art und Weise – die perfekte Ausgangslage fürs Weiterdenken, Weitergestalten, Weiterentwickeln.

Ollie Schaich, Grafiker an der Schnittstelle zur Kunst, geboren 1982 in St.Gallen, aufgewachsen in Trogen, lebt in St.Gallen und Berlin

«Obacht Kultur» N° 44, 2022/3

Die Stimme der Geschichte

Anna Boghiguian hat einen eigenständigen Zugang zu Geschichte. Sie malt Politik und Tyrannei, Revolution und Terror, Volk und Herrschaft und entwickelt daraus grosse Installationen. Im Kunsthaus Bregenz fügt die Künstlerin ihre aktuellen Werke zu einem stimmigen Ganzen.

Bregenz — Geschichte verläuft nicht geradlinig. Sie macht Sprünge, dreht Schlaufen, wechselt das Tempo. Anna Boghiguian (*1946) versucht sie dennoch zu fassen und linear zu erzählen. Die ägyptisch-kanadische Künstlerin mit armenischen Wurzeln muss dabei keinem geschichtswissenschaftlichen Anspruch genügen. Sie kann sich auf die Kraft ihrer Bilder und die Plausibilität ihres künstlerischen Blickes verlassen. Sie beginnt ihre Erzählung mit den Ereignissen kurz vor der Französischen Revolution und in den Vereinigten Staaten im 18. Jahrhundert, schlägt einen Bogen zu den Ereignissen vor dem Ersten Weltkrieg, widmet auch Dada ihre Aufmerksamkeit, packt die Geschichte der Sowjetunion, Nazideutschlands und des faschistischen Italiens in ausgewählte Szenen und befasst sich schliesslich ausführlich mit dem SS-Arzt Aribert Heim. Das alles schildert sie auf 95 Blättern, die Schautafeln gleich im zweiten Obergeschoss des Kunsthaus Bregenz ausgestellt sind. Dicht drängen sich die Figuren auf vielen Zeichnungen, auf anderen porträtiert Boghiguian Einzelpersonen. Interieurs stehen neben Strassenszenen, manche Blätter sind fast vollständig mit Text gefüllt. Das Kolorit wechselt von blassen Tönen über Rot bis hin zu leuchtendenden Farbkombinationen über ausdrucksstarkem, fliessendem Strich. Die enge Reihung der Blätter ergibt eine schlüssige Bildergeschichte. Eingerahmt und ergänzt wird sie durch die Installationen im ersten und im dritten Obergeschoss. In letzterem dreht sich eine runde, spiegelnde Plattform unter roten Scheinwerfern. Von der Decke hängen eine Robe und das Modell einer Guillotine. Durch den Raum klingt die Erzählung der historischen Ereignisse, wie sie im Stockwerk darunter zusammen gefasst sind. Im Verzicht auf überbordendem Kostüm- und Requisitenkitsch wird Geschichte hier durch Atmosphäre und eine künstlerische Haltung zum Erlebnis. Das Gleiche gilt für das erste Stockwerk: Boghiguian zeigt eine erweiterte Version des kürzlich bereits in Venedig ausgestellten Schachbretts mit lebensgrossen Figurensilhouetten. Von Marie Antoinette bis Theodor Herzl, von Egon Schiele bis Rudolf Steiner stammen fast alle aus Österreich. Die Figuren sind teilweise grotesk überzeichnet und mit ungewöhnlichen Attributen charakterisiert. Das unterstreicht ihre Individualität während die nervöse Malweise sie in ihrer Gesamtheit als Teil der Geschichte ausweist, die Boghiguian überzeugend und anschaulich erzählt.

Kunst über Kunst

Brian O´Doherty wechselte als Protest gegen die Präsenz des britischen Militärs in Nordirland seinen Namen zu Patrick Ireland und schrieb unter drei anderen Pseudonymen Bücher und Essays. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt den Künstler, Kritiker und Theoretiker im Spiegel künstlerischer Weggefährtinnen und -gefährten.

Vaduz—«Ich habe das Selbst nie als eine stabile Grösse aufgefasst, sondern als eine fluide, mehrwertige Reihe von Anpassungen an inneren und äusseren Druck, die verschiedene Personae hervorbringen.» so Brian O´Doherty 2008 zu seiner Biografin Brenda More-McCann. Diese Aussage umfasst weit mehr als Veränderungen von Arbeitsweisen und künstlerischem Selbstverständnis über die Zeit. O´Doherty umschrieb damit seinen freien Umgang mit Zugängen zur Kunst und mit seinem Ich. Er arbeitet seit 1957 als Künstler, Kunstkritiker, Schriftsteller und Filmemacher, publizierte als Autorin und inszenierte sich auch fotografisch in verschiedenen Identitäten. Seit langem pflegt O´Doherty ein enges Netzwerk zu Künstlerinnen und Künstlern. Dieser Austausch ist zentral für seine künstlerische Arbeit und seine theoretischen Auseinandersetzungen mit Kunst. Es ist also überaus schlüssig, wenn das Kunstmuseum Liechtenstein mit ‹Brian O´Doherty. Phases of the Self› nicht einfach eine monografische Ausstellung des Künstlers präsentiert, sondern dessen Werke in Beziehung setzt zu Arbeiten Anderer aus der Sammlung des Museums. Ein Schlüsselwerk dafür ist ‹Divided Self›, 1968: Der kleine, zweiteilige Kasten ist an seinen Seitenflächen durchfenstert und im Inneren mit diagonal gestellten Spiegeln ausgestattet. Er ermöglicht unterschiedliche Einblicke und erwidert diese mit immer anderen Ausblicken. Er zeigt, was sich ausserhalb seines hellblauen Körpers befindet, verleibt sich die Spiegelbilder ein und verändert damit zugleich die Sicht auf das Gespiegelte.
Umgeben ist das Objekt von Werken von Künstlerinnen und Künstlern, die ebenfalls auf die Kunst anderer referieren oder das Prinzip der Autorschaft untersuchen. Gezeigt werden beispielsweise ein raumtrennender Vorhang von Charlotte Moth als Kommentar zu O´Dohertys Theorien zum White Cube, Marcel Broodthaers´ ‹La Signature de l´artiste› oder Saâdane Afifs Dokumentation der Wirkungsgeschichte von Duchamps ‹Fountain›. Marcel Duchamp ist eine zentrale Figur in diesem Geflecht dank seiner künstlerischen Radikalität, seinem Spiel mit Identitäten und seiner Reflexion der eigenen Arbeit. So zeigt das Kunstmuseum verschiedene Versionen seiner Schachteln mit Faksimiles und Reproduktionen. O´Doherty bat Duchamp um Erlaubnis, dessen Herzfrequenz aufzeichnen zu lassen, bettete das Elektrokardiogramm in eine eigene Schachtel und dreht damit die Rezeptionsgeschichte eine Runde weiter.

15. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse – Ein Rückblick

Die 15. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse versammelte künstlerisches Handwerk aus dem gesamten deutschsprachigen Raum: Handgeschöpftes, Gedrucktes und Gebundenes wurden in der Shedhalle im Eisenwerk in stimmiger Atmosphäre präsentiert. Laien und Profis schätzen den Austausch gleichermassen.

Die grosse Linotype rattert und giesst zarte Wörter in Blei: «Blume Blume Blume» in dutzendfacher Wiederholung; bereit, um gedruckt zu werden, in grüner Schrift auf gelbem Papier. Maschinen und Poesie – auch die 15. Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse war wieder für Gegensätze gut, genauso wie sie zuverlässig für Qualität und für produktive Atmosphäre steht und Profis ebenso anspricht wie das interessierte Laienpublikum. Insbesondere Kinder wurden bei der diesjährigen Ausgabe einbezogen. So entstanden bei Percy Penzel an der Linotype das Blumen-Poem oder gedruckte Namensschilder bei Gianna Schneeberger von Stampa Didot aus Tägerig. Die in Davos geborene Schriftsetzerin ist seit langem an der Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse dabei und druckte mit Gästen an ihrer selbst erfundenen Handpresse mit 100 Jahre alten Lettern. Wie zahlreiche andere Ausstellerinnen und Aussteller gab sie ihre Freude am Handwerk gerne weiter. Auch Hans Mühletaler begeisterte interessierte Personen für alte Drucktechniken. Der Drucker aus Nassen sprach am vergangenen Wochenende mit ansteckender Leidenschaft von dem magischen Moment, in dem sich das gedruckte Motiv auf dem Papier abbildet.
Das Druckhandwerk ist ein Schwerpunkt der zweijährlichen Messe in den Shedhallen im Frauenfelder Eisenwerk, weitere sind handgeschöpftes Papier oder die Gestaltung von Büchern und Karten: Hier dürfen Formate aus dem Rahmen fallen, Bücher als Leporellos daher kommen oder Papiere mit gepressten Blüten durchsetzt sein wie beispielsweise bei Patricia Müller vom Papieratelier Papelier. Die fragilen, handgeschöpften Unikate bildeten den Kontrast zu den Publikationen der widukind-presse am benachbarten Stand: Limitierte Auflagen von Werken Dantes oder Nietzsches sind hier mit düsteren Radierungen illustriert. Verlage waren auch diesmal gut vertreten in Frauenfeld, so beispielsweise mit der Verlagsgenossenschaft (VGS) und dem Vexer Verlag aus St. Gallen, dem Verlag Donata Kinzelbach aus Mainz, dem Triest Verlag aus Triest, der Edition Thurnhof aus Horn in Niederösterreich oder Les Éditions TransSignum aus Paris.
Österreich, die Schweiz, Deutschland und Frankreich: Die 15. Frauenfelder Buch- und Druckkunst zeigte einmal mehr ihre Ausstrahlungskraft im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Der Ehrengast der diesjährigen Messeausgabe, Fred Lautsch, stammt aus Stralsund an der Ostseeküste. Seine druckkünstlerische Arbeit kreist um die Themen Meer, Fische, Wellen und war der Anlass für die Messe erstmals ein Motto zu bestimmen: «Blau» war an mehreren Messeständen zu sehen. Lautsch gestaltete den zentralen Raum zwischen beiden Messehallen mit wogenden Papierbahnen, die von einer kleinen Mechanik angetrieben wurden. Hier wie im gesamten Ausstellungsbereich sorgten die wirkungsvoll inszenierten Druckerzeugnisse, das anschaulich präsentierte Handwerk und die Begegnungen zwischen Publikum und Fachleuten für eine anregende Atmosphäre.

Communique im Auftrag der HPM