Erlebnis Leeder

by Kristin Schmidt

Den inneren und den äusseren Tänzer zu fördern war das Credo von Sigurd Leeder. Dem begnadeten Tänzer und Tanzpädagogen ist eine Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell gewidmet.

Starre Formen, vorgegebene Choreographien, hochspezialisierte, körperfeindliche Techniken: Das klassische Ballett besitzt ebensoviele Konventionen wie es Angriffsflächen bietet. Oder geboten hat, denn inzwischen ist das Spektrum des etablierten Bühnentanzes breit und die Genres werden an den meisten Hochschulen gleichberechtigt unterrichtet mit dem Ziel kreative Tanzschaffende auszubilden. Der Ausdruckstanz war dafür wegbereitend. Seine Protagonistinnen und Protagonisten stemmten sich nicht nur gegen formale Konventionen des Balletts, sondern krempelten auch die Lehre vollständig um. Ein Name taucht in diesem Zusammenhang immer wieder auf: Sigurd Leeder. Der gebürtige Hamburger hatte selbst nie eine Tanzausbildung absolviert, er war als Tänzer ebenso Autodidakt wie als Pädagoge. Und doch gehört er zu den Grossen des 20. Jahrhunderts. Wenn seine ehemaligen Schülerinnen und Schüler über ihre Zeit an der Sigurd Leeder School of Dance berichten, geraten sie schnell ins Schwärmen. Sie berichten davon, wie Leeder sie befähigte, einen eigenen Ausdruck auf die Bühne zu bringen, ihr Raum- und Körpergefühl zu entwickeln, wie er Eigenheiten und Qualitäten erkannte und stärkte sowie künstlerische Prozesse auslöste.

Zu Leeders Schülerinnen gehört auch Evelyn Rigotti. 1959 war sie Absolventin der an Sigurd Leeders Schule in London und bildete sich nach dem Umzug der Institution 1964 ins ausserrhodische Herisau dort weiter. Rigotti schöpft bis heute aus den von Leeder vermittelten Techniken und Bildern. Und sie engagiert sich gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern dafür, dass Leeders Werk zugänglich bleibt: Zehn seiner Etüden werden derzeit wieder getanzt und auf DVD festgehalten. Das Ausgangsmaterial sind einerseits die Tanznotationen – eine von Rudolf von Laban entwickelte Verschriftung von Tanzbewegungen – und andererseits die Erinnerungen derer, die diese Etüden tanzten.

Originalgetreu werden selbst kleinste Bewegungen für die DVD-Aufnahmen neu geprobt. Keine leichte Aufgabe für Tänzerinnen und Tänzer, die lange nach der Zeit des Ausdruckstanzes studierten. Denn seither hat sich noch einmal vieles verändert im Tanz. Was also sagen diese Etüden heutigen Tanzschaffenden? Für die drei Tänzerinnen Alena Kundela, Hella Immler und Marula Eugster ist die sorgfältige Arbeit an Leeders Choreographien eine Zeitreise und eine Begegnung mit längst vergangen Methoden, die sie kaum ins aktuelle Übungsrepertoire übernehmen werden. Umsonst ist die Mühe dennoch nicht, da sie als Baustein dienen wird, das Erbe des grossen Tänzers und Tanzpädagogen zu bewahren.

Sigurd Leeder starb 1981. Die Herisauer Tänzerin und Choreografin Grete Müller führte seine Arbeit weiter und sammelte deren Zeugnisse. Die rund 12 000 Schriftdokumente und Objekte aus dem Nachlass Leeders wurden 2010 dem Schweizer Tanzarchiv übertragen. Dort wurden sie nicht einfach verräumt, sondern erforscht. So fragte das Archiv bei Evelyn Rigotti an, ob sie Schülerinnen und Schüler auf den historischen Fotografien identifizieren könne. Ein Teil der Arbeit floss in die Ausstellung „Sigurd Leeder – Spuren des Tanzes“ ein. Im vergangenen Jahr wurde sie im Museum für Gestaltung Zürich gezeigt, nun sie in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell zu sehen. Die Vielfalt ist des Materials ist beeindruckend und gut präsentiert: Historische Filmaufnahmen begegnen Videoausschnitten heutiger Interpretationen der alten Stücke. Plakate und Programmhefte verweisen auf die öffentlichen Auftritte und damit die Aussenwirkung der Schule. Reinschriften der Notationen werden Fotografien der entsprechenden Sequenzen gegenübergestellt. Masken und Kostüme überführen die fotografische Dokumentation in eine dreidimensional anschauliche Form. Unter den Fotografien findet sich so manche Aufnahme, die den TanzRaum Herisau in seiner früheren Nutzung durch die Sigurd Leeder School of Dance erkennen lässt. Auf den Bildern ist Leeder immer wieder selbst als Tänzer und Tanzpädagoge zu sehen. Sie zeigen seine Ausdruckskraft und Bewegungseleganz genauso wie die harmonische Stimmung im Unterricht und der Funke, den er auf seine Schülerinnen und Schüler übertrug, springt noch heute über.