Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Alfred Sturzenegger – Blätter und Zeichen

Die Blätter fallen. Zu Tausenden segeln sie von den Bäumen, kaum beachtet, nur vereinzelt ausgewählt und mitgenommen. Doch jedes lohnte eine Betrachtung mit seiner Symmetrie und den doch vorhandenen Abweichungen, mit der Mittelrippe, der Seitenrippen, den sich immer feiner verzweigenden Leitbahnen. Immer wieder anders sind auch der Blattrand, die Farbe, die Insektenspuren. Die Blätter sind unscheinbar, zugleich ist jedes für sich betrachtenswert. Das gilt für viele, uns umgebende Dinge.

Alfred Sturzenegger sieht hin, wählt aus und vertraut den Dingen, den Zeichen, der Zeichnung: Selbst das Kleinste, Unscheinbarste kann eine Erfahrung vermitteln. Er vertraut dem Eindruck. Er sucht seine Themen nicht, sondern ist aufmerksam, achtsam, nimmt sich die Zeit und beginnt zu arbeiten. Nichts passiert vorsätzlich, stattdessen spielen Zufälle eine ebenso wichtige Rolle wie die Konzentration während der Arbeit.

Alfred Sturzenegger behält, was er für gut befindet: ein Blatt, aus Papier oder von einem Baum, ein Stück Wellpappe, etwas Silberpapier, ein Wort, eine Postkarte, unbedruckte Zeitungsbünde, gelochtes Packpapier. Er gibt den Dingen Raum, einen Rahmen und sorgsam ausgewählte Nachbarn. Es ist eine fragile Balance: Sind zwei Dinge beieinander, entspinnt sich ein Dialog. Kommt ein drittes hinzu, nimmt die Geschichte eine andere Wendung. Ein viertes Element eröffnet neue Ansichten, einen neuen Gesamtklang. Nichts ist endgültig, bei anderen Gelegenheiten können andere Werke zu neuen Gruppen zueinander finden, neue Klänge entstehen. Stets ist es auch der Raum, der seine Rolle spielt, ebenso wie das Licht und der Moment.

Alfred Sturzenegger fügt einzelne Töne zu Stücken, musikalisch, mehrstimmig wie traditionelle Partituren, mit Kontrapunkten und Harmonien. Gefundenes verbindet sich mit Gezeichnetem, mit Notationen von Grafit, Bleistift und Farbe.

Sturzenegger arbeitet viel mit der Hand, aber Geste wird nie zum Selbstzweck. Er mischt die Farben, trägt sie mit der Hand aufs Papier auf. So entstehen beispielsweise zwei ausfasernde, erdige Formen. Fingerabdrücke formen die Kontur und Binnenstruktur. Die Formen sind flüchtig, lösen sich aber nicht auf, sondern verharren in grosser Dynamik. Ein Widerspruch ist das nicht, sondern ein Resultat der Handbewegungen. Bevorzugt verwendet Sturzenegger Gouachefarben. Sie lassen sich lange bearbeiten und somit immer wieder verändern. Sie sind wärmer, weicher, fliessend.

Sanft und selbstbewusst beherrscht eine orangefarbene Form das Blatt, sehr innerlich, vorbereitet durch acht Blätter in Olivgrün. Die Farbe reicht hier bis zum Rand. Sie fliesst, ist an manchen Stellen durchscheinend bis zum Verschwinden, zieht sich an anderen zu dunklen Rinnsalen zusammen.

Stets sind die Töne gemischt, es sei denn, sie sind gefunden: ein hellblaues Papier ergibt ein sanft leuchtendes Farbfeld. Es strahlt in den Raum hinein und ist offen, ein Angebot. Das gilt für alle Arbeiten Sturzeneggers. Sie sind persönliche Äusserungen und drängen sich nicht auf. Sie sind einfach da, involvieren niemanden und ermöglichen doch vielfältige Erfahrungen. So ist bei einer Postkarte mit weidenden Schafen Händel nicht fern: «so weide ich meine Schafe». Über der Postkarte lässt ein kopfstehender Ausschnitt derselben Karte die Äste und Blätter kreisen. Alles dreht sich, die Welt wird weit, noch weiter durch die beiden weissen Vierecke. Nichts muss, alles kann. Das Stück Silberpapier hat seine eigene Form mitgebracht, das Fragezeichen ohne Punkt lässt alles offen. Darunter weisen diskrete Pfeile erneut weiter. Wohin? Das Leben ist nie sicher. Auch für Alfred Sturzenegger nicht, von Anfang an. Seit 40 Jahren bestimmt die künstlerische Arbeit sein tägliches Tun, sie ist seine Identität.

Einführungstext zur städtischen Ausstellung im Architektur Forum Ostschweiz

Zumthor im Zumthorbau

«Ich nehme meine Leute mit auf eine Reise» – und nicht nur die eigenen. Peter Zumthor nimmt im Kunsthaus Bregenz all jene mit auf eine Reise, die sich mit seinem Arbeitsgeist, seinem Gespür für Orte und seinen Haltungen befassen wollen.

Eigentlich ist ein Ausstellungshaus primär ein Gefäss für die Kunst. Dies gilt besonders dann, wenn es von Anfang an als solches konzipiert und geplant wurde. Aber das Kunsthaus Bregenz braucht keine Kunst, es ist keine Kulisse. Es ist ein Solitär. Seine Aussenhaut, die Raumanordnung, die Lichtführung, die Böden, die Wände – alles ist in seiner Materialität autonom und aussagekräftig. Das Haus steht für sich selbst und bietet der Kunst deshalb einen natürlichen Widerstand. Versucht die Kunst, diese Kraft zu ignorieren oder zu negieren, scheitert sie. Keine der guten Ausstellungen in den vergangenen zwanzig Jahren – es gab auch schlechte – kam darum herum, sich der starken Architektur Zumthors zu stellen, auf sie zu reagieren oder sie sogar zum Teil der künstlerischen Arbeit zu machen. Erinnert sei etwa an Santiago Sierras 300 Tonnen-Installation, an Christian Höllers Spiegelflächen oder an Heimo Zobernigs Deinstallation der Lichtdecke.

Salon statt Foyer

Angesichts der Qualität des Baukörpers lag es nahe, ihm und seinem Architekten anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Kunsthauses einen besonderen Auftritt zu verschaffen. Die Idee der Einladung ist schlüssig – und sie ist offenbart eine Schwäche. Denn was Peter Zumthor lehrt und was ihm wichtig ist, manifestiert sich in seiner Architektur und ist dank seiner zahlreichen öffentlichen Gebäude leicht zugänglich. Daneben lässt sich die Arbeitsweise des Pritzker-Preisträgers in seinen Modellen ablesen, aber diese waren bereits 2012 in einer umfangreichen Auswahl in Bregenz ausgestellt. Das Kunsthaus Bregenz selbst in den Mittelpunkt einer Schau zu rücken wäre ebenfalls keine taugliche Alternative gewesen, gehen doch bei einer solchen Selbstreflexion genau jene Reibungsflächen mit dem Anderen verloren, die den Bau auszeichnen.

«Dear To Me» ist der gelungene Ausweg aus dem Dilemma. Zumthor hat Plattformen entworfen für die Anderen, für die Musik, die Literatur, die Kunst und selbstverständlich für die Menschen, die musizierenden, die schreibenden und lesenden, die gestaltenden, kurz: für diejenigen, «die ihn interessieren», wie es im Programmbuch zur Jubiläumsausstellung heisst. Die kleine Publikation ist fingerdick und das Programm deutlich mehr als nur begleitend: Die Konzerte, Gespräche und Lesungen sind integraler Bestandteil der Ausstellung und finden auf eigens entworfenen Bühnen statt.

Das Erdgeschoss wurde mit Podest, bequemen Sesseln, den Raum neu definierenden Wand- und Deckenpaneelen in einen Salon verwandelt. Selbstverständlich steht ein blank polierter Flügel bereit. Im Stockwerk darüber gehen Ton, Bild und Architektur einen stimmigen Dreiklang ein. Die Mitte des Raumes beherrscht eine Spieluhr der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth und ein mehrere Meter langes Lochband. Die Struktur der Komposition zeigt sich im Raster der Löcher und verweist auf das Raster der gepflasterten Wege der Akropolis, geplant von Dimitris Pikionis, einem Lieblingsarchitekten Zumthors. Zu sehen sind sie in den Schwarzweissaufnahmen der Tessinerin Hélène Binet. Millionen von Füssen haben die Steine glattgeschliffen, hell glänzen sie in der Sonne, die tiefen Fugen liegen in dunklem Schatten.

Übersichtlicher Dschungel

Beim Aufgang in das nächste Stockwerk scheint die nachmittägliche Wintersonne tief ins Treppenhaus hinein – die Architektur bringt sich in Erinnerung, bevor eine andere Sparte ihren Auftritt hat: Im zweiten Obergeschoss schliessen sich gebogene Bücherwände um ein einladendes Lesezimmer. Inmitten der Bibliothek des Antiquars Walter Lietha aus Chur lädt es ein zu schmökern oder einer der Lesungen zu folgen.

Von der Literatur führt die Reise zur Kunst: Im dritten Obergeschoss haben Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger einen wohlgeordneten Dschungel installiert. Es summt, zwitschert und zirpt, ein Urwaldvogel schreit. Unwegsam oder unübersichtlich wird es jedoch nie, und die Interaktion mit dem Raum ist denn auch weniger überzeugend als Steiner & Lenzlingers «Seelenwärmer» in der Stiftsbibliothek St.Gallen.

Also zurück zu den Bühnen und das Programmheft gezückt: In der Auswahl der Veranstaltungen zeigt sich einmal mehr die Handschrift des Architekten. Der Meister selbst spricht in loser Folge am Sonntagmorgen um 11 Uhr mit seinen Gästen über ihre Kunst. Seiner eigenen Kunst lässt sich indessen in Christoph Schaubs sehenswerter Interviewcollage im Erdgeschoss näher kommen. Eine der zumthorschen Empfehlungen an den Architekturnachwuchs lautet da etwa: «Alles so planen und bauen als ob es für die eigene Mutter wäre.»

Zumthor im Zumthorbau

Alfred Sturzenegger – Eine Einführung

Die Blätter fallen. Zu Tausenden segeln sie von den Bäumen, kaum beachtet, nur vereinzelt ausgewählt und mitgenommen. Doch jedes lohnte eine Betrachtung mit seiner Symmetrie und den doch vorhandenen Abweichungen, mit der Mittelrippe, der Seitenrippen, den sich immer feiner verzweigenden Leitbahnen. Immer wieder anders sind auch der Blattrand, die Farbe, die Insektenspuren. Die Blätter sind unscheinbar, zugleich ist jedes für sich betrachtenswert. Das gilt für viele, uns umgebende Dinge.

Alfred Sturzenegger sieht hin, wählt aus und vertraut den Dingen, den Zeichen, der Zeichnung: Selbst das Kleinste, Unscheinbarste kann eine Erfahrung vermitteln. Er vertraut dem Eindruck. Er sucht seine Themen nicht, sondern ist aufmerksam, achtsam, nimmt sich die Zeit und beginnt zu arbeiten. Nichts passiert vorsätzlich, stattdessen spielen Zufälle eine ebenso wichtige Rolle wie die Konzentration während der Arbeit.

Alfred Sturzenegger behält, was er für gut befindet: ein Blatt, aus Papier oder von einem Baum, ein Stück Wellpappe, etwas Silberpapier, ein Wort, eine Postkarte, unbedruckte Zeitungsbünde, gelochtes Packpapier. Er gibt den Dingen Raum, einen Rahmen und sorgsam ausgewählte Nachbarn. Es ist eine fragile Balance: Sind zwei Dinge beieinander, entspinnt sich ein Dialog. Kommt ein drittes hinzu, nimmt die Geschichte eine andere Wendung. Ein viertes Element eröffnet neue Ansichten, einen neuen Gesamtklang. Nichts ist endgültig, bei anderen Gelegenheiten können andere Werke zu neuen Gruppen zueinander finden, neue Klänge entstehen. Stets ist es auch der Raum, der seine Rolle spielt, ebenso wie das Licht und der Moment.

Alfred Sturzenegger fügt einzelne Töne zu Stücken, musikalisch, mehrstimmig wie traditionelle Partituren, mit Kontrapunkten und Harmonien. Gefundenes verbindet sich mit Gezeichnetem, mit Notationen von Grafit, Bleistift und Farbe.

Sturzenegger arbeitet viel mit der Hand, aber Geste wird nie zum Selbstzweck. Er mischt die Farben, trägt sie mit der Hand aufs Papier auf. So entstehen beispielsweise zwei ausfasernde, erdige Formen. Fingerabdrücke formen die Kontur und Binnenstruktur. Die Formen sind flüchtig, lösen sich aber nicht auf, sondern verharren in grosser Dynamik. Ein Widerspruch ist das nicht, sondern ein Resultat der Handbewegungen. Bevorzugt verwendet Sturzenegger Gouachefarben. Sie lassen sich lange bearbeiten und somit immer wieder verändern. Sie sind wärmer, weicher, fliessend.

Sanft und selbstbewusst beherrscht eine orangefarbene Form das Blatt, sehr innerlich, vorbereitet durch acht Blätter in Olivgrün. Die Farbe reicht hier bis zum Rand. Sie fliesst, ist an manchen Stellen durchscheinend bis zum Verschwinden, zieht sich an anderen zu dunklen Rinnsalen zusammen.

Stets sind die Töne gemischt, es sei denn, sie sind gefunden: ein hellblaues Papier ergibt ein sanft leuchtendes Farbfeld. Es strahlt in den Raum hinein und ist offen, ein Angebot. Das gilt für alle Arbeiten Sturzeneggers. Sie sind persönliche Äusserungen und drängen sich nicht auf. Sie sind einfach da, involvieren niemanden und ermöglichen doch vielfältige Erfahrungen. So ist bei einer Postkarte mit weidenden Schafen Georg Friedrich Händel nicht fern und jener Arie aus dem Messiah-Oratorium «Er weidet seine Herde». Über der Postkarte lässt ein kopfstehender Ausschnitt derselben Karte die Äste und Blätter kreisen. Alles dreht sich, die Welt wird weit, noch weiter durch die beiden weissen Vierecke. Nichts muss, alles kann. Das Stück Silberpapier hat seine eigene Form mitgebracht, das Fragezeichen ohne Punkt lässt alles offen. Darunter weisen diskrete Pfeile erneut weiter. Wohin? Das Leben ist nie sicher. Auch für Alfred Sturzenegger nicht, von Anfang an. Seit 40 Jahren bestimmt die künstlerische Arbeit sein tägliches Tun, sie ist seine Identität.

Nähen und knoten

Vom Tuch zum Körper – Kimsooja verwebt die Welt

Gehen und stehen, reisen und bleiben – Kimsooja bewegt sich mit ihren Arbeiten zwischen beiden Polen. In ihrer Performance «A Needle Woman» verbindet die Künstlerin Unterwegssein und Innehalten auf bahnbrechende Weise. Die Videoinstallation wird immer wieder in Bezug auf die globalen Migrationsbewegungen und politischen Konflikte gedeutet und ist zugleich eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dem künstlerischen Zugang zur Welt. Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die Installation und weitere grossräumige Arbeiten Kimsoojas in einer umfassenden Einzelausstellung.

Aufrecht steht sie da, in unauffälligem, grauem Gewand, unergründlich ihre Gefühlsregungen, nur ihre Rückseite ist zu sehen. Eine Frau inmitten eines Stromes. Unaufhörlich kommen ihr Menschen entgegen, gehen an ihr vorbei, gehen weiter. Schnell schliesst sich der Strom hinter der Frau, verschluckt sie mitunter, bis sie wieder zu sehen ist – eine kleine stille Insel. Kimsooja selbst steht in der Menschenmenge. Die in New York lebende Südkoreanerin hatte 1999 eine Gehperformance geplant und war auf der Suche nach einem geeigneten Ort in Tokio, bis sich im Stadtteil Shibuya ein transitorischer Moment ereignete: «Plötzlich stand ich inmitten von hunderten, tausenden Menschen. Ich war überwältigt, ich schrie innerlich auf, musste stillstehen und fühlte mich sehr verletzlich, zugleich umgab mich die Energie dieser Menschen. Ich spürte Menschlichkeit, Mitgefühl und Frieden. Es war eine erleuchtende Erfahrung.» Die Künstlerin verknüpfte dieses einschneidende Erlebnis mit ihrer bisherigen Arbeit. Sie hatte als Malerin begonnen und war recht bald auf die Frage gestossen, wie sich die flache Leinwand mit dem Raum verbinden liesse: «Ich suchte nach einer neuen Methode der Malerei. Wie konnte ich Natur, Sprache, Architektur, Horizontalität und Vertikalität verbinden?» Die Nadel schliesslich erwies sich als das geeignete Instrument. Dank ihr lassen sich Flächen durchstechen und somit Vorder- und Hintergrund durch das Textil hindurch miteinander verbinden und in einer weiteren Steigerung zu dreidimensionalen Gebilden fügen.

Die symbolische Nadel

Die Nadel ist nicht nur Werkzeug, sie ist auch Symbol. Sie durchsticht die Fläche, aber sie nimmt auch den Faden auf. Sie ist Körper und Gefäss. Sie trennt und verbindet. Sie wird zur Metapher für den Körper der Künstlerin, der «Needle Woman»: «Ich setzte meinen Körper als symbolische Nadel ein. Er verband Raum und Zeit. Ich selber musste nichts tun und verkehrte damit die Idee der aktiven Performance in ihr Gegenteil.» Stillstehend, auf den eigenen Körper konzentriert stellt sie sich den Passantinnen und Passanten entgegen. Sie ist Mensch unter Menschen, verbindet als Nadel die Individuen über alle kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen und Geschlechterunterschiede hinweg.

Kimsooja hatte eine erste Version von «A Needle Woman» in Tokio, Shanghai, Delhi und New York aufgenommen. Diese wird derzeit in einer Sammlungspräsentation mit Performancekunst im Kunstmuseum Bern gezeigt. Das Kunstmuseum Liechtenstein präsentiert die achtteilige Version, die zusätzlich zu den genannten Städten in Mexiko-Stadt, London, Kairo und Lagos entstand. Die Performances werden jeweils synchron und in Lebensgrösse abgespielt. Auf eine Bank wird im Ausstellungsraum bewusst verzichtet, um einerseits das eigene Stehen mit demjenigen der Künstlerin in Beziehung setzen zu können und andererseits die gehende Bewegung von Projektion zu Projektion zu ermöglichen. Erst durch den gleichzeitigen und vergleichenden Blick verschmelzen die Metropolen miteinander und fügen sich zu einem Bild von der Welt, einem positiven Bild.

Für ein Miteinander in der Welt

Vermeidet Kimsooja es, Konflikte zu zeigen? Ihre Arbeiten sind schön, sind poetisch. Sie kommen in berauschenden Farben daher und sind von einer ausgewogenen Ruhe und Ästhetik getragen. Dennoch thematisieren sie die Krisen ganz direkt. So führte die Künstlerin ihre Performance «A Needle Woman» in einem späteren Schritt auch in Städten auf, die von Armut, Gewalt und politischen Konflikten beherrscht werden; sie widmete Arbeiten den Opfern des Massakers 1980 in Gwangju oder den Flüchtlingen des Krieges im Kosovo. Zwar ist das Leiden selbst in ihren Arbeiten nicht abgebildet, aber es ist ihnen eingeschrieben und transformiert: «Ich will eine positive Aussage treffen und das Bewusstsein schärfen für eine bessere, gewaltlose, harmonische Welt. Das kann ich durch die zeitgenössische Kunst.» Davon zeugt beispielhaft «Lotus: Zone of Zero». Die Installation wurde erstmals 2003 in New York gezeigt und entstand als Reaktion auf den Irakkrieg. Der Werktitel bezieht sich auf die militärische Terminologie, in der Ground Zero das Detonationszentrum einer Nuklearbombe bezeichnet; inzwischen steht er auch für den zentralen Ort des Terroranschlages am 11. September 2001 in New York.

Kimsooja übersetzt die ringförmigen Druck- und Strahlungswellen in eine grossräumige Installation aus konzentrisch angeordneten, textilen Lotusblüten. Sie ist an die Deckenfläche des nahezu quadratischen Ausstellungsraumes im Kunstmuseum Liechtenstein angepasst und füllt den Raum zusätzlich akustisch. Es erklingen Gesänge aus christlichen, muslimischen und buddhistischen Liturgien: «Ich arbeite stets orts- und architekturbezogen und antworte auf den Raum. In dieser Arbeit bezieht sich der Kreis aus Blüten auf die Ganzheit und Gemeinschaft von Individuen. Der Lotus steht für Schöpferkraft und Erleuchtung, die tibetischen, gregorianischen und islamischen Gesänge für das Miteinander in der Welt.» Gleichwohl befindet sich die Arbeit in fragiler Balance: Die Radialsymmetrie der Blütenkugeln ist ebenso harmonisch wie ihre schwebende Vielzahl bedrohlich. Das Pink betört, wirkt aber auch schrill und unterschwellig aggressiv.

Der Knoten zur Dreidimensionalität

Dualität zeichnet auch die Werke «A Laundry Woman» und «Bottari» aus. Im Kunstmuseum Liechtenstein sind beide Installationen sinnfällig miteinander kombiniert. Über gespannten Schnüren hängen die traditionellen koreanischen Betttücher, in leuchtenden Farben, reich ornamentiert, durch Ventilatoren sanft in Bewegung versetzt. Darunter befinden sich ebenfalls Betttücher, aber prall gefüllt, sorgfältig zu Bündeln verknotet. Kimsooja verwendet die Betttücher sowohl in ihrer formalen als auch ihrer metaphorischen Qualität: «Unverknotet sind die Betttücher die Leinwand des Lebens. Sie werden Jungvermählten geschenkt und sind mit guten Wünschen verbunden. Die eingewebten Symbole beziehen sich auf das Glück des Paares, der Familie, der Kinder. Mit gebrauchten Kleidern gefüllt und verknotet werden die Laken zur Skulptur und stehen in gegensätzlichem Kontext: Sie verweisen auf Flucht, Exil und Entwurzelung.» Auch die aufgehängten Betttücher sind bereits benutzt worden. Die dadurch eingeschriebenen Geschichten bleiben im Verborgenen und sind dennoch präsent, da das Laken als universaler Alltagsgegenstand nahezu auf der ganzen Welt die gleiche körpernahe, intime Nutzung erfährt.

Kimsoojas Arbeiten kreisen stets ums Textile. Das gilt auch für ihren jüngsten Werkzyklus «Thread Routes». Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die Kapitel I (Peru), II (Europa) und IV (China) sowie «Thread Routes – Chapter II, Site II». Bei letztgenanntem Kapitel handelt es sich um eine Spiegelinstallation, in der die Spiegelbilder mit den Augen verwoben werden könnten, da sich die reflektierenden Flächen gegenseitig spiegeln. Die drei Kapitel der Filminstallation zeigen Menschen bei der Textilherstellung, jedoch nicht in der Massenproduktion, sondern bei ihrem traditionellen Handwerk. Verflochten sind diese Aufnahmen mit Bildern von Landschaften, architektonischen Strukturen und Ornamenten. Zeitgleich werden die schwarzweissen Lichtwellen der drei Filmkapitel gezeigt. Beide, die Lichtwellen wie die Filmaufnahmen, werden synchron auf je einem dreiseitigen Korpus projiziert. So entfalten sowohl die gegenständlichen Bilder der Filmaufnahmen wie auch ihre abstrakten Lichtwellenintervalle eine plastische Wirkung: Kimsooja hat auf ihrer Suche nach der räumlichen Dimension des Bildes ein weiteres Kapitel hinzugeschrieben.

Alle Zitate: Gespräch der Künstlerin und der Autorin am 21. September 2017 in Vaduz.

Zur Ausstellung erscheint im Verlag Walther König eine zweibändige Publikation mit sämtlichen Interviews mit Kimsooja von 1994 bis 2017 und einem Bildband.

Das schönste Schwarz

„Ich verwende Farbe zu einer Art Experiment, um herauszufinden, was mit ihr geschieht. Marcia Hafif erforscht den Grundstoff der Malerei, die Farbe auf ihrem Trägermaterial. Das Werk der amerikanischen Künstlerin wird zeitgleich im Kunsthaus Baselland und im Kunstmuseum St.Gallen gewürdigt.

Farbe, dicht, matt, samten, unergründlich tief, leuchtend; Pigmente rein, unvermischt – die Gemälde von Marcia Hafif (*1929, lebt in Laguna Beach und New York) entfalten einen unwiderstehlichen Sog. Zusammengestellt zu Reihungen und Gruppen betören sie durch ihren sonoren Farbklang. Sie bilden nichts ab, sie sind unabhängig und radikal. Die Künstlerin kann sich für eine Kategorisierung ihrer Arbeit als „Radical Painting“ nicht erwärmen, doch die Verwandtschaft ist offensichtlich. Die monochromen Gemälde verweisen auf nichts ausserhalb ihrer selbst, sie existieren „unabhängig von dieser Welt“ wie die Künstlerin 1981 schrieb. Zugleich besitzen sie das Potential, mit dieser Welt zu interagieren, den Blick für diese Welt zu öffnen. Dies zeigen die Präsentationen im Kunsthaus Baselland und im Kunstmuseum St.Gallen besonders anschaulich, da Hafifs Werke im umgenutzten Industriegebäude andere Qualitäten ans Licht bringen als im klassizistischen Museumsbau.

Ein vergleichender Blick lohnt sich umso mehr als die beiden Institutionen das Oeuvre nicht nach werkspezifischen Kriterien untereinander aufgeteilt haben, sondern gemeinsam einen umfassenden Überblick zeigen. Hier wie dort sind unter anderem „Black Paintings“ zu sehen, jene grossformatigen Bilder, in denen sich Pinselstriche in Umbra und Ultramarin zu einem irisierenden Schwarz fügen, in dem selbst das Licht noch Platz findet. Im Kunstmuseum St.Gallen ergänzen Hafis Fotografien aus ihrem Geburtsort Pomona den konzeptuellen Ansatz ihrer Arbeit, während im Kunsthaus Baselland ihre Aufnahmen aus Mexiko und Rom zusätzlich zur formalen Stringenz eine anekdotische Komponente ins Spiel bringen. Im Oberlichtsaal des Kunstmuseums interagiert die hervorragend inszenierte 106teilige Serie „An Extended Gray Scale“ beispielsweise mit der Reihung der Stuckelemente, hingegen korrespondieren die „Twenty Glaze Paintings“ im Kunsthaus Baselland mit dem schmalen Ausstellungssaal und seinen sechs bodentiefen Fenstern. Zusätzlich lässt sich in beiden Hängungen der Aspekt der Zeitlichkeit erleben: Hafifs Werke sind Ausdruck einer Dauer. Eindrücklich zeigt sich dies in Muttenz und St.Gallen auch in den Blättern mit repetitiv gesetzten Bleistiftstrichen.

Bei aller Übereinstimmung entwickeln die beiden Ausstellungen einen jeweils eigenen Charakter und wirken damit vielmehr wie zwei ebenbürtige Teile einer Gesamtschau als zwei einander ergänzende Präsentationen.

Das Gewebe der Welt

Mit „Weaving the World“ zeigt das Kunstmuseum Liechtenstein eine grosse Einzelausstellung mit Werken von Kimsooja. Die international arbeitende Künstlerin arbeitet mit traditionellen koreanischen Stoffen gegen globale Konflikte an.

Der Auftakt findet im Dunklen statt. Der erste Ausstellungssaal wird einzig durch die Videoinstallation erhellt. Aufnahmen in wundervollen Farben bannen den Blick: Frauen bei der Handarbeit, sie klöppeln, sticken, häkeln. Unter ihren Händen entstehen Gewänder, Zierstoffe, Muster. Dazwischen sind reich ornamentierte Wände und Gewölbe, weite Felder und Wiesen eingeblendet. Kimsooja (*1957) verwebt traditionelle Textilkultur mit Bildern von Landschaften und Architektur.

In sechs Ländern war die koreanische, in New York lebende Künstlerin mit der Kamera unterwegs. Für ihre umfassende Einzelausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein hat sie drei der fast halbstündigen Filme ausgewählt und projiziert sie nacheinander auf ein dreiseitiges Prisma. Auf einem zweiten Prisma sind synchron dazu die Lichtwellen jener Filme zu sehen. Sie bilden den abstrakten Kontrapunkt zu den gegenständlichen Aufnahmen und berühren eines der Kernthemen der Künstlerin: Wie lässt sich Malerei in den Raum überführen? Wie lässt sich die Fläche mit der Dreidimensionalität verknüpfen? Licht und räumliche Projektionen sind zwei mögliche Wege. Bereits als Kunststudentin war Kimsooja auf eine dritte Lösung gestossen: „Ich spürte die Kraft des Nähens. Als die Nadelspitze den Stoff berührte, traf es mich wie ein Schlag. Die Nadel durchdringt Flächen.“

Flächen können dank der Nadel nicht nur durchstochen, sondern dauerhaft miteinander verbunden werden. Das jahrtausendealte Werkzeug ist ein Universalinstrument und wurde für die Künstlerin zu einem so wichtigen Symbol, dass sie nicht nur ihren Vor- und Familiennamen zusammennähte, sondern selbst als „Nadelfrau“ auftrat: Kimsooja suchte einen geeigneten Ort für eine Performance als sie in Tokio zwischen Tausenden eiliger Passantinnen und Passanten geriet. Die Menschen strömten an ihr vorbei, um sie herum. Die Künstlerin erlebte sich in diesem Moment als verletzlich und erleuchtet zugleich. Sie musste nichts tun, war Mensch unter Menschen und gleichzeitig eine Insel im Strom. Sie zerteilte diesen Strom und hinter ihr fügte er sich wieder zusammen.

Kimsooja wiederholte die Performance in Metropolen auf allen Kontinenten und entwickelte daraus eine achtteilige Videoinstallation: Immer wieder steht die Künstlerin klein, unscheinbar zwischen den Passantinnen und Passanten. Die Projektion zeigt sie als Rückenfigur lebensgross, so dass wir mit ihr da stehen, die Menschen auch auf uns zuströmen in ihrer Vielfalt und in ihrer Selbstverständlichkeit. Bewusst wurde keine Bank im Ausstellungsraum aufgestellt, so dass sich das Stehen und Strömen nacherleben lässt.

Kimsooja sind die Menschen wichtig. Ihre Arbeiten tragen auf den zweiten Blick eine dringliche Botschaft für ein gutes Miteinander in sich. Auf den ersten Blick sind sie schön, poetisch und vermeintlich harmlos, beispielsweise die farbenfrohen, entweder zu Bündeln geschnürten oder an Leinen aufgehängten koreanischen Betttücher. Sie sind traditionelle Geschenke für Jungvermählte und somit Symbole für das Zusammenleben ebenso wie für das Unterwegssein. In der sorgfältigen Inszenierung im Kunstmuseum Liechtenstein werden die hängenden Tücher durch Ventilatoren in sanfte Bewegung versetzt und somit durchgelüftet. Schwindet so der Ballast, der sich in den Jahren des Gebrauchs angesammelt hat, die Sehnsüchte, Wünsche und die Resignation? Oder sind auch sie in den darunter liegenden Bündeln eingeschnürt, lassen sie sich niemals abschütteln? Kimsooja belässt es bei Andeutungen und vertraut auf die visuelle Stärke ihrer Arbeiten. „Lotus: Zone of Zero“ ist ein weiteres, raumfüllendes Beispiel dafür. Die in raumfüllenden Kreisen aufgehängten Stofflotusblüten und die eingespielten liturgischen Gesänge üben einen unwiderstehlichen Sog aus. Zugleich sind sie verbunden mit dem Bewusstsein um weltweite religiöse Konflikte. Die Harmonie ist zerbrechlich, aber von Kimsoojas Hoffnung auf ein gutes Miteinander getragen.

Präzision und Rafinesse

Ist Schönheit von Funktion abhängig? Oder an Material und Form gebunden? Magali Reus inszeniert ihre Objekte an der Schnittstelle von funktionaler Ästhetik und Dekorlust. Das Kunstmuseum St.Gallen zeigt mit „Night Plants“ aktuelle Arbeiten der in London lebenden Künstlerin.

Form follows function – der Gestaltungsleitsatz suggeriert Eindeutigkeit und wird doch seit mehr als 100 Jahren diskutiert. Während die Einen darin die Aufforderung lesen, die Gestaltung praktischen und ökologischen Aspekten unterzuordnen und die Form im Sinne des Weniger-ist-mehr aufs Notwendige zu reduzieren, erkennen die Anderen darin den Aufruf, in die Gestaltung auch repräsentative Elemente zu integrieren, um die Sinne zu stimulieren, Identifikationspotentiale zu wecken oder Konsumanreize zu setzen. Diese Diskussion hat immer neue Wendungen genommen und wird durch die Bildende Kunst nicht entschieden werden, aber doch um einige Argumente bereichert. Vor allem, wenn Magali Reus sich einmischt. Die Objekte der niederländische Künstlerin (*1981 Den Haag)  suggerieren Funktionalität verbunden mit höchster gestalterischer Finesse. Sie sind bis ins kleinste Detail hinein sorgsam durchgearbeitet. Keine noch so kleine oder grosse Form, kein Zentimeter Material sind zufällig platziert, aber zu welchem Zweck? Jede Niete, jeder Riemen, jedes Gewebe der Objekte im Kunstmuseum St.Gallen scheinen durch die Funktionalität bedingt zu sein. Aber die Künstlerin lässt alle Spekulationen ins Leere laufen. Die Objekte erinnern zwar an Gebrauchsgegenstände, doch mit der ausgeklügelten Materialwahl und -kombination sowie der detailversessenen Gestaltung funktionieren sie als Porträts von Situationen, Lebenshaltungen und -einstellungen. Obgleich in der Grundform verwandt, entfalten alle einen eigenen Charakter. Sie sind bequem gepolstert oder nostalgisch graviert, sie besitzen praktische Fächer oder Gurte, sie sind sandgestrahlt oder pulverbeschichtet, aus hochwertigem Kunststoff, Metall oder Leder. Ihr Dekor ist mehr als überflüssiger Zierrat und wird als ebenbürtiges Element inszeniert. Zugleich sind die Objekte eine Ode auf das Handwerk, ausgeübt von selbst- und materialbewussten Spezialisten.

In ihrer ausgetüftelten Ästhetik verbinden sich die ausgestellten Werke aufs Schönste mit dem Neorenaissanceräumen. Auch hier überlässt die Künstlerin nichts dem Zufall. Über die sorgsam platzierten Einzelobjekte hinaus entwickelt sie eine stimmige Ausstellungsinstallation, die mit der Architektur, den schlanken, grauen Doppelsäulen, ihren Kapitellen und den Durchgängen den Dialog aufnimmt und ihn bis hinein in die derzeitige Sammlungspräsentation trägt, in der passenderweise die niederländischen Landschaftsmaler zu Reus‘ Nachbarn werden.

Beat Belser

Beat Belser ist Fotograf. Er ist unterwegs mit der Kamera und fotografiert Menschen, ihre vielfältigen Beziehungsgeflechte, ihre Umgebung, ihre Arbeit. Ihn interessieren das Individuum und die Gesellschaft: Was prägt die Menschen? Wie leben sie zusammen? Womit umgeben sie sich? Wie ist ihr Verhältnis zur Welt? Wo immer er fotografiert, zeigt Belser den einzelnen Menschen in seinen Kontext, zeigt sein Wesen und immer wieder aufs Neue die Bedingungen menschlicher Existenz.

Bereits sehr früh entwickelt Belser ein umfassendes Gespür für lokale Besonderheiten und eine grosse Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Nahezu ohne Familienstrukturen aufgewachsen, aber mit dem Vorbild eines unabhängigen, kompromisslosen Grossvaters, reift bereits in der Kindheit Beat Belsers Wunsch, die Welt zu erkunden, ihren Geschichten nachzugehen und eigene hinzuzufügen. Zunächst erlernt er einen technischen Beruf. Der Erfolg und die Sicherheit hindern ihn lange daran, den richtigen eigenen Weg zu verfolgen. Vor vier Jahren war es dann soweit: Belser entscheidet sich für die Fotografie. Er lernt das fotografische Handwerk von Grund auf und setzt seine Ausbildung an der Höheren Fachschule für Künste, Gestaltung und Design an der GBS St.Gallen fort. Er reist viel, die Kamera begleitet ihn ständig. In seinen Arbeiten entwickelt er eine eigenständige Bildsprache und bleibt dennoch immer auf der Suche. Intensiv setzt er sich mit formalen Kriterien, mit Licht und Schatten, Schwarzweiss- und Farbfotografie auseinander. Ebenso wichtig sind ihm inhaltliche Aspekte, der Alltag, die Erwartungen und Ängste der Menschen in verschiedenen Kulturen. Belser beobachtet, lässt sich von Begegnungen leiten, schaut dort hin, wo nur wenige hinsehen. Seine Fotografien sind weit mehr als Dokumentationen unserer Welt. Wenn Beat Belser die Kamera zur Hand nimmt, dann nicht, um zu dokumentieren, sondern um in Vilem Flusserschem Sinne das Unwahrscheinliche, die Information, zu suchen. Finden lässt sich das Unwahrscheinliche überall, wenn einer nur achtsam genug ist, es zu spüren, und auch dasjenige in seine Betrachtungen einbezieht, was nicht selten als zu alltäglich, belanglos oder gar sentimental abgetan wird.

Text für die Fotoausstellung der Waldkinder St.Gallen im Architektur Forum Ostschweiz

Knoten im Kornhaus

Domenic Lang, Fridolin Schoch und Wassili Widmer stellen gemeinsam im Kornhaus Rorschach aus. Es ist die 16. Folge der Rendezvous´ Ostschweizer Kunstschaffender.

Wer sich von der Bahnstation Rorschach Stadt her dem Kornhaus zu Fuss nähert, läuft auf eine Wand zu, eine Wand aus Wasser. Der Bodensee wirkt als sei er in die Vertikale gekippt. Mit jedem Schritt in Richtung Hafenbecken sinkt dann die Horizontlinie ein Stück tiefer. Bis der See schliesslich dort liegt, vor er hin gehört: innerhalb seiner gewohnten Uferlinie und eingefasst vom Mauerwerk des Hafens.

Mächtig ist der See dennoch. Er prägt die Stadt, er war bestimmend für die Errichtung des Kornhauses an diesem wichtigen Getreideumschlagplatz, und immer wieder aufs Neue fasziniert er die hier ausstellenden Künstlerinnen und Künstler. Selbst dann, wenn ihre Werke dies nicht auf den ersten Blick preisgeben. So funktioniert Fridolin Schochs Malerei vollständig unabhängig vom Bodensee und ist vielmehr an den Kräfteverhältnissen der Flächen und Strukturen gewidmet. Monochrome geometrische Felder schieben sich ins Bild, antworten einander oder werden am gegenüberliegenden Bildrand gespiegelt. Glatte malerische Oberflächen kontrastieren mit Handtuchfrottee, grobem Sackleinen oder bedruckten Stoffen. Mit expressivem Duktus sind Richtungswechsel inszeniert und Flächen in fragile Zustände gebracht.

Jedes Gemälde des jungen Künstlers ist das Porträt eines visuellen Spannungsfeldes. Auch die Hängung bricht mit dem Gewohnten, da Schoch nicht nur die Bilder in enge Beziehungen zueinander setzt, sondern mit verwendetem und noch ungebrauchtem Klebeband neue Räume schafft. Und der See? Ein Bild hängt auffällig tief, beinahe auf Kniehöhe. Ausgerichtet ist es am ursprünglichen Bodenniveau des Ausstellungsraumes, das jedoch für den Hochwasserschutz überbaut wurde.

Ein wassergefülltes Becken direkt hinter der Eingangstür scheint diesen Massnahmen recht zu geben. Schwappt hier bereits der See ins Haus? Mitnichten. Wassili Widmer hat die Wasserlache ins quadratische schwarze Becken gefüllt und fordert nun auf, einen geeigneten Umgang damit zu finden: drüber steigen, am Rand entlangbalancieren oder mitten hindurch und Spuren hinterlassen.

Der Mensch muss sich entscheiden, muss interagieren mit dem Kunstwerk. Zugleich verbindet es Innen- und Aussenraum, denn drinnen hat der Künstler ein gemaltes schwarzes Quadrat an der Wand platziert und auf dem Kai steht ein schwarzer Würfel. Die Kunstgeschichte lässt grüssen, ebenso wie die Physik und die Geometrie. Malewitsch und Ad Reinhart, Wasser und Fläche, Kubus und Raum, Reflexion und Absorption – Widmer startet einen umfassenden Dialog. Letzteren inszeniert Domenic Lang zwischen Video und Malerei.

Der Künstler hat eine kurze Videosequenz vor der Ostseite des Kornhauses Rorschach aufgenommen und projiziert diese nun auf die Westwand des Ausstellungsraumes. Somit lenkt er den Blick aus dem Innenraum auf den Aussenraum, hinter dem sich wiederum der Innenraum befindet, und startet damit eine Endlosschlaufe des Sehens. Dieser Bewegung wie auch der im Video verstreichenden Zeit setzt er malerische Elemente entgegen: Einige der projizierten Häuser und Holzpfähle sind auf der weissen Wand mit braunem Pigment überstrichen. Damit erweist Lang der Freskomalerei als zeitlosem Medium seine Referenz.

So unterschiedlich die drei Künstlerpositionen auch sind, sie finden in der Ausstellung gut zusammen, jede erhält ein eigenes Gewicht. Obendrein haben Domenic Lang, Fridolin Schoch und Wassili Widmer eine gemeinsame Arbeit realisiert. Ein grosser Knoten aus alten Schiffstauen verbindet die einzelnen Werkstränge optisch und will nichts weniger sein als der „Global Knot“. Die selbstbewusste Verknotung zeigt: Hier ist eine junge, gut vernetzte Generation am Werk.

Die andere Viehschau

Zu den Textillustrationen

Geschick, Vertrauen, Kraft, gegenseitige Unterstützung – all das ist nötig für eine lebendige Pyramide, eine aus Menschen oder wie im Falle von Eva Rekades Zeichnungen aus Tieren und Menschen. Die in Speicher aufgewachsene und in Bern lebende Illustratorin stellt die Beziehungen zwischen Mensch und Tier auf den Kopf, auf die Füsse, auf die Hufe, auf den Rücken. Sie schafft neue Kräfteverhältnisse und versucht neue Balancen. Spielerisch leicht und zugleich mit sicherem Strich platziert sie Tradiertes neu. Sennerinnen, Geissen, Kinder, Kühe und Sennen zeigen kleine Kunststücke, nicht für die Dauer, aber einen leichten andersartigen Moment inmitten der gewohnten Bilder. Ein anderer Blick auf die Viehschau eröffnet sich auch in den Schwarzweissaufnahmen von Mäddel Fuchs. Der in Gais lebende Fotograf und Autor sieht mit den Augen des Eingeweihten, des Vertrauten. In seinen Bildern geht es weniger um die Schau, als um die Essenz des Ereignisses. Inszeniertes bleibt aussen vor und gibt den Platz frei für das Unmittelbare, das  Beiläufige, das Lebendige.

Obacht Kultur 28, Heft 2/2017