Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Kosmisches in Kreuzlingen

Der Kunstraum Kreuzlingen präsentiert zwei Positionen in einer Doppelausstellung: Blankenstein und Berrada. Beide Künstler bauen Universen – im grossen und im kleinen Massstab.

Oben gleissendes Licht und fliehende Linien, unten brodelnde Ursuppe und Gestaltwerdung im Halbdunkel – der Kunstraum Kreuzlingen zeigt zwei Künstlerpositionen, die sich aufs Beste ergänzen. Der in Zürich lebende Heiko Blankenstein (*1970) präsentiert im Erdgeschoss eine vielansichtige Holzstruktur. Sie öffnet Guckkästen in komplexe Zeichnungslandschaften und lenkt den Blick doch stets aufs Andere: auf die wie weisse Linien sich schlängelnden Kabel, auf die Leuchtstoffröhren, auf eine kristalline Plastik inmitten der Holzbalken. Blankenstein spielt mit den Präsentationsformen der Kunst und unterläuft jede Festlegung. Alle Linien streben von einem instabilen Zentrum aus in den unendlichen Raum. Dynamisch sind auch die Bilder im Untergeschoss, doch statt Geometrie und Konstruktion dominieren hier organische, sich stets wandelnde Formen. Der Pariser Künstler Hicham Berrada (*1986) inszeniert einen Mikrokosmos im Säurebad. Gleich einem unsichtbaren Zeremonienmeister wirft er immer neue Elemente hinzu und filmt die geheimnisvollen Metamorphosen. Auf drei grosse Flächen projiziert wachsen nun in Zeitlupe magische Landschaften. Es rieselt, wogt und wabert – kleine Universen entstehen und vergehen wieder.

Erlebnis Leeder

Den inneren und den äusseren Tänzer zu fördern war das Credo von Sigurd Leeder. Dem begnadeten Tänzer und Tanzpädagogen ist eine Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell gewidmet.

Starre Formen, vorgegebene Choreographien, hochspezialisierte, körperfeindliche Techniken: Das klassische Ballett besitzt ebensoviele Konventionen wie es Angriffsflächen bietet. Oder geboten hat, denn inzwischen ist das Spektrum des etablierten Bühnentanzes breit und die Genres werden an den meisten Hochschulen gleichberechtigt unterrichtet mit dem Ziel kreative Tanzschaffende auszubilden. Der Ausdruckstanz war dafür wegbereitend. Seine Protagonistinnen und Protagonisten stemmten sich nicht nur gegen formale Konventionen des Balletts, sondern krempelten auch die Lehre vollständig um. Ein Name taucht in diesem Zusammenhang immer wieder auf: Sigurd Leeder. Der gebürtige Hamburger hatte selbst nie eine Tanzausbildung absolviert, er war als Tänzer ebenso Autodidakt wie als Pädagoge. Und doch gehört er zu den Grossen des 20. Jahrhunderts. Wenn seine ehemaligen Schülerinnen und Schüler über ihre Zeit an der Sigurd Leeder School of Dance berichten, geraten sie schnell ins Schwärmen. Sie berichten davon, wie Leeder sie befähigte, einen eigenen Ausdruck auf die Bühne zu bringen, ihr Raum- und Körpergefühl zu entwickeln, wie er Eigenheiten und Qualitäten erkannte und stärkte sowie künstlerische Prozesse auslöste.

Zu Leeders Schülerinnen gehört auch Evelyn Rigotti. 1959 war sie Absolventin der an Sigurd Leeders Schule in London und bildete sich nach dem Umzug der Institution 1964 ins ausserrhodische Herisau dort weiter. Rigotti schöpft bis heute aus den von Leeder vermittelten Techniken und Bildern. Und sie engagiert sich gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern dafür, dass Leeders Werk zugänglich bleibt: Zehn seiner Etüden werden derzeit wieder getanzt und auf DVD festgehalten. Das Ausgangsmaterial sind einerseits die Tanznotationen – eine von Rudolf von Laban entwickelte Verschriftung von Tanzbewegungen – und andererseits die Erinnerungen derer, die diese Etüden tanzten.

Originalgetreu werden selbst kleinste Bewegungen für die DVD-Aufnahmen neu geprobt. Keine leichte Aufgabe für Tänzerinnen und Tänzer, die lange nach der Zeit des Ausdruckstanzes studierten. Denn seither hat sich noch einmal vieles verändert im Tanz. Was also sagen diese Etüden heutigen Tanzschaffenden? Für die drei Tänzerinnen Alena Kundela, Hella Immler und Marula Eugster ist die sorgfältige Arbeit an Leeders Choreographien eine Zeitreise und eine Begegnung mit längst vergangen Methoden, die sie kaum ins aktuelle Übungsrepertoire übernehmen werden. Umsonst ist die Mühe dennoch nicht, da sie als Baustein dienen wird, das Erbe des grossen Tänzers und Tanzpädagogen zu bewahren.

Sigurd Leeder starb 1981. Die Herisauer Tänzerin und Choreografin Grete Müller führte seine Arbeit weiter und sammelte deren Zeugnisse. Die rund 12 000 Schriftdokumente und Objekte aus dem Nachlass Leeders wurden 2010 dem Schweizer Tanzarchiv übertragen. Dort wurden sie nicht einfach verräumt, sondern erforscht. So fragte das Archiv bei Evelyn Rigotti an, ob sie Schülerinnen und Schüler auf den historischen Fotografien identifizieren könne. Ein Teil der Arbeit floss in die Ausstellung „Sigurd Leeder – Spuren des Tanzes“ ein. Im vergangenen Jahr wurde sie im Museum für Gestaltung Zürich gezeigt, nun sie in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell zu sehen. Die Vielfalt ist des Materials ist beeindruckend und gut präsentiert: Historische Filmaufnahmen begegnen Videoausschnitten heutiger Interpretationen der alten Stücke. Plakate und Programmhefte verweisen auf die öffentlichen Auftritte und damit die Aussenwirkung der Schule. Reinschriften der Notationen werden Fotografien der entsprechenden Sequenzen gegenübergestellt. Masken und Kostüme überführen die fotografische Dokumentation in eine dreidimensional anschauliche Form. Unter den Fotografien findet sich so manche Aufnahme, die den TanzRaum Herisau in seiner früheren Nutzung durch die Sigurd Leeder School of Dance erkennen lässt. Auf den Bildern ist Leeder immer wieder selbst als Tänzer und Tanzpädagoge zu sehen. Sie zeigen seine Ausdruckskraft und Bewegungseleganz genauso wie die harmonische Stimmung im Unterricht und der Funke, den er auf seine Schülerinnen und Schüler übertrug, springt noch heute über.

Solenthaler Kalender – Lika Nüssli

Jeder Strich ist ein Wagnis. Lika Nüssli zeichnet nichts vor, retuschiert nicht nach. Der Pinselstrich gilt, er ist immer am richtigen Platz. Er ist unwiderruflich und doch lebendig, geführt mit sicherer Hand und gelenkt vom aufmerksamen Blick der Künstlerin für die Welt. Eine Struktur im Bauschutt ist für sie ebenso anregend wie eine spiegelnde Wasseroberfläche; ein Arbeitshandschuh zwischen Metallspänen ebenso wie ein halb geöffnetes Tor. Unmittelbar und dennoch reflektiert greift Lika Nüssli sowohl kleinste Details wie auch grosse gesellschaftliche Themen auf. Sie entwickelt daraus ihre poetischen, mitunter rätselhaften und zugleich engagierten Zeichnungen. Die schwarzen Tuschestriche fügen sich zu Menschen, Tieren und unergründlichen Wesen oder einem tiefen, schwarzen Fleck. Unbeeindruckt, fröhlich grinst ein Kind, woanders huscht ein Tier vorbei. Ein Vogel sucht den Himmel, die Surferin auf dem Baumstamm hat ihn gefunden. Jetzt sind sie da, bereit für ihre Weiterreise. Die Künstlerin lässt sie ziehen, sie wird neue Linien zu neuen Bildern fügen.

Erwachsenenbuch statt Frauensache

Die St.Galler Künstlerin Marlies Pekarek hat den aktuellen lista office Kalender gestaltet. Sie präsentiert eine reich bebilderte Agenda mit einem vielfältigen Bezugssystem.

Brauchen Frauen eine andere Agenda als Männer? Wenn ja, warum? Was muss eine Frauenagenda haben, was eine Agenda für Männer nicht hat, und umgekehrt? Was gehört überhaupt in eine Agenda ausser einem Kalendarium? The Australian Womens Diary ist eine Agenda für Frauen. Sie wurde in den Jahren von 1985 bis 1998 herausgegeben und enthielt Sinnsprüche, Bilder und Ratschläge; sie wartete auf mit Werbung und Wissen, mit Vignetten, Modeaufnahmen, einer Seite für Familiengeburtstage und mit Platz für tägliche Notizen. Dieser war so bemessen, dass neben knappen Einträgen zu Uhrzeit, Ort und Anlass auch Gedankenschnipsel und Erinnerungen festgehalten werden konnten.

Die australische Frauenagenda steht damit in der Tradition der Tagebücher, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert zur Dokumentation eines moralisch einwandfreien Lebenswandels anhalten und Frauen darüber hinaus auf privates Schreiben fixieren sollten. Zugleich weist The Australian Womens Diary zu jenen Büchern einen grossen Unterschied auf: Die vorgedruckten Inhalte der Frauenagenda suggerieren Allgemeingültigkeit. Die ausgewählten Abbildungen, die jahreszeitabhängigen Gesundheits- und Verschönerungshinweise, die an christliche Festtage gebundenen Botschaften sollen als vorgefertigte Inspirationsquelle für das alltägliche Leben dienen und richten sich dabei an Benutzerinnen eines fest definierten Kultur- und Gesellschaftskreises. Dem widerspricht auch das Quellenmaterial nicht, sondern dokumentiert den ungebrochenen Einfluss der britischen Monarchie. Die Vorlagen vieler Bilder entstammen dem ausgehenden 19. Jahrhundert – einer Zeit, in der die reich bebilderten Tagebücher der Königin Victoria Vorbildcharakter erlangten.

Marlies Pekarek wurde bei ihrem ersten Atelieraufenthalt in Australien auf die reich illustrierten Kalenderbücher aufmerksam. Sie trafen einerseits auf das visuelle Gespür der Künstlerin und andererseits auf ihr Interesse für unterschiedliche kulturelle Traditionen, Rollenbilder und historische Schlüsselereignisse. Sie begann die Frauenagenden zu überarbeiten, sich mit dem Vorgefundenen auseinanderzusetzen und tagesaktuelles Bildmaterial hinzuzufügen. Die Resultate dieser Arbeit publizierte sie unter dem Titel „Time Shifts, Patterns Stay the Same – The Australiens Womans Diary“.

Das Buch lebt von der künstlerischen Handschrift Pekareks. Sie hat ausgeschnitten und überklebt, hat Individualität aufgelöst und Gleiches zu Reihungen aneinandergefügt. Tradierten Rollenklischees hat sie unkonventionelle Frauenbilder entgegengesetzt oder bis ins Absurde zugespitzt und damit westliche Selbstverständlichkeiten ebenso hinterfragt wie Geschlechterstereotypien anderer Kulturkreise.

In der vorliegenden Agenda treibt Marlies Pekarek ihr hintersinniges Spiel weiter. Ein reproduzierter Glanzbildbogen, ein zehnfaches Porträt der jungen Königin Elizabeth II. bildet den Auftakt der Agenda und knüpft an das früher verwendete Bildnis der Königin Victoria an. Wenige Seiten weiter hebt eine junge Frau scheinbar gottesfürchtig ihren Blick, sie ist unter der Haube, aber schulterfrei. Ihren Kopfputz krönt eine Mango. Die Künstlerin versammelt hier mehrere Andeutungen auf Bildthemen, die sowohl innerhalb der Agenda als auch in ihrem gesamten Werk bedeutsam sind. Christlicher Habitus trifft hier auf aufreizende Kleidung, Spitze – angedeutet durch ein papiernes Platzdeckchen – trifft auf den Schleier, westliche Gestaltungselemente auf die fernöstliche Frucht, mitten drin sitzt die Haube als be- und abschirmendes Element.

Bald darauf taucht auch die Mango wieder auf und einmal mehr verknüpfen sich mehrere Bildstränge auf einer Doppelseite. Die Mango entpuppt sich als eines jener Exemplare, die Mao 1968 als Gastgeschenk des pakistanischen Aussenministers erhalten und huldvoll an seine Propagandatruppen weiterverschenkt hatte. Sie lösten eine Mangohysterie aus, die sich umgehend mit dem Maokult verband. Mangos wurden in Wachs nachgebildet, auf Kissen gelegt und in Prozessionen mitgetragen – die Nähe zur religiösen Reliquienverehrung ist hier ebensowenig zufällig wie das christliche Kreuz auf der nächsten Doppelseite.

Jeder Kult lebt von Symbolen. Marlies Pekareks hat ein dichtes Geflecht von Symbolen über ihre Agenda gelegt: vom Ei über die Maske, den Schleier, den Absatzschuh bis hin zu einer vielfältigen Tiersymbolik. Neben dem Affen und dem Hasen ist vor allem der Hund, der in Zeichnungen, Texten, collagierten Drucken oder Fotografien gezeigt wird. Er lässt sich als Verweis auf das Jahr des Hundes lesen, steht aber zugleich für die weit verzweigten Bezugssysteme, in denen Marlies Pekarek arbeitet. Der Hund ist zu sehen als Gefährte des Menschen, als Nachfahre des Wolfes, aber auch als Dekorationsobjekt und indirektes Zahlungsmittel. So liegt der Agenda ein eigens produzierter Glanzbildbogen mit abgebildeten Porzellanpudeln bei. Die Doppeldeutigkeit dieser Figuren erschliesst sich über den abgedruckten Text und steht im Kontrast zu den Heile-Welt-Sujets der herkömmlichen Glanzbilder. Immer wieder unterwandert Marlies Pekarek das vermeintlich Harmlose mit feinsinniger Ironie, schickt Promenadenmischungen unter die Reinrassigen und macht aus einer Frauenagenda ein vieldeutiges Erwachsenenbilderbuch.

Pose und Haltung

St. Gallen: Die Musik ist der rote Faden. Seit Jahren fotografiert Georg Gatsas die Protagonistinnen und Protagonisten urbaner, subkultureller Musikszenen. Er fotografiert sie nicht aus dem Blick des Beobachters heraus, sondern taucht ein in die Netzwerke, die Städte, die Nächte und Clubs. Die Porträtierten stellen sich seiner Kamera, sie tun es im Bewusstsein um die Nähe zur Kamera und zum Künstler, aber auch im Bewusstsein um die Eigendynamik der fotografischen Veröffentlichung. Sie inszenieren ihr Widerstreben ebenso wie ihre Lust an der Aufmerksamkeit. Diese fragile Balance zeichnet nahezu jede Porträtaufnahme in der Ausstellung des diesjährigen Manor-Kunstpreisträgers im Kunstmuseum St.Gallen aus – ganz gleich ob sie ohne einen bestimmten Verwendungszweck entstand oder für ein Plattencover gedacht war. Jedes der Bilder Georg Gatsas´ ist eine sorgfältige Momentaufnahme, deren Charakter von den Porträtierten getragen wird und somit bei einigen Beispielen beiläufig oder abweisend wirkt bei anderen minutiös geplant und herausfordernd.

Im Kunstmuseum St.Gallen sind die Porträts vor allem im ersten Ausstellungsraum zu sehen. Durch die Präsentation von auf die Wand tapezierten Grossformaten, gerahmten Bildern und an die Wand gepinnten Blättern ergibt sich ein abwechslungsreicher Parcours, der mit Gatsas´ verzweigten Wegen durch die global agierende Szene korrespondiert. So fanden Treffen mit der südafrikanischen Sängerin Performerin Manthe Ribane in St.Gallen, London und Johannesburg statt.

London und New York sind besondere Kristallisationsorte für die zeitgenössische Musik und somit für das Werk des 1978 in Grabs geborenen Künstlers. Hier entstanden die Serien «Signal the Future», «Five Points» und «The Process». Auszüge davon sind im zweiten Ausstellungsraum zu sehen – in einem ebenso stimmigen Format- und Präsentationsmix wie im ersten Raum, hier noch bereichert durch den Wechsel zwischen Schwarzweiss und Farbe. In vielen der nächtlichen Stadtaufnahmen verschwindet der Hintergrund in tiefem Schwarz. Nur Details scheinen auf, eine Pfütze, ein ausrangierter Sessel, ein Maschendrahtzaun. Das kann alles überall sein und ist zugleich Ausdruck einer besonders geschärften Wahrnehmung für Poesie und Tristesse einer Grossstadt.

Falten in die Unendlichkeit

„à discrétion“ als Zündfunke: Auf der Suche nach einem geeigneten Gasthaus für ihre Kunst entdeckte Vera Marke die Krone in Herisau. Unter ihren Händen und dank des Engagements der Wirtsleute verwandelte sich ein unansehnliches Getränkelager in ein Fest der Malerei und in einen würdigen Auftakt für die Rokokostube im Obergeschoss. „Triade“ wurde mit dem Prix Visarte als herausragendes Kunst und Bau-Projekt gewürdigt.

Kobalt Mattblau. Rebschwarz. Caput Mortuum, dunkel. Alizarin Krapplack, dunkel. Elfenbeinschwarz. Venetianischrot. Kobalt Sapporo. Umbra. Umbra Natur. Klingende Namen, variantenreiche Pigmente. Sie auf der weissen Wand zu sehen ist eine Lust. Der helle Untergrund bringt selbst Braun zum Leuchten. Die Farben streichen über die Wand, sie mäandern, züngeln, schwingen in Bändern aus, treffen aufeinander, entfernen sich wieder, sind zart hingehaucht oder mit Vehemenz aufgetragen – sie fliegen über das Weiss und sind doch Teil desselben: Vera Marke hat ein Fresko gemalt. Dafür werden Pigmente direkt auf den noch feuchten Putz gestrichen. Was harmlos klingt, ist ein künstlerisches Wagnis, da alles in jenem Moment passieren muss, da der Putz saugfähig ist. Alles entsteht am Stück, nichts lässt sich vertuschen, jeder Farbtupfer ist für immer gesetzt.

Eine technische und historische Herausforderung

Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich die Vera Marke mit dieser Königsdisziplin der Malerei, dank „à discrétion“ kam endlich die Gelegenheit, ein grossformatiges Fresko zu realisieren: Für diese Ausstellung waren Preisträgerinnen und Preisträger der Ausserrhodischen Kulturstiftung und der Innerrhoder Kunststiftung eingeladen, für ein Appenzeller Gasthaus ihrer Wahl ein Kunstwerk zu entwickeln.

Vera Marke ist Malerin und suchte nach Malerei als Kontrapunkt, Dialogpartner und Anreiz zur Auseinandersetzung. Fündig wurde sie im Gasthaus Krone in Hundwil. Hier befindet sich im ersten Stock neben der Wirtsstube eine vollständig ausgemalte Rokokostube. Decke, Balken, Türen, Täfer und Wandschrank sind prachtvoll gestaltet. Drei Farben dominieren und drei malerische Handschriften können voneinander geschieden werden. Die ganze Stube ist in blau, weiss und rot gehalten, was ihr den Übernamen „Napoleonstube“ einbrachte. Die Farben freilich sind gedunkelt. Sie sind vergilbt, an manchen Stellen abgestossen, an anderen Stellen drücken tiefer liegende Schichten durch. Dennoch sind sie hervorragend erhalten und zeigen deutlich die Eigenheiten dreier Maler. Decke und Wände sind von schneller Hand mit Rocaillen, dem Hundwiler Wappen und der Darstellung des Heiligen Geistes als Taube dekoriert. Bei letzterer zeigt sich der Pragmatismus, der in einem Wirtshaus zwangsläufig vorherrscht: Die Taube ist nur halb zu sehen, da die mittige Saalbeleuchtung genau dort ihren Platz hat.

Die Stuben- und Kastentüren hat ein zweiter Maler mit Genreszenen geschmückt. Wie Fenster öffnen sich die sicher und routiniert gemalten Rechtecke in eine französisch-höfisch inspirierte Welt. Geziert, grazil bewegen sich die Figuren in einer artifiziellen Umgebung, alles ist in blau und weiss gehalten.

Der dritte Meister schliesslich hat den Laden gestaltet, der Gastwirtschaft und Stube voneinander trennt. Sein Anspruch ist zweifelsfrei der höchste. In drei grossformatigen Szenen zeigt er den Gründungsmythos der Schweizerischen Eidgenossenschaft: Rütlischwur, Tells Apfelschuss und Tellen-Sprung. Der Historiker Thomas Fuchs hat zu diesem Werk eine detaillierte formale und inhaltliche Analyse vorgelegt und dabei die Geschichte des Gasthauses einbezogen.

Vom Abstellraum  zum würdigen Entrée

Der Dreiklang der Maler und Farben fügt sich zu einem dichten Gesamtkunstwerk, dem jedoch der angemessene Auftakt fehlte: Über die Zeit hatte sich der Eingangsbereich des Gasthauses zum Harassenlager entwickelt. Für Denkmalpfleger Fredi Altherr ein dringender Fall, denn das Foyer bereitet idealerweise auf das oberen Stockwerk vor, spielt mit ihm zusammen. Dank der Arbeit Vera Markes, der Begeisterung der Wirtsfamilie Speck für das überzeugende Konzept der Künstlerin ist die neue Verbindung nicht nur künstlerisch, sondern denkmalpflegerisch exemplarisch gelungen: Die Eingangssituation wurde gesichert und gefestigt, das Holz und die Eisentüre abgelaugt, die Malschichten neu aufgebaut und der alte Verputz wich dem virtuosen Fresko. Dessen Farben nehmen den Dreiklang aus dem Saal wieder auf. Auch die Gestaltung der Deckenbalken antwortet derjenigen des Obergeschosses. Auf der Wand jedoch breiten sich mit „Triade“ die Marmorierungen aus, verwandeln sich in Falten und Verästelungen und lassen sich von Hundwil aus ins Unendliche weiterdenken.

Visarte, der Schweizer Berufsverband visuelle Kunst, hat Vera Markes Arbeit mit dem Prix Visarte 2017 ausgezeichnet und damit als wegweisendes Projekt gekennzeichnet, um Kunst im öffentlichen Raum mehr Gewicht in Gesellschaft und Öffentlichkeit zu verleihen.

Obacht, 2017/3

Skeptischer Raum

Christoph Eisenring (*1983 in Frauenfeld) arbeitet an der Grenze des Sichtbaren. Er sucht das Unscheinbare, das Beiläufige. Er wählt es aus und hebt es hervor, um es mit diesem Akt des Heraus- und Hervorhebens wieder verschwinden zu lassen wie etwa den Gipsabguss eines Lichtschalters oder eines Autoreifens vor weisser Wand, die weiss lackierten Kettenglieder auf ebenso weissem Sockel oder die Fotografie eines weissen Teigschabers auf weissem Grund. Der in Winterthur und Schaffhausen lebende Künstler verwendet Gegenstände, die selbst kaum eine inhaltliche Aufladung mitbringen und somit auf nichts anderes als sich selbst verweisen. Damit besitzen sie die grösstmögliche Offenheit für eine rein formale Betrachtung und schärfen am Übergang zum Nichtsichtbaren die Sinne für die Form-, Farb- und Raumwahrnehmung.

Christoph Eisenring hat den diesjährigen Manor Kunstpreis des Kantons Zürich erhalten und damit nun die Gelegenheit seine Wahrnehmungsrecherchen im Kunstmuseum Winterthur in grossem Massstab durchzuführen. Im Zentrum der Ausstellung steht ein Raum oder eigentlich kein Raum, denn Eisenring konstruiert die Erfahrung eines sich auflösenden, eines visuell nicht mehr vorhandenen Raumes.

Die Ausstellung existiert in einer Tag- und einer Nachtvariante. Tagsüber fordert bereits an der Fassade des Kunstmuseum Winterthur ein Kubus die Aufmerksamkeit und verweist auf das zentrale Werk im Inneren des Gebäudes. Dort markieren weitere Kuben die Nachbarschaft des «Skeptischen Raumes». Dieser ist jedoch nur während der zusätzlichen Öffnungszeiten abends und nachts zu betreten, dann nämlich, wenn alle Sammlungsräume geschlossen und die angrenzenden Räume ins Dunkel gehüllt sind. Spärliches Licht dringt einzig durch das Foyer und das Oberlicht herein und beleuchtet ein einzigartiges geometrisches Muster. Die Abfolge heller und dunkler Flächen erzeugt ein visuelles Flimmern, das sämtliche Konturen verunklärt. Die Grösse des Raumes, seine Gestalt können nicht mehr erfasst werden, der Raum als zentrales Element der Ausstellung löst sich in einem Bildrauschen auf.

Eisenring zielt nicht auf metaphorisch zu interpretierende Erfahrungen ab. Stattdessen führt die Fülle der optischen Eindrücke zu unmittelbaren, individuellen Erlebnissen. Der „Skeptische Raum“ als Werk tritt hinter dieses Erleben zurück. Konsequent koppelt Christoph Eisenring das Zeigen eines Werkes an sein visuelles Verschwinden.

Dreimal neu verwoben

Die Distanz zwischen Atelier und Ausstellungsraum überwinden, die Intensität der eigenen Arbeit erhalten und sie mit derjenigen der Anderen sowie mit dem Raum verschränken – wie das geht, zeigen Christian Hörler, Felix Stickel und Thomas Stüssi mit ihren „Übungen für eine bessere Zeit“ in den oxyd Kunsträumen.

Wer übt, will besser werden, gut bleiben oder Neues können. Ob es gelingt, bleibt offen: Übungen sind ein Versuch, kein Versprechen. Wer übt, ist optimistisch und arbeitet an sich, an der Welt oder zumindest an einem Ausschnitt davon. Christian Hörler, Felix Stickel und Thomas Stüssi haben im oxyd gearbeitet. Die zweistöckigen Kunsträume sind für die Zeit des Ausstellungsaufbaus ihre Basis geworden. Sie boten ihnen Reibungsfläche und Ausgangspunkt, um die eigene Arbeit weiterzudenken und sie gegenseitig zu verschränken.

Die drei haben bisher nicht gemeinsam ausgestellt und ihr Werk hat sich sehr unterschiedlich entwickelt. Christian Hörler (*1982 in Meistersrüte, AI) untersucht die Entstehungsprozesse von Plastiken und deren Interaktion mit dem Raum. Gips und Lehm bringt er dynamisch in Form und setzt entstandene Formen zusammen. Er kehrt das Verhältnis von Sockel und Plastik um und lässt an die Wand geworfenes Material in den Raum hineinwuchern, so auch im oxyd. Daneben verwandelt er den zentralen Pfeiler des einen Raumes in eine sich nach oben konisch verjüngende Säule und den des anderen in das gegenförmige Modell. Diese kleinen Verschiebungen zelebriert auch Thomas Stüssi (*1978 in Zürich), integriert jedoch oft vorgefundene Dinge, die er hintersinnig umdeutet: Im oxyd sprudelt aus dem Wasserablaufgitter eine Fontäne hervor, eine angeschimmelte Wand entpuppt sich als lichtreflektierende, immateriell erscheinende Malerei, eine Farbkaskade fliesst die breite Treppe hinunter, auf einem Schaukelstuhl balanciert eine schwarze Geste. Sie ragt in den Raum wie eine gekippte Eruption oder ein dreidimensionaler, expressiver Pinselstrich und stellt so die Verbindung her zum Werk Felix Stickels (*1979 in St. Gallen). Der Künstler hatte sich lange Zeit vollständig der Zeichnung verschrieben, dann der Malerei zugewandt und  deren Methoden und Darstellungspotential erforscht: Wie entstehen Bilder? Was verbindet sie mit der Welt? Im oxyd kombiniert Stickel Fotografien aus persönlichen Archiven mit fremdem Bildmaterial, eigenen Gemälden, Farb- und Formstudien zu fragilen räumlichen Bildsituationen. Einzelne Motive, Farbtöne und Texturen funktionieren als Scharnier und verweben die Gefüge miteinander und mit den Werken Hörlers und Stüssis. Die drei Künstler verbinden ihre Exerzitien lose, spielerisch, unaufdringlich miteinander und symbiotisch mit den Kunsträumen, selbst über die Stockwerkbarriere hinweg.

Bühnen für die Anderen

Was Peter Zumthor lehrt und was ihm wichtig ist – in seinen Bauten manifestiert es sich und ist, da der Architekt Museen, Kapellen oder den Werkraum Bregenzerwald entworfen hat, öffentlich zugänglich. Auch die Modelle des Pritzker-Preisträgers sind sehenswert, aber sie waren bereits 2012 in einer umfangreichen Auswahl in Bregenz ausgestellt. So ist Zumthors Antwort auf die Idee, ihn anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Kunsthaus Bregenz zu einer Ausstellung einzuladen, schlüssig: Er hat Plattformen entworfen für die Anderen, für die Musik, die Literatur, die Kunst und selbstverständlich für die Menschen, die musizierenden, die schreibenden und lesenden, die gestaltenden, kurz: für diejenigen, «die ihn interessieren», wie es im Programmbuch zu «Dear to Me» heisst. Die kleine Publikation ist fingerdick, und das Programm als begleitend zu bezeichnen wäre eine Untertreibung. Die Konzerte, Gespräche und Lesungen sind integraler Bestandteil der Ausstellung und Zumthor baut ihnen Bühnen.

Im Erdgeschoss steht ein schwarzer Flügel auf flachem Podest, ein schwarzer «Himmel» und geometrische Wandpaneelen rahmen den Raum und dienen der Akustik. Stühle und Hocker hat Zumthor entworfen und den Empfangs- und Kassentresen in eine Bar verwandelt. Der Raum ist Salon, Lounge und Stube und steht mit seiner Möblierung in Kontrast zum ersten Obergeschoss. Hier gehen die Schwarzweissaufnahmen der Tessinerin Hélène Binet, Ton und Gestalt der Spieluhr der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth und der Saal selbst einen stimmigen, minimalistischen Dreiklang ein. Binet zeigt Fotos der Wegpflasterung auf der Akropolis von Dimitris Pikionis, einem Lieblingsarchitekten Zumthors. Im zweiten Obergeschoss bilden Bücherwände ein Labyrinth, in dessen Kern sich ein einladendes Lesezimmer verbirgt. Inmitten der nach gealtertem Papier duftenden Bibliothek des Antiquars Walter Lietha aus Chur lässt sich trefflich schmökern, studieren oder einer der Lesungen folgen. Zuoberst schliesslich hat die Kunst ihren Platz: Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger haben einen wohlgeordneten Dschungel installiert. Die tiefstehende Sonne sorgt in dieser Jahreszeit dank Zumthors Lichtdecke für ein sanftes Leuchten über der künstlerischen Wohlfühloase.

Wer nun doch noch etwas mehr von Zumthor selbst erfahren will, verweilt auf den Rückweg im Erdgeschoss bei der sorgsam zusammengestellten Videocollage von Christoph Schaub.

Alles Ansichtssache

Die aktuelle Ausstellung bei widmertheodoridis vereint drei Einzelpositionen. Die Arbeiten von Andreas Fux, huber.huber und Anita Zimmermann sind keinem gemeinsamen Thema unterworfen und finden doch gut zueinander.

Hunde begleiten die Menschen seit Jahrtausenden. Ebenso lange bilden die Menschen ihre geliebten Hunde ab. Das fängt auf altägyptischen Reliefs an, setzt sich bei Dürer, Tizian, Velasquez und Rubens fort und hört in der Gegenwartskunst nicht auf.

Hunde sind die Gefährten der Diana, der Kinder, der Mächtigen, der Melancholiker und Gelehrten und bewachen die Unterwelt. Wie lässt sich diese Vielfalt fassen, wie den einen Hund darstellen, der alles in sich vereint?

Anita Zimmermann zeichnet einen weissen Hund in den Raum. Dreidimensional und riesengross besetzt er die Scheune der Galerie widmertheodoridis in Eschlikon. Er wacht und wartet, er ist einfach da. Er muss nichts und kann alles sein. Diese Offenheit für die Zuschreibungen verbindet ihn mit den nebenan ausgestellten Werken von Markus und Reto Huber: Kristallbrocken liegen im ehemaligen Stall neben und auf einer Leuchtstoffröhre. Wo einst das Vieh stand, wirken die Brocken einerseits fremd und doch formal vertraut. Natur kommt zu Natur und dies durch Menschenhand. Sie bringt auch die Rosenquarzscheiben zu ihrer Form und Farbe. Huber.huber platzieren die als Heilsteine angesehenen Mineralien als Bildelemente und verleihen ihnen eine farbige Aura.

Sollen die Kristalle im Stalle eine reinigende Wirkung entfalten? Können sie das? Markus und Reto Huber spielen mit dem Widerstreit von Verstand und Glauben. Letzterer versetzt bekanntlich Berge; manchmal auch nur ganz kleine. Ein schönes Bild dafür liefern die Steine im benachbarten Galeriegebäude. Wie chinesische Gelehrtensteine thronen sie auf kleinen Holzsockeln und sind doch nur Fundsteine aus hiesigen Feuerstellen. Sie sind durch die Hitze geschwärzt und geborsten, also ebenfalls wieder durch Menschenhand verwandelt.

Huber.huber adeln das Gewöhnliche und decken die Mechanismen des Glaubens auf. Zudem bringen sie die Schönheit ins Spiel. Steine und Kristalle treffen auf Schmetterlingsflügel, Haut und Körper. Russ kontrastiert mit Rosa, Inkarnat mit dem eisigen Weiss der Salze. Die Ästhetik verleiht dem Glauben zusätzliche Anziehungskraft.

Die Positionen von Anita Zimmermann und huber.huber sind sinnfällig verzahnt miteinander, auch wenn es sich genau genommen nicht um eine Gruppenausstellung, sondern um Einzelpräsentationen handelt. Ebenso gut passt Andreas Fux´ Werk in dieses Gefüge. Seine Fotografien tätowierter und gepiercter Menschen zeigen den Wunsch der Menschen, Bilder von sich selbst zu transportieren. Die weiche Haut wird zum Träger für harte Konturen und streng lineare Zeichnungen. Indem Fux eine seiner Schwarzweissfotografien als Motiv für einen handgeknüpften Seidenteppich verwendet, wird die Härte in Weichheit zurückverwandelt. Mit der zusätzlichen Transformation in ein Negativ verlieren die Zeichen ihre Kraft. Stattdessen erscheinen sie als helle Spuren auf dunkler Haut und befreien sich vom streng organisierten Motiv. Die grafische Form löst sich auf, die Körperzeichnung verliert sich im Flor aus persischen Knoten. Hier schliesst sich der Kreis der Ausstellung: Auch Anita Zimmermann testet die Grenzen der Zeichnung aus. Die räumliche Zeichnung des weissen Hundes umgeben plastische Schriftzüge, und einer Kuppel aus Styroporscheiben antworten Grafiken mit Varianten eben dieser Kuppelform. Die dritte Dimension ist darin wieder ins Papier gebannt und scheint dank der linearen Darstellung vor oder zurück zu schwingen und entweder umgestülpt oder aufgerichtet zu sein. Einmal mehr ist alles Ansichtssache.