Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Grauer Himmel

St.Gallen — Am Anfang war das Bild. Genauer: eine Zeichnung, schnell hingeworfen aufs Papier. Sie zeigt ein Einfamilienhaus an der St.Galler Schneebergstrasse, Schnee stürzt aus allen Fenstern heraus. Diese Skizze wies den Weg: Warum nicht den Strassennamen beim Wort nehmen? Warum nicht Schnee durchs Haus hindurch transportieren zum steilen Hang dahinter? Warum nicht gleich einen Skilift installieren? Gesagt, getan! Christian Meier, Sonja Rüegg, Thomas Stüssi und Anita Zimmermann haben das Abbruchhaus in eine Bergstation transformiert und eines der vielbeachtetsten Schweizer Kunstprojekte dieses Winters realisiert.
Viele Medien stürzen sich auf die Superlative: das kleinste Skigebiet, die kürzeste schwarze Piste der Welt. Doch der ‹Graue Himmel› ist mehr als eine Sportsensation. Er ist eine kollektive Plastik: Die Vier haben eine Bewegung in Gang gesetzt, die breite Teile der Gesellschaft erfasst hat. Baufirmen liehen ihre Bagger und Transporter, andere halfen mit Material und Technik oder schaufeln, damit der Skilift laufen kann. Treibende Kraft ist die Kunst und ihr Potential, in Bildern zu denken und Emotionen zu wecken. Ob der Schnee zum Skifahren reicht, ist dabei zweitrangig, allein schon das Klappern des Bügellifts, die Beizenatmosphäre und das Begleitprogramm mit bekannten Namen aus der Kunst- und der Sportwelt wecken gemeinschaftliche Erinnerungen an längst vergangene Winter als es noch hiess ‹Alles fährt Ski›.

‹Grauer Himmel›, Schneebergstrasse 50, bis 31. März
grauerhimmel.ch

Die Besties und der Rest – ohne Hierarchien

Zeit zurückzublicken: Seit 70 Jahren engagiert sich die Walter A. Bechtler Stiftung für die Kunst im öffentlichen Raum in der Schweiz. Lorenza Longhi bezieht sich in der aktuellen Ausstellung der Bechtler Stiftung in Uster auf dieses Erbe und zeigt zugleich ihren subjektiven Blick auf die Sammlungen der Bechtler-Familie.

Uster — Junge Künstlerinnen kuratieren zu lassen, ihnen den Blick auf eine Sammlung oder das Werk Anderer anzutragen, führt immer wieder zu besonders sehenswerten Ausstellungen. Die Künstlerinnen wagen unkonventionelle Werkkombinationen, können sich inhaltliche Freiheiten leisten und interpretieren den gegebenen Raum auf eigene Weise. Ein Beispiel für solch eine gelungene kuratorische Arbeit ist die aktuelle Ausstellung in der Bechtler-Stiftung in Uster: «The Best, The Rest, and The Unexpected Guests» zeigt den Blick der Zürcher Künstlerin Lorenza Longhi auf die Sammlungen der Familie Bechtler. Schon der Ausstellungstitel bereitet Freude.
Er verspricht das Unerwartete und weckt gerade damit Erwartungen. Er ist schmissig und erinnert an die Hit-Compilations der 1990er Jahre. Er benennt, was ist, und lässt doch alles offen. Wer sind die Besten? Lohnt sich der Rest? Was machen die Gäste? Und wie passt das alles zusammen? Hervorragend! Denn Lorenza Longhi wertet nicht, sie zeigt. In lustvoller Weise mixt sie formale und inhaltliche Kriterien, sie wartet auf mit gut gesetzten Highlights, sie wählt Klassiker ebenso wie junge Unbekannte und schafft es überdies, das besondere Engagement der Familie Bechtler zu würdigen: Seit ihrer Gründung im Jahr 1955 fokussiert sich die Walter A. Bechtler Stiftung auf Kunst im öffentlichen Raum. Longhi bezieht sich darauf mit einem Bild aus Kaspar Müllers Fotoserie ‹The Weather in Zurich› (2014). Es zeigt Jean Tinguelys ikonische Skulptur ‹Heureka›. Sie entstand 1964 für die Landesausstellung in Lausanne, wurde dort von Walter Bechtler erworben und 1967 am Zürihorn platziert. Die Walter A. Bechtler-Stiftung ist es auch, die im Zellweger Park in Uster hochkarätige Kunst öffentlich zugänglich macht unter anderem von Peter Fischli und David Weiss. Zwei Werke des Künstlerduos sind nun wiederum in Longhis Bestenliste vertreten. Und sie harmonieren in ihrer hintersinnigen Transformation von Alltagsgegenständen beispielsweise mit Werken von Sylvie Fleury oder solchen der Zürcherinnen Sveta Mordovskaya und Miriam Laura Leonardi.
Die Ausstellung feiert die Malerei, sie lässt die Farben knallen und präsentiert formalen Reichtum. Das alles gerät nicht zum Durcheinander, sondern wird in anregende Nachbarschaft gesetzt. Mal führen inhaltliche Anknüpfungspunkte von einem zum anderen, dann wieder schlagen Formen oder Farben eine Brücke. Und einer wacht über das Ganze: Katharina Fritschs ‹Pudel› (1995) behält alles im Blick.

‹The Best, The Rest, and The Unexpected Guests›, Bechtler Stiftung, bis 21. April
bechtlerstiftung.ch

Teddys, Schmetterlinge und Psychoanalyse

Precious Okoyomon ist spätestens seit der zweimaligen Teilnahme an der Biennale Venedig an der Spitze der Kunstwelt angekommen – und nun auch im Kunsthaus Bregenz zu sehen. Die Ausstellung ist sehr persönlich und wartet mit grossformatigen Installationen auf.

Die Einen haben einen Teddy. Die Anderen einen Hasen oder einen Fuchs, einen Humpty Dumpty, ein Einhorn. Fast alle Kinder haben ein Plüschtier oder zwei oder viele. Entweder möglichst naturalistisch oder in Rosa mit Kulleraugen und Glitzerhufen. Precious Okoyomon hatte viele Plüschtiere. Sehr viele. So viele, dass sie bis heute ausreichend künstlerischen Rohstoff liefern. Und dies nicht nur in materiellem Sinne, sondern auch inhaltlich wie die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Bregenz zeigt.
Plüschtiere sind ein guter Stoff: Sie sind Gegenstand psychoanalytischer Betrachtungen, mit ihnen werden die allerersten Bindungen interpretiert, die Trennungsangst und der Trost. Das hat die sogenannten Übergangsobjekte auch in der Kunst immer wieder zu einem ausdrucksstarken Material gemacht. Von Urs Fischer über Mike Kelley bis Annette Messager gab es die Plüschtiere in riesengross, in schäbig, aufgehängt und zu grossen Knäueln zusammengenäht. Ausgedient haben sie damit noch lange nicht, auch nicht in der Kunst.

Plüschtiere als Speicher

Precious Okoyomon arbeitet mit den eigenen Plüschtieren und das ist ein Befreiungsakt: «Als Kind war ich geradezu von meinen Plüschtieren abhängig. Ich nahm sie überallhin mit. Sie haben mich vor der Realität meiner Kindheit beschützt. Ich habe darüber nachgedacht, wie Erinnerungen gespeichert, festgehalten, abgerufen und erschaffen werden. Stofftiere sind Objekte, die kollektive und persönliche Erinnerungen speichern.» Aber dieser Erinnerungsspeicher kann auch zum Ballast werden. Und dann? Precious Okoyomon hat die Plüschtiere auseinander genommen, neu zusammengenäht, ihnen Vogelflügel angefügt und diesen Chimären einen robusten Strick um den Hals gelegt. Stranguliert baumeln sie nun von der Decke des Kunsthaus Bregenz und schicken trotzig ihr Plüschtiergrinsen in den Ausstellungssaal: So schnell geben die Geister der Vergangenheit nicht auf. Vielleicht hilft die Psychoanalyse. Okoyomon besucht zweimal wöchentlich psychoanalytische Sitzungen. Auch dieses Instrument, der eigenen Biografie auf die Spur zu kommen, fliesst in die Ausstellung ein: Okoyomon platziert im Erdgeschoss des Kunsthauses Bregenz zwei Boxen. Beide sind mit einer Chaiselongue und einschlägiger Fachliteratur ausgestattet. In der einen warten eigens geschulte Personen darauf, mit den Ausstellungsgästen in einen Dialog zu treten, in der anderen liegen Fragebögen aus: «Wissen Sie, wie das Wetter am Morgen oder am Nachmittag Ihrer Geburt war?» lautet eine der Fragen, «Haben Sie schon mal ein Haus besetzt?», eine andere. Oder «Sind Sie ein diasporischer Cyborg?» Mal sind die Fragen rätselhaft, mal geradlinig, immer zielen sie ins Ich der Befragten. Die Antworten werden gesammelt und fliessen in Okoyomons Arbeit ein.

Schwarze Schmetterlinge im Kunstgarten

Sollte so viel Mitarbeit zu anstrengend werden, bietet sich im zweiten Obergeschoss ein riesiger Teddy für eine Kuschelpause an. Er liegt auf einem rosafarbenen Teppich, fletscht kleine Reisszähne und ist ansonsten von harmloser Niedlichkeit. Ob sich damit die behauptete intime Atmosphäre einstellt, muss dahin gestellt bleiben. Dafür braucht es in der klaren Architektur Peter Zumthors vermutlich mehr als nur ein rosafarbenes Teppichquadrat und etwas ausgepolstertes Kunstfell.
Im obersten Stockwerk knüpft Okomoyon an die Arbeit in den Arsenale Venedig an: In Zusammenarbeit mit der Blumeninsel Mainau wurde ein Garten eingerichtet, in dem sich Raupen verpuppen und Schmetterlinge schlüpfen – ausschliesslich schwarze Arten. Diese Szenerie in einem Ausstellungshaus hat das Potential, eine magische Stimmung zu entfalten, wäre da nicht hinter einem Netzvorhang die Videoprojektion: Okomoyon sitzt am Steuer eines Kleinflugzeuges bei einem Rundflug über den Hudson River. Paradoxerweise erdet der Flug den benachbarten Garten, denn er wirkt recht pragmatisch. Und er ist ebenfalls eng mit Okomoyons Biografie verknüpft: Mit dem Flugschein stemmte sie als schwarze, queere Person sich gegen gängige Rollen- und Rassenklischees. Im Video sind ausserdem Okoyomons Texte zu hören – hier wird die Ausstellung dann doch intim und poetisch.

Ein Vierteljahrhundert für die Kunst und die Menschen

Das Kunstmuseum Liechtenstein feiert. Mit «Silber steht Dir. 25 Jahre Liebe zur Kunst» spielt es auf die Tradition der Silberhochzeit an. Das Metall dient dabei als Metapher für Wert und Beständigkeit.

Vor 25 Jahren ist der schwarze Baukörper gelandet. Mitten in Vaduz, im kleinteiligen Städtle mit seinen Souvenirshops, dem Schloss, das eher einer Festung gleicht, den Parkplätzen und Pflanzenkübeln. Das Kunstmuseum Liechtenstein ist ein Solitär – als Baukörper wie als Institution. Der Kubus versucht nicht, sich der Umgebung anzupassen, aber er ignoriert sie auch nicht. Die Läden, die Menschen, der Himmel, selbst die Alviergruppe auf der gegenüberliegenden Rheinseite spiegeln sich in der polierten Terrazzohaut des Hauses. Unterbrochen ist sie von grossen Fensterbändern: Wer ins Kunstmuseum Liechtenstein geht, bleibt in Kontakt zur Aussenwelt. Diese architektonische Sprache, mit ihrer Eigenständigkeit und Offenheit, entspricht der Arbeit des Museumsteams von Anfang an. Hin zur Akzeptanz vor Ort war es jedoch ein längerer Weg. Den ist auch die Sammlung des Hauses mitgegangen wie die Jubiläumsausstellung im Kunstlichtsaal zeigt.

Immer wieder neue Nachbarn

Die Geschichte der Museumssammlung beginnt mit der Schenkung von zehn altmeisterlichen Gemälden durch den Künstler Georg Malin im Jahr 1968. Dieses Konvolut, die Geste des Schenkers entpuppte sich als Magnet. Von hier aus konnte es weitergehen: Die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung wurde gegründet, Werke kamen hinzu, der Sammlung wurde ein Zuhause gegeben: Das Kunstmuseum Liechtenstein wurde im August 2000 eröffnet. Seitdem pflegt es eine dynamische Sammlungspräsentation. Die Werke erhalten keinen Stammplatz, sondern immer neue Orte und Nachbarn. Das hat durchaus pragmatische Gründe, denn der Platz in den Ausstellungsräumen ist begrenzt und wird mit den Sonderausstellungen geteilt. Aber dieses Vorgehen bietet grosse Chancen: Die Sammlung präsentiert sich immer wieder neu. Zeitgenössisches tritt mit Klassischem in einen Dialog. Jungspunde interagieren mit Alten Meistern. Malerei findet Parallelen in Videos, dreidimensionaler Kunst oder Performance. Diese Vielfalt bildet nun auch «Silber steht Dir. 25 Jahre Liebe zur Kunst» ab. Allerdings gibt es hier keine inhaltlichen Bezugslinien zwischen den ausgestellten Werken. Formale oder thematische Verbindungen ergeben sich höchstens zufällig. Schwerpunkte werden nicht gesetzt. Stattdessen wird Sammlungspolitik verdeutlicht.

Die Zukunft im Séparée

Aus jedem Jahr seit der Eröffnung des Kunstmuseums haben Museumsdirektorin Letizia Ragaglia und Chefkuratorin Christiane Meyer-Stoll eine in jenem Jahr angekaufte Arbeit ausgewählt. Darunter sind Ankäufe des Museums selbst, Schenkungen, Ankäufe aus Drittmitteln oder durch Stiftungen. Ausgestellt sind Fotografien, Druckgrafik, Gemälde, Skulpturen und Installationen; Kunst in Vitrinen, auf Sockeln, an der Wand und auf dem Boden platziert. Wer durchzählt, kommt allerdings auf mehr als 25 Werke. Der Grund ist die Zukunft im Séparée: Hinter einer eigens eingebauten Wand sind in einer Nische Werke von Ghislaine Leung, von Puppies Puppies und von Sonia Leimer zu sehen. Diese drei Positionen werden in Kürze in der Ankaufskommission diskutiert. Somit ist auch die Erwerbung des aktuellen Jahres bereits Teil dieser Ausstellung, wenngleich noch nichts offiziell entschieden ist.
Und ein weiteres Werk sprengt die 25-er Grenze: An den Wänden zwischen den ausgestellten Bildern hängen Silberfolien im Grossformat. Hier bildet die Ausstellung einen partizipativen Gedanken ab. Die Menschen im Fürstentum Liechtenstein waren eingeladen, zu berichten, wie sich das Land im vergangenen Vierteljahrhundert verändert hat: Was ist ihnen aufgefallen, wie ist es ihnen damit ergangen, was hatte besondere Bedeutung? Aus den Einsendungen haben die Liechtensteinerin Eliane Schädler und der in Ungarn gebürtige Adam Vogt acht Geschichten ausgewählt – genau so viele, wie es Edelmetalle gibt – und sie in Zeichnungen auf Silberfolie übersetzt. Sanft glänzen sie in der Ausstellung, fungieren als ästhetische Bindeglieder zwischen den heterogenen Ausstellungsstücken und schlagen sogar eine Brücke ins Foyer: Zum runden Geburtstag schenkt das Kunstmuseum sich und seinen Gästen eine erneuerte Garderobe. Die Liechtensteiner Künstlerin Hannah Roeckle setzt auch hier auf Silber und verbindet es mit Blau zu einem grossformatigen Wandgemälde. Silber steht dem Museum gut!

Bühnen, Baldachine, Blütenstaub

In Susanne Kellers Objekten materialisiert sich ihr poetischer Blick auf die Welt. Aus unzähligen kleine Gegenständen zusammengefügt und ausgestattet mit klanglichen Fundstücken ist jede dieser Arbeiten eine Wunderkammer. Zu sehen sind vier davon jetzt in der Kunsthalle Wil.

Wil — Märchen, Legenden, historische Begebenheiten, naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Architektur, Archäologie – Susanne Keller (*1980) nutzt vielfältige Inspirationsquellen. Die Zürcher Künstlerin beobachtet, sammelt, wählt aus und entwickelt aus ihren Anregungen und Fundstücken ein ausgesprochen vielfältiges Werk. Dazu gehören Gedichte ebenso wie Objekte, Prosatexte genauso wie Fotografien, Malereien oder Künstlerbücher. Die Kunsthalle Wil zeigt derzeit einen kleinen Ausschnitt aus Susanne Kellers aktueller Arbeit, repräsentativ ist er dennoch. Die Ausstellung enthält Objekte aus drei Werkgruppen, bei zweien gehört eine Tonspur dazu. Ausserdem sind Gedichte und Texte an die Wände gepinnt. Ein Satz daraus könnte als Motto über dem Oeuvre Kellers stehen: «Ich möchte alles auffangen, das Unendliche.» Susanne Keller versucht alles zu umfassen, vom Kleinsten bis zum Grössten, vom Einfachsten bis zum Kostbarsten. Ihre Objekte sind jedes für sich opulente Bild- und Materialwelten. In ihnen ist der Kosmos dem Sandkorn ebenbürtig und die Vogelfeder dem Vulkangestein. Einfachste Dinge wie Papier, Glitzerstaub, Kunstblumen, Plastikblätter, Schnipsel, Perlen, Pailletten, Stoff, Spitze verbinden sich unter den Händen der Künstlerin zu fragilen Gebilden, die mal einem Tempel ähneln und mal einer Theaterbühne wie beispielsweise das ‹Ferienuhrwerk› (2008). Wie in einer barocken Guckkastenbühne staffeln sich die Kulissen bis hin zum Prospekt, der hinaus in den Sternenhimmel führt. Mit Gucklöchern, Lupen und Röhren lenkt die Künstlerin die Blicke. Zu entdecken ist viel. Das gilt für alle ihre Objekte. Das jüngste der ausgestellten ist ‹Fee›, 2024, es ist das erste aus der Werkgruppe der ‹Zwischenwelten›. Susanne Keller arbeitet stets seriell. Sie setzt sich lange mit einem Thema auseinander, recherchiert, reist und verarbeitet ihre vielfältigen Eindrücke. So ist ‹Fee› inspiriert von Besuchen der Etruskerstadt Cerveteri, den dort erhaltenen Grabanlagen, der etruskischen Kultur und Religion. Im Zentrum des Objektes steht Kellers Version einer etruskischen Seepferdskulptur. Darüber breitet sich ein reich geschmückter Baldachin, umgeben ist alles von scherenschnittartigen Wellen – und dem Meeresrauschen, Stimmengewirr und Vogelzwitschern. Keller hat die Geräusche in der Umgebung von Rom eingefangen, aber auch in Zürich und Genf. Dieses Vorgehen zeichnen alle ihre dreidimensionalen Werke aus: Sie sind eine farbenfrohe Synthese von Ideen, Orten, Dingen und Geschichten.

‹Susanne Keller – Das Mädchen auf dem Seepferd aus vulkanischem Gestein›, Kunsthalle Wil, bis 23. März
kunsthallewil.ch

Das Künstlerkollektiv Streunender Hund weckt das Freibad Heiden für einen Tag aus dem Winterschlaf

Bereits im Sommer wurde die Badi zum Kunstort, nun steht das zweite Ausstellungsdatum an: mit neuen Kunstwerken und 16 Künstlerinnen und Künstlern.

Die Camera Obscura ist Rita Kappenthulers und Nathan Federers bevorzugter Fotoapparat. Und sie bauen sie am liebsten selbst. Eine lichtdichte Kartonschachtel genügt, darin dient ein kleines Loch als Objektiv. Dann wird das Fotopapier eingelegt und schon kann es losgehen: belichten und ab in die Dunkelkammer. Dafür braucht es kein Fotostudio, sondern zum Beispiel ein Bademeisterbüro – so wie im Freibad Heiden. Dort hatte das Künstlerkollektiv Streunender Hund im vergangenen Sommer Station gemacht. 
Das Kollektiv ist ein Zusammenschluss von Künstlerinnen und Künstlern, die seit 2018 immer wieder aussergewöhnliche Orte für ihre Kunstprojekte auswählen. Sie haben in der Stube eines Appenzellerhauses ausgestellt, in zwei Dorflokalen in Bühler oder in einem ausgedienten Bus. Für die aktuelle Schau hat sich der Streunende Hund das denkmalgeschützte Freibad in Heiden ausgesucht. Es ist eine Ausstellung in zwei Teilen: Im Sommer hat sie angefangen – an einem sonnig heissen Sonntag. Jetzt wird sie zu Ende gehen, an einem winterlichen Samstag im Februar. Dazwischen liegen fünf Monate künstlerischer Arbeit – allerdings nicht in der Badi Heiden, sondern in den Ateliers aller Beteiligten. So wie bei Rita Kappenthuler und Nathan Federer. 

Willkommene Abwechslung

Kappenthuler ist in Gais aufgewachsen und Bürgerin von Appenzell, Nathan Federer ist in Heiden zur Welt gekommen und hat lange in Berneck gelebt, ihr Atelier haben die beiden in St.Gallen, nahe dem Bahnhof Haggen. Das passt, denn beide sind viel unterwegs mit ihrer Kunst – und ihren Schachtelkameras. Von Italien bis Island reichen ihre Routen. In Sizilien experimentierten sie mit Selbstporträts, In Heiden lichteten sie die Badigäste ab, in Island nahmen sie die Polarsonne auf. Ausserdem zeichneten sie die Lavalandschaften und Erdspalten. Das war für beide eine tiefgreifende Erfahrung: «Wer bist Du, wenn sich die Erde unter Dir immer weiterbewegt? Was hält? Was ist sicher?» Die geologischen Zeichnungen führen sie in Grossformaten im Atelier weiter. Bei dieser intensiven künstlerischen Auseinandersetzung ist Abwechslung sehr willkommen: «Mit den Streunenden Hund können wir eine Zeitlang aus unserem Projekt ausreissen und etwas anderes machen.»
Für die Winterausstellung in Heiden hat das Künstlerduo die sommerlichen Camera Obscura-Aufnahmen in ein Heft gebunden, ausserdem hängen sie Sonnenzeichnungen in das Halbrund neben dem Kinderplanschbecken. Dort war im Sommer eine Wasser-Installation von Sven Bösiger aus Bühler zu sehen. Er wird jetzt beim kleinen Sprungturm einen Tropfstein aus dem Nichts wachsen lassen. Auch Fridolin Schoch ist Gast des Streunenden Hundes. Der Herisauer hatte im Sommer einen Malworkshop angeboten und Papierfächer zu einem Mobile verbunden. Im Winter wird ein übergrosser Fächer am Beckenrand bemalt: Alle neuen Kunstwerke tragen ihre Sommerversionen in sich. So auch bei Kollektivmitglied Harlis Schweizer aus Bühler: Im Sommer hat sie den Badegästen deren Lieblingsmotiv aus der Badi direkt auf den Körper gemalt. Jetzt hat sie die Bilder aus der Erinnerung wieder hervorgeholt und als Hinterglasmalerei festgehalten. Auf diese Weise sind sie nicht nur dem Vergessen entrissen, sondern zugleich wintertauglich festgehalten.

Keine Nägel, keine Löcher

Die Hinterglasbilder platziert Harlis Schweizer auf dem Fenstersims des zentralen Gebäudes und reagiert damit auf eine besondere Herausforderung in der Badi: Wie schon im Sommer dürfen an dem denkmalgeschützten Ensemble keine Löcher gebohrt, keine Nägel eingeschlagen, keine Farben aufgetragen werden. Umso erfinderischer müssen alle Beteiligten sein. Die Gaiserin Birgit Widmer beispielsweise installiert ein besticktes Leinenzelt auf der Rasenfläche des Schwimmbads. Sie erweist damit der norwegischen Malerin Anna-Eva Bermann die Referenz. Eine performative Lesung wird dieses Projekt begleiten.
Ebenfalls auf dem Rasen wird auch der Zürcher Martin Jung agieren: Mit seiner Kochperformance bereitet er dem Grünkern einen grossen Auftritt. Das Korn hat schon in früheren Zeiten viele durch den harten Winter gebracht und wird auch den Streunenden Hund und alle Gäste wärmen.

Durch Bilder reisen

Yves Netzhammer hat seinen ersten Langfilm realisiert. Der in Diessenhofen aufgewachsene Künstler thematisiert die Natur der menschlichen Beziehungen und betont die Künstlichkeit digital erzeugter Bilder, statt sie in detailreichen Imitationen verschwinden zu lassen.

Menschen ohne Gesicht, Geschlecht und Kleidung, Haut ohne Falten, Tiere ohne Fell: Der Künstler Yves Netzhammer verzichtet auf alles, was lebendigen Wesen ein einzigartiges Aussehen verleiht – in seinen Videos und Videoinstallationen ebenso wie in seinem ersten Langfilm «Reise der Schatten». Der von der Kulturförderung des Kantons Thurgau mitfinanzierte Film kommt am 16. Januar in die Kinos und ist ein grosses künstlerisches und filmisches Abenteuer. 
Künstler, die sich in die Filmwelt begeben, hat es zwar vereinzelt bereits gegeben, aber sie sind noch immer Exoten. Das liegt einerseits an den personellen und technischen Ressourcen, die ein Langfilm erfordert, andererseits aber auch an der inhaltlichen Struktur. Langfilme erzählen zumeist lineare Geschichten. In Netzhammers künstlerischen Videos hingehen fügen sich Einzelsequenzen aneinander. Verbunden sind sie durch die starke, einzigartige Bildsprache Netzhammers. Die gesichts- und geschlechtslosen Wesen agieren in symbolischen, abstrakten Räumen. Alles ist auf die Grundform reduziert: Geometrie statt Detail, Farbflächen statt Naturalismus. 
Funktioniert dies auch auf der Kinoleinwand und für ein Filmpublikum? Durchaus! Denn Netzhammer versucht nicht, mit computeranimierten Filmen um Naturnähe oder perfekt imitierte Realität zu konkurrieren. Stattdessen bleibt er seinem eigenständigen künstlerischen Ausdruck treu. Zudem ist sein Film ist nie vorhersehbar, jede Wendung ist möglich, nicht nur technisch, sondern auch gedanklich. Ein Nachen wird zu einer Kammer und wieder zum Boot. Die Sonne multipliziert sich, wird zum Kreis und wieder zur Sonne, dann zur Scheibe, die sich schliesslich als Himmel entpuppt. Ein Blutstropfen wird zur Drohne, ein Stacheldraht zu einer Ranke und wieder zum Stacheldraht. Metamorphosen sind in alle Richtungen möglich. Bildelemente mutieren, Szenen folgen rasch aufeinander, gegenständliche Elemente verwandeln sich in abstrakte Räume oder konkrete Landschaftsausschnitte, die anschliessend in sich zusammenklappen. Schnell kann aus einer Idylle ein Schockmoment werden.
Netzhammers Figur folgt einer Spur, oder wie es der Künstler beschreibt: «Sie versucht immer wieder, sich an ein Gegenüber heranzutasten und Beziehungen einzugehen, scheitert jedoch eins ums andere Mal». Es wird geschnitten, geritzt, zertrennt, gestorben, amputiert, penetriert. Mensch und Mensch oder Mensch und Affe begegnen einander mal auf Augenhöhe, als Gefährten, dann jedoch hilfsbedürftig und in deutlicher Rangordnung. Sie verlieren sich, finden sich wieder, das Drama beginnt von vorn. Das wird jedoch nie langweilig. Einerseits weil Netzhammer virtuos mit seinem künstlerischen Vokabular spielt und sich selten die nächste Verwandlung erahnen lässt. Andererseits berührt der Film nicht nur grundlegende existentielle Themen, sondern setzt sich auch mit hochaktuellen Fragestellungen auseinander: Welche Macht hat die Technik, wie bestimmt sie unser Leben? Drohnen beispielsweise sind im Film allgegenwärtig und lassen Mensch und Tier zu fremdgesteuerten Werkzeugen werden. Im Kontrast dazu bieten klassische, in der Kunstgeschichte oft genutzte Elemente Halt: Buch, Kerze und Spiegel leiten und heilen.
Netzhammers assoziative, traumhafte Erzählung entfaltet einen grossen Sog. Das liegt auch an der Musik von Anthony Pateras. Sie begleitet die Figuren massvoll und stimmig. Abgesehen von dieser Zusammenarbeit hat Netzhammers seinen Film in mehrjähriger Arbeit jedoch allein konzipiert, gestaltet und mit der Rechenleistung von 14 Computern realisiert. Und die zahlreichen Festivaleinladungen geben ihm recht: Der Aufwand hat sich gelohnt, der Erstling muss kein Einzelstück bleiben.

Zwei Künstlerinnen im Zusammenklang

Die Werke von Kim Lim sind in wichtigen öffentlichen Sammlungen vertreten, oft ausgestellt wurden sie zu Lebzeiten der Künstlerin nicht. Jetzt sind sie im Kunstmuseum Appenzell zu sehen: Daiga Grantina hat sich der Arbeit von Kim Lim künstlerisch assoziativ angenähert.

Appenzell — Zwei Positionen aus verschiedenen Räumen, Kontexten und Zeiten in einer dialektischen Zusammenschau – wie das funktionieren kann, zeigen Daiga Grantinas ‹Notes On Kim Lim›. Die 1936 in Singapur geborene Lim lebte ab 1954 bis zu ihrem Tod 1997 in London und arbeitete dort geschult an der Moderne und sich doch abgrenzend von dieser. Grantina, 1985 in Lettland geboren, lebt in Paris und untersucht mit abstraktem Vokabular Körper und Landschaften. Obgleich Jahrzehnte zwischen beiden Oeuvres liegen, sind die Bezüge stimmig und schlüssig. Das liegt nicht nur an den Werken selbst, sondern an Grantinas sorgfältiger Annäherung. Sie hat Lims Arbeiten im Londoner Nachlass eigehend studiert, Verwandtschaften entdeckt und lustvoll inszeniert. In jedem Raum des Kunstmuseum Appenzell hat sie zunächst ein Werk platziert und davon ausgehend nach passenden Zusammenklängen gesucht. So trifft beispielsweise Lims ‹Water Piece›, 1979 auf ‹Clinging, craving›, 2022: Die lebendige Patina der Bronzebecken findet ihren Widerhall in den Farbtupfen auf dem Edelstahlgestänge. Das Wasser spiegelt den Aussenraum neben dem Fenster des Museums. Dieses Scharnier zwischen innen und aussen korrespondiert mit der Durchlässigkeit des begehbaren Rahmens aus den geknickten Metallstäben.
Kim Lim drückt Poesie und Sanftheit in harten Materialien aus, in Marmorblöcken, Portland-Stein, Metall oder Holz. Bei Daiga Grantina sind die Werke weniger fest gefügt als flüchtig, schwer zu fassen in ihrer Form. Sie arbeitet mit Folien, Fäden, Silikon, Ästen, verbindet sie zu räumlichen Gesten in fragiler Balance. Beide Positionen verstärken einander gegenseitig: Die Präzision der einen Künstlerin trägt die Freiheit der anderen. Deren Energie wiederum wirkt zurück auf die feste, klar abzulesende Form der älteren Werke. Eine Brücke schlagen auch das Haus selbst und die Präsentation. Daiga Grantina hat Sockel entworfen, die sie «Wandvorsprünge» nennt oder «Raumecho». Diese vorkragenden, jeweils auf die gesamte Wandlänge gedehnten Konsolen heben die Skulpturen und Objekte auf über Augenhöhe. Sie fangen das Oberlicht des Hauses ein, werfen es zurück an die Wand und bringen die gezeigten Werke gleichsam zum Schweben. Die Atmosphäre in der Ausstellung ist beschwingt und doch konzentriert. Dazu passen die Stimmen im geplanten Künstlerinnenbuch: Katalin Déer wird eine fotografische Spur legen und Ilma Rakusa trägt Gedichte bei.

‹Daiga Grantina. Notes on Kim Lim›, Kunstmuseum Appenzell, bis 4.5.
kunstmuseum-kunsthalle.ch

Grün. Grüner. Wald!

Der Wald kommt gut ohne uns aus, wir aber nicht ohne ihn. Seiner zentralen Rolle für den Menschen widmen sich zwei Ausstellungen im Museum Appenzell und im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil.


Gäbe es keinen Wald, sähe das Museum Appenzell anders aus. Den Dachstock, die Treppen, die Einbauten, selbst den Grossratssaal und viele der Ausstellungsstücke gäbe es nicht. Denn sie sind aus Holz. Der Wald liefert den Rohstoff zum Bauen, zum Werken und für so vieles Andere. Mit Holz wird geheizt, geschnitzt, gedrechselt, auf Holz wird gemalt, gesessen und gegessen – und das seit langem schon. Aber Holz ist bei weitem nicht das einzige Gut des Waldes. Heute noch liefert er den Pilzfans einen Grund für ausgedehnte Streifzüge. Zu früheren Zeiten waren für die Einen Pilze, Beeren und Kräuter ein Grundbestandteil der Nahrung und für die Anderen war es das Wildbret. Von all dem und noch viel mehr erzählt die Ausstellung «Pöschelibock, Waldteufel und Laubsack» im Museum Appenzell. Den Laubsack beispielsweise kennen manche der heute über Achtzigjährigen noch als Schlafunterlage. Mit dem Pöschelibock wurde Restholz gebündelt – auch dieses war eine wichtige Wärmequelle. Der Waldteufel ist nicht etwa ein Fabelwesen, sondern ein Werkzeug zum Heben schwerer Stämme. Ihn und vieles mehr zeigt die von Kuratorin Birgit Langenegger sorgfältig zusammengestellte Schau als Exponat, anderes ist in historischen Aufnahmen zu sehen wie etwa die Rutsche, auf der die Stämme ins Tal donnerten. Spätestens hier wird deutlich, warum die ausgestellten Arbeitsstiefel so wehrhaft aussehen: Waldarbeit war oft Schwerstarbeit in unwegsamen Gelände.
Aber der Wald hat auch andere Seiten: Als er in weiten Teilen noch weg- und steglos war, galt er als verwunschener Ort. Unheimlich und gefährlich war er, finster und doch auch magisch. Damit bietet er idealen Märchenstoff. Erst im 19. Jahrhundert wird aus dem Wald der grosse Sehnsuchtsort der Romantik, bis er schliesslich von der Tourismus- und der Holzindustrie vereinnahmt wird. Auch diesen Kulturwandel klammert die Ausstellung nicht aus. So zieht im Bild «Ftan», 2012 von Hans Schweizer ein Sessellift eine Schneise durch den Wald. Harlis Schweizer hingegen lässt in ihrem Bild die Bäume bis ans Haus wachsen – oder hat sich das Gebäude in den Wald hineingefressen? Die zeitgenössischen künstlerischen Positionen bereichern die Ausstellung um wichtige Sichtweisen. Ueli Alder taucht den Wald in seinen Fotografien in aussergewöhnliches Licht: Detailscharf und pinkfarben präsentiert er sich und entzieht sich doch. Birgit Widmer übersetzt die Stille im Wald in formal reduzierte Bilder von Stämmen, Ästen und Zweigen. Marlies Pekarek ist zweien der prägendsten Märchengestalten auf der Spur: dem Wolf und dem Rotkäppchen. Eine ganze Wand füllt die St.Galler Künstlerin mit collagierten, verfremdeten historischen Illustrationen. Reine Idylle spricht aus zarten Zeichnungen der Illustratorin Käthi Bhend. Sie begeistern Kinder und Erwachsene seit Jahrzehnten. Auch Behnds grosses Vorbild Pia Roshardt ist in der Ausstellung vertreten, und ein Wald-ABC der Herisauerin Christine Gsell rundet die Ausstellung ab.
Wer dieser Waldvielfalt ein weiteres Kapitel hinzufügen möchte, sollte sich nach Rapperswil auf den Weg machen. Hier zeigt das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil «Denn in den Wäldern sind Dinge…». So schrieb es Franz Kafka an seinen Freund Max Brod im Jahr 1918 auf eine Postkarte und weiter: «… über die nachzudenken man Jahre lang im Moos liegen könnte.» So kontemplativ bleibt es in der Ausstellung nicht. Lutz & Guggisberg beispielsweise lassen es in ihren grünen Gemälden krachen. Hier ist die Welt aus den Fugen und mit der Waldidylle ist es auch nicht weit her. Allerhand merkwürdige Gestalten wuseln umher, was sie im Schilde führen, bleibt besser offen. Viviana González Méndez haben es die Gerüche des Waldes angetan. Akribisch notiert sie, wie lange es wonach duftet, und stellt den Umfang von Moderduft und Moosgeruch, von Tannenaroma und Faulgasen in Form unterschiedlich grosser Stoffflächen dar. Der Umweltforscher und Künstler Marcus Maeder überträgt die Töne einer Kiefer im Wallis in den Ausstellungssaal: Sie knackt unter dem Einfluss der Sommerhitze. Der Gang durch die Ausstellung wird zu einer Exkursion durch die Vielfalt der Kunst: So reich und vielgestaltig der Wald, so unterschiedlich die Materialien und künstlerischen Herangehensweisen: Pilze leuchten, Tiere verwesen, ein Traktor hat sich in die feuchte Erde gegraben. Es grünt, es blüht, es wächst und vergeht. Möge der Wald erhalten bleiben.

Denn in den Wäldern sind Dinge

Rapperswil — Der Wald brennt. Der Wald ist zu trocken. Der Wald stirbt. Er wird aufgeforstet. Er erholt sich und wächst. Der Wald steht unter Beobachtung. Wir brauchen ihn. Er stabilisiert das Klima, steile Hänge und wirkt sich günstig auf das menschliche Befinden aus. Er hat Kulturen geprägt und die Kunst inspiriert, denn der Wald ist für die Menschen nicht nur erholsam und nützlich, er ist auch märchenhaft und wundersam. Das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil zeigt, wie dieser Themenreichtum mit formaler Vielfalt einher geht. Viviana González Méndez beispielsweise sammelt bei Streifzügen die Gerüche des Waldes ein. Akribisch notiert die in Baden und Bogota lebende Künstlerin Dauer und Art der Duftwolken und übersetzt dies in kunterbunte Textilflächen aus Gebrauchtkleidern. Marianne Engel ist dem Magischen in der Natur auf der Spur. Die Künstlerin lebt im Aargau nahe und mit dem Wald. In Rapperswil installiert sie in einer dunklen Kammer fluoreszierende Pilze, hält das Verwesen in Abgüssen und Abdrücken fest und zeigt Fotografien aus finsterer Nacht mit blitzhell ausgeleuchteten Fliegenpilzen oder knorrigen Ästen. Hier wird deutlich, warum der Wald in früheren Zeiten nicht nur positiv besetzt war, sondern als geheimnisvolle, ja gefährliche Zone galt.
Die Ausstellung in Rapperswil ist zwar eine Gruppenausstellung, setzt dabei aber auf grössere Werkgruppen der Künstlerinnen und Künstler. Dadurch können sich die Positionen besser entfalten und einen tieferen Eindruck hinterlassen. Von Monica Ursina Jäger, die sich sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch mit der Natur auseinandersetzt, sind drei Werkgruppen zu sehen und Lutz & Guggisberg zeigen neben Plastiken über dreissig grüne Gemälde. Darin explodiert, blitzt und strahlt es; Wesen wuseln, krabbeln und wundern sich; die Welt geht unter und wieder auf. Das macht Spass, auch wenn der Wald zur Nebensache gerät. Dafür wird er in ‹Mastering Bambi› des niederländischen Duos Persjin Broersen und Margit Lukács zum Hauptakteur. Sie zeigen eine digitale Version des Disney-Filmklassikers, aber ohne Bambi, Klopfer, Blume und all die anderen Tiere. Hier spielt der Wald sich selbst. Er ist physischer und fantastischer Raum. Er eignet sich für Projektionen und Reflexionen, oder wie es Franz Kafka an seinen Freund Max Brod im Jahr 1918 auf einer Postkarte schrieb: «Denn in den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man Jahre lang im Moos liegen könnte.» – was für ein passend gewähltes Motto für diese Ausstellung.

Kunst(Zeug)Haus Rapperswil, bis 2.2.

kunstzeughaus.ch