Die Kunst auf der Strasse

by Kristin Schmidt

Strassen und Plätze sind spätestens seit den 1960er Jahren der Ort für radikale und poetische künstlerische Aktionen. Das Kunstmuseum Liechtenstein widmet ihnen eine gross angelegte Ausstellung.

Francis Alÿs schob 1997 einen Eisblock durch Mexico City. Pope L. kroch in den frühen 2000er Jahren im Superman-Anzug durch New York. Stanley Brouwn liess sich 1992 in Amsterdam von zufällig ausgewählten Menschen den Weg zeigen. Für viele Künstlerinnen und Künstler ist die Strasse ein wichtiger Aktionsraum. Für andere ist sie ein Ort für Beobachtungen oder ein Reservoir von Dingen, die sich sammeln lassen. Das Kunstmuseum Lichtenstein widmet der Kunst auf der Strasse eine umfangreiche und sehr sehenswerte Ausstellung. Das ist nicht selbstverständlich, denn das Konzept birgt ein Dilemma: Was passiert mit der Kunst der Strasse, wenn sie ins Museum geholt wird? Wie gelingt es, sie lebendig zu halten? Ein Mittel ist die durchdachte Ausstellungsarchitektur und Szenografie: Sie lädt gleichermassen zum Flanieren wie zum Innehalten ein.

Auflesen und Sammeln in der Stadt

In jedem Raum gibt es graue Plattformen mit Bank- und Wandelementen. Sie bilden einen kleinen Platz und sind den Werken der Pioniere und Pionierinnen vorbehalten. Zu diesen gehört beispielsweise Agnès Varda, die 2019 verstorbene Filmemacherin der Nouvelle Vague. Ihr später Film «Les glaneurs et la glaneuse» wird hier in Ausschnitten gezeigt und einmal im Monat im Auditorium in voller Länge.
Agnès Varda hat Menschen begleitet, die auf Feldern, Wochenmärkten und in Strassen Übriggebliebenes auflesen. Das Motiv des Sammelns ist zentral in dieser Ausstellung. So sammelt der in Wien lebende Rumäne Ovidiu Anton Graffitis. Die schnellen Schriftzüge übersetzt er in Leerstellen, indem er deren Kontur auf weissen Blättern sorgsam umstrichelt. Die Brasilianerin Rivane Neuenschwander liest Dinge auf wie weggeworfene Fahrscheine, Kassenzettel, Einkaufslisten, abgerissene Kofferanhänger oder Preisschilder und ordnet diese Zufallsfunde.

Hinsehen statt Wegschauen

Immer wieder in der Ausstellung fällt diese besondere Aufmerksamkeit für das oft Übersehene auf. Die Künstlerinnen und Künstler richten ihren Blick dorthin, wo andere ihn mitunter abwenden. Sie messen auch dem augenscheinlich Wertlosen einen Wert bei. Sie würdigen kleine Dinge ebenso wie kleine Gesten. Und sie finden diese Gegenstände oder Ereignisse nicht nur, sondern inszenieren sie auch selbst. So hat beispielsweise der Tscheche Jiří Kovanda in Prag minimalistische Aktionen durchgeführt. Er hat Zucker und Salz aufgehäuft zu einer süssen Kurve und einer salzigen Ecke. Er hat Strassendreck zusammengefegt und wieder verteilt oder sich in der Menschenschlange auf der Rolltreppe plötzlich umgedreht und seinem Gegenüber ins Gesicht geblickt. Die Fotografien dieser Aktionen sind verteilt durch die ganze Ausstellung.
Auch dadurch ist dem Museum ein lebendiger Parcours gelungen: Von fast allen Künstlerinnen und Künstlern sind mehrere Werke zu sehen – an unterschiedlichen Stellen der Ausstellung. Darüber hinaus mischen sich ältere und ganz neue Werke und die künstlerischen Gattungen: Fotografien, Filme, Installationen oder Objekte erhalten alle einen gleichberechtigten Platz.

Die kalte, abweisende Stadt

Damit es in dieser Themen- und Materialfülle kein Durcheinander gibt, ist jedem Raum ein Thema zugeordnet. Das Auflesen und Sammeln bilden den Einstieg. Es folgt das Gehen oder Flanieren im zweiten Saal. Der dritte ist dem Erhalten, Pflegen und Putzen des Stadtraumes gewidmet und der vierte schliesslich dem Leben auf der Strasse und dem Protest. So fügte die Chilenin Lotty Rosenfeld Strassenmarkierungen einen Querstreifen hinzu. Ihre Kreuze gelten als Vorläufer der No+-Bewegung, die schliesslich zum Ende der Pinochet-Diktatur führte. Die negativen Seiten des Stadtraumes thematisiert unter anderem Anna Jemolaewa. Als die Künstlerin nach ihrer Flucht aus Russland 1989 im Wiener Westbahnhof ankam, waren die Bänke in der Bahnhofshalle ihr einzig möglicher Schlafplatz. Auch das ist Kunst auf der Strasse: Sie zeigt die kalte und abweisende Seite einer Stadt, die der Ökonomie mehr dient als den Menschen.