Die Stimme der Geschichte
by Kristin Schmidt
Anna Boghiguian hat einen eigenständigen Zugang zu Geschichte. Sie malt Politik und Tyrannei, Revolution und Terror, Volk und Herrschaft und entwickelt daraus grosse Installationen. Im Kunsthaus Bregenz fügt die Künstlerin ihre aktuellen Werke zu einem stimmigen Ganzen.
Bregenz — Geschichte verläuft nicht geradlinig. Sie macht Sprünge, dreht Schlaufen, wechselt das Tempo. Anna Boghiguian (*1946) versucht sie dennoch zu fassen und linear zu erzählen. Die ägyptisch-kanadische Künstlerin mit armenischen Wurzeln muss dabei keinem geschichtswissenschaftlichen Anspruch genügen. Sie kann sich auf die Kraft ihrer Bilder und die Plausibilität ihres künstlerischen Blickes verlassen. Sie beginnt ihre Erzählung mit den Ereignissen kurz vor der Französischen Revolution und in den Vereinigten Staaten im 18. Jahrhundert, schlägt einen Bogen zu den Ereignissen vor dem Ersten Weltkrieg, widmet auch Dada ihre Aufmerksamkeit, packt die Geschichte der Sowjetunion, Nazideutschlands und des faschistischen Italiens in ausgewählte Szenen und befasst sich schliesslich ausführlich mit dem SS-Arzt Aribert Heim. Das alles schildert sie auf 95 Blättern, die Schautafeln gleich im zweiten Obergeschoss des Kunsthaus Bregenz ausgestellt sind. Dicht drängen sich die Figuren auf vielen Zeichnungen, auf anderen porträtiert Boghiguian Einzelpersonen. Interieurs stehen neben Strassenszenen, manche Blätter sind fast vollständig mit Text gefüllt. Das Kolorit wechselt von blassen Tönen über Rot bis hin zu leuchtendenden Farbkombinationen über ausdrucksstarkem, fliessendem Strich. Die enge Reihung der Blätter ergibt eine schlüssige Bildergeschichte. Eingerahmt und ergänzt wird sie durch die Installationen im ersten und im dritten Obergeschoss. In letzterem dreht sich eine runde, spiegelnde Plattform unter roten Scheinwerfern. Von der Decke hängen eine Robe und das Modell einer Guillotine. Durch den Raum klingt die Erzählung der historischen Ereignisse, wie sie im Stockwerk darunter zusammen gefasst sind. Im Verzicht auf überbordendem Kostüm- und Requisitenkitsch wird Geschichte hier durch Atmosphäre und eine künstlerische Haltung zum Erlebnis. Das Gleiche gilt für das erste Stockwerk: Boghiguian zeigt eine erweiterte Version des kürzlich bereits in Venedig ausgestellten Schachbretts mit lebensgrossen Figurensilhouetten. Von Marie Antoinette bis Theodor Herzl, von Egon Schiele bis Rudolf Steiner stammen fast alle aus Österreich. Die Figuren sind teilweise grotesk überzeichnet und mit ungewöhnlichen Attributen charakterisiert. Das unterstreicht ihre Individualität während die nervöse Malweise sie in ihrer Gesamtheit als Teil der Geschichte ausweist, die Boghiguian überzeugend und anschaulich erzählt.