Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Der optimierte Wald

Stefan Baumann brachte das Sportzentrum zum Klingen und liess es schmelzen. Sein lebendiger, geräuschvoller Wald wurde zum Auftakt für Reflexionen zur allgegenwärtigen Optimierung.

Schmale Holzstreifen pendelten sachte hin und her. Sie säuselten, zwitscherten, wisperten, brausten, summten und brummten. Jeder der Streifen trug einen Lautsprecher. Jeder Lautsprecher war verkabelt und in einen Klangbaum verwandelt. Einen Wald aus Holz und Tönen hatte Stefan Baumann für die Kulturlandsgemeinde im Sportzentrum Herisau installiert. Einen Wald, dicht gewachsen, mit einem geschwungenen Weg, nicht zu eng, aber auch kein Trassee. Für die eiligen Sportlerinnen und Sportler mit ihren grossen Taschen war extra ein Seitenweg freigehalten. Wer den Bogen nicht hatte gehen wollen, konnte an der Seite entlang oder gerade durch das Dickicht gehen. Zwei Tage vor der Kulturlandsgemeinde kam dann alles anders. Der Wald wurde zum Risikofaktor – feuerpolizeilich eingestuft. Eine Schneise musste geschlagen, eine Sichtlinie vom Eingang des Sportzentrums bis zur Treppe ermöglicht werden. Damit es schnell gehe im Fall der Fälle, für die optimale Sicherheit. Zuvor war der Wald ein Wald, den Familien zum Picknicken nutzten und der Sportlerinnen und Sportler zu eleganten Schwüngen verführte vorbei an den schwingenden Steifen. Die Achtsamkeit stellte sich von selber ein, die Installation hatte etwas Grundlegendes in den Menschen angesprochen. Und nach dem Eingriff? Die künstlerische Arbeit wirkte nicht mehr ganz so unmittelbar auf die Gäste des Sportzentrums und der Kulturlandsgemeinde, aber sie wirkte immer noch. Stefan Baumann gelang es, seinen Wald den Regeln anzupassen. Licht und Töne lockten ins Innere des durchgangsoptimierten Waldes. Das rauschende Bächlein konnte gesucht und dem Vogelpfeifen nachgegangen werden. Ein Wind liess sich hören, prasselndes Feuer ebenso und rein digital. Denn was zunächst natürlich tönte, offenbarte sich bei genauem Hinhören als künstlicher Geräuschwald: Der Komponist, Musiker und Instrumentenbauer Baumann belebte mit einem digitalen Programm das Dickicht der schmalen Holzstreifen, visuelle und akustische Eindrücke vereinten sich. Zudem waren die unbehandelten Holzstreifen das Bindeglied zwischen Kultur und Sport: Sperrholz bildet einen Resonanzkörper und wird im Instrumentenbau wie in der Raumakustik verwendet. Es wird im Schiffbau eingesetzt, dient als stabiler, federnder Kern in Ski, Skate- und Snowboards und wird zu Turngeräten verbaut. Sperrholz ist ein vielseitiger Werkstoff mit archaischen Wurzeln, klimaneutral, nachwachsend, hochspezialisiert und hochtechnologisch genutzt.

Auch die fünf Klangkugeln in der Turnhalle bestanden aus Sperrholzstreifen. Sie erinnerten in Zahl und Form an die fünf olympischen Ringe und riefen die Teilnehmenden und Gäste der Kulturlandsgemeinde herbei. Sportgeräusche ertönten aus den jeweils acht Lautsprechern. Tischtennisbälle klackerten, Skateboards bretterten, Ski schnarrten durch den Schnee, Velos sirrten vorbei. Die Klänge steigerten sich in einem Crescendo zu einem Schnaufen. Dann kehrte Stille ein und das Getöse wich der konzentrierten Ruhe. Das Sportzentrum wandelte sich wieder in einen Ort des Reflektierens und Disputierens, des Nach- und Weiterdenkens zu Optimierungsprozessen und deren Folgen. Auch die Ökologie kam dabei zur Sprache. Stefan Baumann brachte sich mit seiner Arbeit «Tropfendes Eisfeld“ in diesen Diskurs ein. Er versetzte die grosse Fensterscheibe zwischen Cafeteria und Eissporthalle mit speziellen Lautsprechern in Schwingung. Die Scheibe begann akustisch zu tropfen, zu schmelzen. Dieses Schmelzen setzte sich bis in die Eishalle fort. Hier, wo noch im Mai Eishockeyspielerinnen und Eiskunstläufer trainieren, zog Tauwetter ein. Immer in den Trainingspausen rann akustisch das Wasser. Die Irritation setzte sich mit der Performance in der Mitte des Eisfeldes fort. Dort spielte Baumann Stücke zum Thema Gletscherschmelze, Optimierung, Archaik, Vergänglichkeit und Zeit. So verband er den klimaneutralen, sicherheitsoptimierten Klangwald mit dem künstlichen Eisfeld, die künstlichen Waldgeräusche mit den Aufnahmen des echten Tropfens.

Obacht Kultur, Sonderausgabe Kulturlandsgemeinde 2017

Sonja Hugentobler – Sensibles System, 2017

Eine Vier, eine Vier! Oh nein, eine Sechs! Ein oder zwei Würfelaugen entscheiden übers Auf oder Ab. Glück hat, wer die 55 erreicht, mit der Wippe geht’s dann in einem Schwung bis zur 81. Aber Vorsicht bei der 109! Hier rutscht der Leiterwagen zurück zur 99. Es passiert viel bis zum Ziel und der Zufall dominiert: Beim Leiterlispiel entscheidet nicht die Leistung sondern das Würfelglück. Das freut die Einen und frustriert die Anderen – seit mehr als 100 Jahren schon. Das Spiel ist längst im kollektiven Gedächtnis verankert. Grosseltern haben es mit ihren Enkelkindern gespielt, und diese spielen es nun selbst bereits wieder mit ihren Kindern und Kindeskindern.

Sonja Hugentoblers Grossmutter konnte leider nie mittun. Sie war zu jener Zeit, als alle gemeinsam am Familientisch spielten, fast vollständig erblindet. Eine kleine Schwarzweissfotografie zeigt die Grossmutter inmitten einer Kuhherde stehend. Die Tasche der zierlichen Frau ist kariert. Helle und dunkle Felder im Wechsel, so wie beim Leiterlispiel. Visuell baut Sonja Hugentobler eine Brücke in die Erinnerung. Die Trogener Künstlerin hat auf ein Stück grundierte Leinwand ein Feldersystem gezeichnet. Die Linien sind mit Grafit von Hand aufgetragen. Die Strichführung ist lebendig, konzentriert, sucht einen geraden Weg, verengt und verdichtet sich. An manchen Stellen gehen die Linien über die Grenzen der Felder hinaus, bahnen sich noch ein Stück weiter, deuten das Ausschnitthafte des Werkes an. Auch die helle gelbe Farbe bleibt nicht innerhalb der Linien gebannt. Zart lasierend aufgetragen geht sie über das angedeutete Feld hinaus, öffnet den Raum in eine unbestimmte Weite.

Hier ist die Malerei das Spiel. Sie lässt sich nicht begrenzen, sie ist schlicht und doch reich an Nuancen, sie geht von einem System aus und bleibt doch ungebunden. Das Leiterlispiel liefert die formale Ausgangslage. Es ist vage präsent im Trägerkarton, in den rechteckigen Feldern, den Doppellinien dazwischen und im Wechsel von gebrochenem Weiss und Gelb. Anfang und Ziel, im Spiel die wichtigsten Felder, haben sich verflüchtigt, die Ziffern und die nach oben oder nach unten führende Bewegung, symbolisiert durch niedliche Bildchen, haben der Zeichnung und der Malerei das Feld überlassen. Es geht nicht mehr darum zu gewinnen oder zu verlieren, dem Würfel die Entscheidung zu überlassen. Sonja Hugentoblers Arbeit löst sich vollständig von der Spielvorlage. Im neuen Feldersystem ist für vieles Platz, auch für die Tasche der geliebten Grossmutter.

Sonja Hugentobler wurde 1961 in Chur geboren und lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin seit 2006 im Palais Bleu in Trogen.

Auftrittstext, Obacht 27, Nr. 2/2017

Wenn sich der Zeitgeist austobt

BGL in der Kunsthalle Arbon

Seit Johann Gottfried Herder ihn benannt hat, spukt der Zeitgeist durch die Lande, taucht mal hier im Feuilleton auf und mal dort, wird für vieles angerufen und ändert ständig seine Gestalt. Gar nicht so einfach, ihn dingfest zu machen, dafür braucht es eine Portion Unbekümmertheit und einen gewissen Vorwitz. Beides hat BGL. Das kanadische Künstlerkollektiv aus in Québec City hatte es bereits vor zwei Jahren geschafft, den kanadischen Pavillon an der Biennale Venedig inmitten durchgestalteter Länderpräsentationen in einen heruntergewirtschafteten Laden für alles zu verwandeln und ihn auch noch „Canadissimo“ zu nennen. Diese Unbefangenheit hat wohl auch ihren Anteil daran, dass Jasmin Bilodeau, Sébastien Giguère und Nicolas Laverdière ihre erste Einzelausstellung in der Schweiz abseits der grossen Kunstzentren zeigen und nichts Geringeres als den Zeitgeist ausstellen – in handlichem Format obendrein: Als »Mini-Zeitgeist« passt er genau in die Kubatur der Kunsthalle Arbon. BGL verwandelt die Halle in einen Parcours durch alles. Der Erlebnispark vereint Elemente ihres bisherigen Schaffens, lässt die vier Elemente auftreten, wechselt von Natur zu Künstlichkeit und zurück und kommt humorvoll daher, vermischt freilich mit kritischen Untertönen. Wie schon in Venedig gelingt es BGL auch in Arbon den Bau zu verwandeln, ohne seine Identität zu negieren. Die ehemaligen Hallen des Blechfabrikanten Schädler verwandeln sie durch einen Deckeneinbau in einen theatralischen Raum. Die Oberlichter werden so zu natürlichen Scheinwerfern und beleuchten beispielsweise den »Shisha Muffler», einen zur Seite gekippten Personenwagen, dessen Auspuff zu einer Shisha-Pfeife umfunktioniert ist und somit einen partizipativen Teil der Ausstellung bildet. Die Transformation der Dinge gehört zum Grundvokabular von BGL. Damit bewegen sie sich bewusst auf der Grenze zwischen Improvisation und der in der Konsumgesellschaft weit fortgeschrittenen Entfremdung der Dinge. So nehmen sie etwa jene weit verbreiteten Pseudofeuer aus beleuchteten Stofffetzchen aufs Korn oder täuschen eine Eislandschaft aus Styropor vor – selbst die grössten ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge finden bei BGL auf kleinem Raum Platz und gleich daneben darf sich die Spassgesellschaft austoben. Damit findet die Arbeit des Kollektivs das adäquate Bild für pauschale Zeitgeistbehauptungen.

Alle Farbe in der Linie

Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern, wie es war, als der alte Schwarzweissfernseher durch ein Farbgerät ersetzt wurde. Eines Tages erschienen plötzlich die bekannten, oft gesehenen Fernsehhelden in Farbe – in anderer Farbe. Denn in Farbe hatten wir sie immer schon gesehen, aber eben nicht in der nun Gezeigten. Unser Hirn hatte die Grauwerte in eine individuelle Version von Farbtönen umgedeutet.

Schwarz und Weiss und deren unzählige Abstufungen tragen bereits das gesamte Potential der Farbe in sich. Selbst in einem ein einzigen Grauton oder einem einzigen Farbton verbergen sich alle Farben der Welt – wenn ihn Hans Schweizer aufs Papier bringt. Selbst das weisse Zeichenpapier trägt die Farben in sich. Keine der Zeichnungen des Künstlers ist monochrom, auch wenn sie nur in einer Farbe ausgeführt ist, denn das helle Papier ist nicht nur Untergrund, sondern Teil jeder Komposition und Struktur und damit jeder Landschaft, ob am Meer oder in den winterlich verschneiten Bergen. „Aresquier (Plage)“ und „Ftan“ zeigen dies aufs Schönste, gefolgt von „Rosenberg (Winter)“. Mit diesen drei Farbstiftzeichnungen beginnt die Ausstellung „Hans Schweizer – How are you“.

Bild für Bild reiht sich in der hierarchiefreien Hängung aneinander; sie vereint viele Zeichnungen, einige Grafiken aus den 1970er Jahren und Gemälde aus den Jahren 2000 bis in die jüngste Zeit. Die Werke sind fast alle ungerahmt und hängen meist nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. So entsteht eine Erzählung von Bild zu Bild über die gesamte Ausstellung hinweg. Sie kommt ohne spektakuläre Wendungen aus und besitzt doch einen grossen Spannungsbogen mit gut gesetzten Akzenten beispielsweise unterhalb der Dachfenster in der Probstei St.Peterzell.

Hans Schweizer verzichtet auf die vielbeachteten Solitäre in der Landschaft und richtet den Blick stattdessen auf das Beiläufige, das unbeachtete Bekannte, aber nicht minder Bedeutungsvolle, auf den begradigten, brückenüberspannten Rhein bei Diepoldsau und Kriessern, auf hiesige Dachlandschaften oder auf das heterogene Häuserfeld der Stadt, samt dominantem Rathaus. Letzteres tritt in einen sinnfälligen Dialog mit den vor bald fünfzig Jahren entstandenen „Boxen“. Beide vereint die grosse geschlossene Form. Auch sie ist unspektakulär, aber umso anspruchsvoller ins Bild zu setzen. Wichtiges Element dabei ist die Binnenzeichnung, ob in der architektonischen Gliederung oder der Maserung.

Architektonische und textile Strukturen haben Schweizers Interesse immer wieder geweckt, aber auch der die Landschaft überspannende Himmel taugt für die zeichnerische, schraffierende Umsetzung. Den Ahnherrn für die sorgfältige, minutiöse Gestaltung des Himmels zitiert Schweizer in der Ausstellung gleich selbst. Das für die Ausstellung titelgebende Werk „How are you (Berlin)“ zeigt Caspar David Friedrichs „Frau am Fenster“ neben François Pascal Simon Gérards „Madame Récamier“. Während der deutsche Romantiker nicht nur bekannt war für seine grandiosen Himmelsdarstellungen, sondern auch die Aufmerksamkeit für jedes Weltdetail, so steht der französische Klassizist für ausserordentliche zeichnerische Fähigkeiten, die auch seine Gemälde auszeichnen. Gemeinsam mit seinem Künstlerkollegen Ingres sah er die Linie als das sinnliche und geistige Element des Gestaltens an. Die Linie dient der Ordnung, der Bewegung und sie ist Träger der Farbe – wie bei Hans Schweizer. Zugleich steht „Madame Récamier“ für den Moment des Innehaltens, der auch auf den Bildern Hans Schweizers zu erleben ist, der Menschen und Fahrzeuge ergreift und ruhig über den Landschaften liegt. Als „Status des Schwebens“ hat ihn Rolf Bossart in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog charakterisiert. Beides, Ausstellung und Büchlein, dokumentieren eindrucksvoll, wie vital die Arbeiten des 75-jährigen Künstlers sind.

Das grosse Miteinander

Alles andere als kompliziert: Die Ausstellung „Komplizen“ zeigt, was herauskommt, wenn sich Kunstschaffenden zusammentun mit Gestaltern, IT-Spezialisten, Fotografinnen, Architekten, Hotelinhabern, Musikern und anderen.

Kollegen, Kompagnons und Konsortien – Zusammenarbeit und deren Mehrwert stehen hoch im Kurs. Co-Working-Arbeitsplätze schiessen wie Pilze aus dem Boden, Kollaborationen werden erwünscht und gefördert, Kooperationen selbstverständlich vorausgesetzt; auch im Kulturbetrieb oder gerade dort. Energien und Budgets müssen gebündelt, Kreativität forciert und Netzwerke genutzt und ausgebaut werden, nicht nur digital, sondern zwischen realen Menschen.

Melanie Büchel und Eugen Fulterer handeln also nach dem Gebot der Stunde, wenn sie Kunstschaffende zur gemeinsamen Tat verpflichten. Die beiden haben für die aktuelle Ausstellung im Kunstraum Engländerbau acht Künstlerinnen und Künstler der Region eingeladen, mit einer Person aus ihrem persönlichen Netzwerk etwas Neues zu realisieren. Damit ist einerseits die konkrete Arbeit in der Ausstellung gemeint und andererseits – denn ein Mehrwert musste auch hier her – einen Dialog zu eröffnen und das Potential für solche Gemeinschaften in der Region zu aktivieren.

Das klingt nach einem Zweckbündnis und verlangt geradezu nach einer attraktiveren Umschreibung. Die ist dem Kuratorendoppel denn auch gelungen: Büchel und Fulterer rufen die Komplizenschaft aus. Das klingt nach geheimen Bündnissen, nach unverbrüchlichen Schwüren und kokettiert mit der Nähe zur Verschwörung. Es suggeriert Spannung, Aktion, Abenteuer, ganz wie in den gängigen Filmbewertungen. Ganz so rasant geht es in der Ausstellung dann aber doch nicht zu.

Visuell ist die Ausstellung durchaus gelungen. Die Werke behaupten sich im neutralen White Cube des Kunstraum Engländerbau, ohne sich gegeneinander auszuspielen. Vieles kommt unprätentiös daher mit einem Hang zum Provisorischen. So etwa die Installation von Anna Hilti, Luis Hilti und Toni Büchel. Die drei Liechtensteiner stellen ihre Idee eines Auswandererdenkmals in den Raum. Sie verschränken damit die heutige Migrationspolitik des Fürstentums mit der Vergangenheit des früher bitterarmen Landes. Innerhalb einer eigens gebauten Holzkonstruktion werden Diskussionen, Vorträge und Workshops zum Thema initiiert und erste Vorschläge präsentiert. Sie bestehen aus Würfelzucker und Zuckerbildern auf schwarzem Grund und wirken damit ebenso flüchtig wie spielerisch. Vergänglich ist auch die Installation von Milena Broger und ihrem Vater Frank. Die Köchin und der Grafiker kochten ihre Gefühle ein oder zumindest Lebensmittel, die ihnen als Metapher für Wut, Stolz, Angst oder Lust dienen. Das Gestell mit den appetitlich angerichteten Einmachgläsern ist schön anzusehen, führt aber wenig über sich hinaus. Hintergründiger ist die Sockelplastik von Damiano Curschellas und Karen Amanda Moser. Sie nimmt die Gestaltung des Ausstellungsraumes auf und führt darin ein Selbstgespräch bis sich dereinst ein möglicher Skulpturenkomplize einstellt.

Fridolin Schoch und Lukasz Wrobel zeigen mit ihren Fotomontagen die Schwierigkeit von Komplizenschaft in heutigen Zeiten: Kaum ein Mensch bleibt unsichtbar, kaum eine Beziehung geheim inmitten der weltweit freiwillig oder unfreiwillig übermittelten Daten. Zwei haben es dennoch versucht auszubrechen. Sie haben an die Wand des Ausstellungsraumes die Aufforderung „Take the money and run“ gesprayt und sich davon gemacht. Wohin? Die beiden Österreicher Albert Allgaier und Alexander Fuchs verraten es im aufliegenden Saalblatt. Ein gedankliches Roadmovie entspinnt sich: zwei hinterm Steuer, durch Dick und Dünn – so funktioniert Komplizenschaft.

Ausdruck in jeder Bewegung

Sigurd Leeder tanzte und unterrichtete mit Leidenschaft und auf höchstem Niveau. Seine School of Dance war auch in Herisau ein Zentrum des zeitgenössischen Tanzes. Anlässlich des 70. Jahrestages der Schule widmet das Museum für Gestaltung in Zürich Leeder eine sehenswerte Ausstellung.

Sigurd Leeder war ein begnadeter Tänzer, ein formbewusster Choreograph, ein Notationsspezialist, ein genialer Tanzpädagoge – es gibt viele Gründe, den 1902 in Hamburg geborenen Tanzautodidakten mit einer Ausstellung zu feiern. Das Museum für Gestaltung hat sich dieser Aufgabe mit spürbarer Begeisterung angenommen. Es ist die erste Ausstellung des Hauses zum Thema Tanz und sie ist gut platziert und strukturiert.

Seit knapp drei Jahren ist das Museum für Gestaltung im Zürcher Toni Areal untergebracht und befindet sich hier in direkter Nachbarschaft zur Zürcher Hochschule der Künste. So sind nicht nur die Studierenden des Bachelor Tanz in nächster Nähe – sie tanzten auch anlässlich der Ausstellungseröffnung –, sondern auch angehende Vermittler, Gestalterinnen, Medienschaffende. Die Ausstellung öffnet sich mit einem grossen Fenster zum Foyer der Hochschule und stimmt mit Filmausschnitten auf die Präsentation der Figur und des Schaffens von Leeder ein.

Die Ausstellung selbst ist nach Themenschwerpunkten gegliedert. Leeder wird als Tänzer porträtiert, als Tanzpädagoge vorgestellt, als Weiterdenker der Labannotation präsentiert. Immer wieder ist das Originalmaterial auf sinnvolle Art und Weise verzahnt: Reinschriften der Notationen werden Fotografien der entsprechenden Sequenzen gegenübergestellt. Filmausschnitte zeitgenössischer Interpretationen beweisen die Gültigkeit der viele Jahrzehnte alten Bewegungssprache. Masken und Kostüme überführen die fotografische Dokumentation in eine dreidimensional anschauliche Form.

Das historische Material in „Sigurd Leeder – Spuren des Tanzes“ stammt aus dem Nachlass Sigurd Leeders. Grete Müller hatte das Vermächtnis ihres Mentors aufbewahrt und 2010 dem Schweizer Tanzarchiv übertragen, das sich dadurch einen Platz auf der Liste der weltweit wichtigsten Tanzarchive erwarb. Die gebürtige Herisauerin hatte sich in der 1947 in London gegründeten Sigurd Leeder School of Dance zur Fachlehrerin für Tanz und Choreografie ausbilden lassen und führte die Schule ab 1964 gemeinsam mit Leeder in Herisau weiter. Hier im Ausserrhodischen vermittelte Leeder bis zu seinem Tode 1981 sein immenses Wissen an eine internationale Schülerschar weiter. Unterrichten hiess bei ihm stets das Ganze im Blick zu behalten. Er lehrte die Tanzschaffenden in jeder Bewegung eine Ausdrucksabsicht zu transportieren und integrierte auch Notation in den Unterricht, denn Tanz aufschreiben und Choreografien damit bewahren zu können war ein wesentliches Ziel seiner Ausbildung. Seine Schülerinnen und Schüler schliesslich strömten von Herisau aus in die Welt hinaus und führten Leeders Werk fort und entwickelten es weiter.

Viele der ausgestellten Aufnahmen entstanden in jenem Raum, der heute den Tanzraum Herisau beherbergt. Dieses alte Fotomaterial, die Originalnotationen bestimmen die Gestaltung der Ausstellung, denn sie sind lichtempfindlich. Deshalb ist die Präsentation in einem stark abgedunkelten Raum eingerichtet, und so öffnet sich mit jedem Bild, mit jedem Film eine kleine Bühne für das Schaffen Leders.

Bühnen bietet auch die Parallelausstellung des Zürcher Museum für Gestaltung: „Lasst die Puppen tanzen“ fordert die Schau auf. Ganz so wörtlich zu nehmen ist dieses Motto nicht. Zwar ist den gezeigten Marionetten und Handpuppen unter den Händen ihrer Spielerinnen und Spieler einiges an Dynamik zuzutrauen und historische Filmaufnahmen vermitteln davon einen kleinen Eindruck, aber die Exponate bleiben überwiegend statisch. Das Augenmerk liegt in dieser Präsentation des hochkarätigen Sammlungsbestandes vor allem auf der Gestaltung und Kostümierung der Figuren und auf ihrem Entstehungskontext.

Grenzen im und um den Garten

Wer einen Garten betritt, überschreitet eine Schwelle. Hier gilt eine andere Ordnung, ein anderes Miteinander von Mensch und Natur. Hier ist Kontemplation möglich, Aktion nötig und – im Falle der Biennale im Weiertal – Reflexion erwünscht. Die Ausstellung versammelt Arbeiten von über zwanzig Künstlerinnen und Künstlern.

Jeder Garten trägt ein Stück Paradies in sich. Ganz gleich ob er verwildert oder schnurgerade angelegt ist, ob üppig oder unkrautfrei – er ist ein Nachkomme des Garten Eden: ein kultiviertes Stück Land, ein Abbild des immer wieder neu definierten Verhältnisses des Menschen zur Natur. So gilt als idealer Garten heute einer, der Natur und Mensch gleichermassen gerecht wird. Allerdings ist der Zugang zum Paradies geregelt, nicht alle sind erwünscht. Hier setzt die Biennale 2017 im Kulturort Weiertal an. Dessen Gartenanlage mit alten Obstbäumen, Rosensträuchern, Weiher und Bachläufen ist ein perfekter Rückzugsort und liefert damit das Motto «Refugium». Aber wer darf hinein? Wer nicht? Warum nicht? Wie liesse sich das Verbot umgehen? Wer hat es überhaupt erlassen?

Die eingeladenen Kunstschaffenden reagieren mit ortsspezifischen Objekten und raumbezogenen Interventionen auf die nicht allen zugängliche Idylle. Sie zäunen ein und gliedern aus, sie vermengen Einheimisches mit Fremden, sie täuschen und tarnen, strukturieren und dekonstruieren. Gregor Frehner etwa inszeniert einen Schützengarten und platziert seine Betonbomben im Bach. Sie sind bereits mit Algen überwuchert, was ihnen eine Aura des Historischen verleiht; bedrohlich wirken sie dennoch. Diese Ambivalenz zeichnet viele der Kunstwerke aus. So lassen die Brüder Huber.Huber offen, ob der vergoldete Weidedraht tatsächlich unter Strom steht oder nur ein Symbol für die Wohlstandsschweiz ist. Das Künstlerinnenkollektiv RELAX beschriftet einen Schuppen mit dem Hinweis «members only» und verweist auf Last und Privileg der Gastgeberrolle: Exklusivität weckt Begehrlichkeiten, dies gilt nicht nur für Clubs, sondern auch für politische Strukturen. Monica Ursina Jäger und Michael Zogg setzen ein Polyedergerüst mitten in den Weiher – ihre Schutzfunktion kann die an ein Zeltgestänge erinnernde Konstruktion hier nur bedingt entfalten. Aber auch die Natur bedarf des Schutzes, daran erinnert Mia Dieners Märchen über «Das Vermächtnis vom Weiertal». Die Audio-Installation macht den Garten zum Hauptakteur, sie lädt ein innezuhalten und den Blick aufs Andere zu richten. Besonders den eigens für die Ausstellung geschaffenen Arbeiten, gelingt es, ausgehend vom Garten eine Gedankenreise weit über das Hier und Heute hinaus anzuregen und die Idylle aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu öffnen ohne sie zu zerstören.

Bis 10. September

www.weiertal.ch

Grüss Göttin

A.M. Jehle im Kunstmuseum Liechtenstein

Eine Schürze aus Blech, so steif wie eine Rüstung, eine «Genie»-Waschmittelpackung auf Stilettoabsätzen, aufgefädelte Babypüppchen – unter den Händen Anne-Marie Jehles verwandelten sich die Dinge eines weiblich geprägten häuslichen Umfelds in humorvoll-bissige Kommentare zu Rollenklischees. Die Künstlerin (*1937 in Feldkirch, +2000 in Vaduz) zeichnete, fotografierte – bevorzugt mit einer Polaroidkamera – , verfremdete die Fotografien und malte, sie entwickelte Collagen, Objekte und installative Inszenierungen. Sie stickte, strickte und verknüpfte diese traditionell weiblichen Handarbeitstechniken mit männlich konnotierten Begriffen. Sich selbst entzog sie solchen Zuschreibungen, indem sie ihren Vornamen stets auf die Initialen reduzierte. Eine Pionierin der Emanzipation war sie dennoch. «Dem treuen Dienstmeitli» widmete sie zwei Jahre vor Einführung des Frauenstimmrechtes eine an einem Kleiderbügel aufgehängte Zeitungstitelseite zu diesem Thema und einen Zehnfrankenschein umhäkelte sie mit einer Borte. Aspekte des Alltags treffen in ihren Arbeiten auf Fragen der Geldwirtschaft, der privaten und öffentlichen Macht. Geschlechtliches thematisierte sie ebenso offen, setzte aber nie ihren eigenen Körper in der Öffentlichkeit ein wie es Valie Export oder Ulrike Rosenbach taten. Stattdessen finden sich in ihrem Werk anspielungsreiche, mehrdeutige Objekte. Sie rücken die Künstlerin in die Nähe surrealistischer Verfremdungsideen und enthalten auch Referenzen zu dadaistischer Unbefangenheit und Provokation. Mit den Vertreterinnen und Vertretern des Nouveau Réalisme und der Fluxusbewegung stand A.M. Jehle schon sehr früh in Verbindung.

Als sie sich 1989 entschied, in den USA einen Neuanfang zu wagen, bricht Jehles künstlerisches Werk jäh ab. Sie versiegelte das in eine einzigartige Installation transformierte Haus im vorarlbergischen Feldkirch und liess die vielen, dort verwahrten Arbeiten zurück. Die Ensembles aus dem Haus befinden sich in der Sammlung des Kunstmuseum Liechtenstein. Es zeigt anlässlich des 80. Geburtstages der liechtensteinisch-vorarlbergischen Künstlerin den Grossteil der im Museum befindlichen Werke von A.M. Jehle.

Bis 27. August

www.kunstmuseum.li

Bregenz: Adrián Villar Rojas «The Theater of Disappearance»

Das Kunsthaus Bregenz ist bekannt für seine raumfüllenden Inszenierungen zeitgenössischer Kunst. Adrián Villar Rojas ist bekannt für seine riesigen ortsspezifischen Plastiken. Eine Ausstellung des Argentiniers im Kunsthaus Bregenz lässt also Grosses erwarten, zumindest was die Dimensionen anbetrifft. Tatsächlich wurde für «The Theater of Disappearance» erheblicher materieller Aufwand betrieben. Im Erdgeschoss wurde der geschliffene Terrazzoboden vollständig bedeckt mit einer eigens angefertigten Reproduktion von Piero della Francescas «Madonna del Parto». Wird sie einfach nur mit Füssen getreten oder ist die Distanz zum Irdischen aufgelöst?

Rojas versucht seine eignenen Arbeiten trotz ihrer Grösse in eine begreifliche Nähe zu bringen. So hat er auch die raumhohen Türöffnungen im Zumthor-Bau sämtlich verkleinert. Die neue Enge entspricht den Höhleninstallationen im den nächsten beiden Stockwerken. Im ersten wird eine urzeitliche Höhle imitiert: mit amonitendurchsetzten Marmorböden, mit grob aus dem Stein gehauenen Trögen und Wannen, mit Wandmalereien aus Russ und mit verschlungenen künstlichen Pflanzen.

Im zweiten Obergeschoss befindet sich die Höhle der Macht: mit einer lodernden Feuerleiste in nahezu völliger Düsternis, schwerem Kamingitter, Glastisch, pompösem Marmorboden und -sesseln. Die hier präsentierte Kopie von Picassos «Guernica» ist die passend unpassende Prestigestaffage in dieser Inszenierung. Im Obergeschoss weicht das Festungsambiente abrupt gleissender Helligkeit. Zum dritten Mal greift Adrián Villar Rojas auf ein grosses Werk der Kunstgeschichte zurück. Auf einem Sockel, zu dem vier lange Rampen hinaufführen, platziert er ein marmornes Fragment des «David» von Michelangelo – nur die Beine der Kolossalstatue sind noch vorhanden.

Stand die Reproduktion der «Madonna des Parto» für radikale Annäherung und diejenige von «Guernica» für radikale Aneignung, so ist es nun ein Abschied von den Idealen. «Davids» Torso ist mithilfe von Computertechnik aus dem Stein gefräst, er steht inmitten eines neutral weissen Kunststoffbodens, zu Füssen des Giganten tummeln sich spielende Katzenkinder. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist die Grösse der Renaissance nur noch eine Frage von Metern und Massen. Adrián Villar Rojas arbeitet dies anschaulich heraus, unterliegt aber mit seiner eigenen Arbeit ebenfalls der Lust am materiell Überbordenden.

Bis 27. August

www.kunsthaus-bregenz.at

Ab in den Garten!

Zur 5. Biennale Weiertal

Nicht jeder ist hier willkommen, weder jede Pflanze noch jeder Mensch: Im Garten ist die Natur von Menschenhand geordnet. Hier verwirklichen Gärtnerinnen und Gärtner ihre Vorstellungen vom Nützlichen und Schönen, hierher kommen sie und ihre Gäste um zu verweilen, hier finden sie Muse, hier sind sie unter sich – der Garten ist ein Refugium, ob mit oder ohne Hag. Mit seinen geregelten Zugängen, seiner Ordnung und seiner Fülle ist er das ideale Bild für Sehnsuchts- und Zufluchtsorte in grösserem Massstab. Es gibt also kaum einen besseren Ort, um sich künstlerisch mit Grenzen auseinanderzusetzen als einen Garten, einen Garten wie den Kulturort Weiertal. Hier, am ländlichen Rande von Winterthur summt und zwitschert es zwischen den Rosensträuchern, hier bieten alte Obstbäume Schatten. Über den Weiher und entlang den Bachläufen weht selbst an heissesten Sommertagen ein kühlendes Lüftchen.

Seit Jahren ist dieser idyllische Garten auch ein Ausstellungsort und heuer findet bereits die 5. Weiertal Biennale statt. Unter dem Motto „Refugium“ hat Kuratorin Kathleen Bühler über zwanzig Künstlerinnen und Künstler eingeladen, ihre Sicht auf den paradiesischen Zustand, seine Verlockungen und Grenzen zu präsentieren.  Viele der Kunstschaffenden reagieren mit eigens entwickelten Arbeiten auf den Ort. Yves Netzhammer beispielsweise arrangiert Gartenutensilien in einem Schuppen zu einem rätselhaften und unterschwellig abgründigen „Einbildungsvorrat“. Gabriela Gerber und Lukas Bardill ermöglichen den Perspektivwechsel mit ihrem „Doppelstall“ und Mia Diener lädt akustisch zu einer Gedankenreise über „Das Vermächtnis vom Weiertal“. Besonders hintergründig ist der vergoldete Weidedraht, den die Brüder Huber.Huber um einen Teil des Gartens ziehen. Steht er tatsächlich unter Strom oder ist er nur ein Symbol für die Wohlstandsschweiz? Eigentlich kommt es aufs physische Zwicken nicht so sehr an, wenn bereits das Denken aktiviert worden ist. Dies gelingt der Ausstellung immer wieder, drum: Ab in den Garten!

www.weiertal.ch