Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Gegen die Fleischblindheit

Zu den Abbildungen von Francisco Sierras Zeichnungsserie „Fleisch“

Fleisch ist Massenware. Küchenfertig zerteilt, stückweise abgepackt, konserviert, von den Grossverteilern zu Spottpreisen angeboten. Was einst Leben war, wird zum günstigen Kilopreis auf Plakaten und in Anzeigezeitschriften angepriesen: „Kauft Leute, kauft!“ – oder seht genauer hin. So wie Francisco Sierra. Der 1977 in Chile geborene und in Herisau und St.Gallen aufgewachsene Künstler hat die Fleischwerbung studiert und die Fotografien hinter den Preisschildern: Welche Bilder werden verwendet? Wie werden sie präsentiert? Wie wirken die Bilder auf die Konsumentinnen und Konsumenten? Wirken sie überhaupt noch? Die Reklameabbildungen sind geglättet, entfremdet, saftig rot eingefärbt. Oft tauchen sie mehrmals auf und werden bei der nächsten Rabattaktion nur gespiegelt. Manchmal nicht einmal das. Die Vergesslichkeit der Angesprochenen ist gross. Ist doch alles Wurst. Oder Fleisch.

Und dann plötzlich das: ein Stück Fleisch, eine Wurst isoliert auf weissem Grund – ohne Preisetikett, ohne Bezeichnung, ohne Supermarktlogo. Nur Muskeln, Blut, Sehnen und Fettstreifen: Francisco Sierra hat die Fleischstücke mit dem Buntstift detailgetreu wiedergegeben, reduziert auf das Eigentliche, in der exakten Manier wissenschaftlicher Zeichnungen. Dort, wo das Preisetikett prangte, hat er die Fleischzeichnung ergänzt. Nichts lenkt ab von der Präsenz des Organischen. Das Fleisch ist nicht mehr Ware, sondern wieder Fleisch und reiht sich damit einerseits in eine lange kunsthistorische Darstellungsreihe ein und eröffnet andererseits neue Reflexionsmöglichkeiten des Konsums.

Bereits in Renaissance und Barock reizte die Künstler die ambivalente Ästhetik des Fleisches, seine vielseitige Gestalt und Oberfläche wie auch die Anwesenheit der Vergänglichkeit und des Todes. Im 19. und 20. Jahrhundert werden die Schlachtstuben zum beliebten Sujet, so abstossend und doch so sinnlich – und noch so weit entfernt von der Massentierhaltung. Inzwischen ist Fleisch allzeit verfügbar und das zu Niedrigstpreisen, zusätzlich soll aus Bundesgeldern unterstützte Werbung den Konsum weiter antreiben. Dem setzt Sierra seine Zeichnungen entgegen. Mit altmeisterlicher Bravour zollt er den abgenutzten Fleischbildern neue Aufmerksamkeit. Unter seinen Händen werden all die Filetstücke, Rollbraten, Schenkel wieder kostbares Bildmaterial und funktionieren als Bausteine für den notwendigen Bewusstseinswandel.

Der Tick-Tack-Takt


Jedes Ereignis hinterlässt einen zeitlichen Abdruck in uns. Aber auch die ereignislosen Zeiten haben es in sich. Das Vögele Kultur Zentrum untersucht mit „alles zur zeit. Über den Takt, der unser Leben bestimmt“ die Facetten von Rast und Unrast.

„Oh weh, oh weh, ich werde zu spät kommen!“ Das weisse Kaninchen mit der Taschenuhr eilt durch Lewis Carrols Erählung „Alice im Wunderland“.  Immer zu spät, immer unter dem Druck der viel zu schnell verstreichenden Zeit. Halt! Verstreicht die Zeit wirklich von alleine? Wo kommt dann der Zeitdruck her? Wie fühlt sich Ereigniszeit an im Gegensatz zur abstrakten Uhrzeit?

Die aktuelle Ausstellung im Vögele Kultur Zentrum geht der Zeit und der Zeitwahrnehmung auf den Grund. Der Einstieg ist passend gewählt: ein Wartesaal. Schmucklos ist er, kein Bild, keine Reklame zieht die Aufmerksamkeit auf sich, nicht einmal eine Uhr. Stattdessen zählt die Zeitanzeige des Künstlers Gianni Motti 5 Millionen Jahre rückwärts. Warten, warten, aber nicht bis zum hypothetischen Ende der Welt, sondern nur so lange bis das rote Licht auf grün wechselt und den Eintritt in die Ausstellung frei gibt. Das Zeitgefühl ist geschärft, die Sinne sind aufs Thema eingeschworen.

„Nur wer wartet, erwartet“ – das erste der sechs Kapitel lotet das Potential der Zwischenzeiten aus und feiert die Langsamkeit, besonders treffend mit der Liveschaltung in die Burchardikirche in Halberstadt. Dort wird ein Orgelstück von John Cage gemäss dem Komponisten so langsam wie möglich aufgeführt und wird 639 Jahre dauern.

Zu viel Muse kommt allerdings nicht auf, denn es kracht immer wieder. Der Moment drängt sich ins Bewusstsein, illustriert mit einer Arbeit von Ueli Berger: in kurzen Abständen fällt ein Schlagzeugstock auf eine Trommel. In den Intervallen wird die Zeit fassbar, aber auch in der Abfolge der Ereignisse. Sie ist der Gegensatz zur Gleichzeitigkeit. Aber selbst was synchron aussieht, ist es nicht unbedingt, so etwa in Roman Signers Fotoserie „gleichzeitig“. Die automatisch ausgelösten Kugeln fallen unterschiedlich schnell in den am Boden liegenden Tonklumpen.

„alles zur zeit“ punktet nicht nur mit sinnreich ausgewählten künstlerischen Arbeiten, sondern auch mit kulturhistorischen Objekten. So ist etwa ein französischer Revolutionskalender ausgestellt – wer die Macht hat, bestimmt auch über die Zeit. Die Zeit festzuhalten gelingt aber nur bedingt: Alte Speichermedien wie DAT-Kassetten oder Lochstreifen sind zu einem Vanitas-Stillleben unserer Zeit arrangiert. Nur wenige Schritte weiter aktiviert eine Duftstation ein anderes Speichermedium: Geruchssinn und Gedächtnis arbeiten aufs Beste zusammen. So tauchen wir dank Sonnencremegeruch in längst vergangene Sommer ein.

Jede Zeit hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wie können wir letztere gestalten? Was aus ersterer lernen? Ein nachhaltiger Umgang nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit den Ressourcen kann nicht oft genug gefordert werden. Eindrucksvoll zeigt Cornelia Hesse-Honegger die Deformation von Insekten im Umfeld von Atomkraftanlagen, auch ohne Havarien. Ihre langsam entstandenen, sorgfältig durchgearbeiteten Aquarelle sind bereits für sich genommen ein wertvoller Kommentar zu Zeit. Damit verweisen sie auch auf den Aspekt der Eigenzeit, auf ein Dasein abgekoppelt von der Uhr. Ob das Leben als langsam oder schnell empfunden wird, hat ohnehin nichts mit der Zeitmessung zu tun. Auf einer der gelben Wissenstafeln in der Schau ist zu lesen: „Wer auf ein langes Leben zurückblicken möchte, sollte so oft wie möglich aus der Routine ausbrechen.“  Eine sinnvolle Möglichkeit dafür bietet die Fahrt zur Zeitausstellung in Pfäffikon.

Bildmanipulation und -realität

«In welchem Style sollen wir bauen?» schrieb der Architekt Heinrich Hübsch anlässlich der technischen Möglichkeiten des Bauens im 19. Jahrhundert. Heute lässt sich diese Frage auf die Fotografie und die digital erzeugten Effekte übertragen. Im Dialog mit der Malerei entstehen neue Bildrealitäten.

Was ist wirklich? Was ist wahr? Wie lässt es sich abbilden? Die Fotografie reduziert die materiellen Eigenschaften des abgelichteten Materials. Der Abzug oder Ausdruck ist ganz Bild. Ein Gemälde ist ebenfalls ein Bild, doch die Malerei erzeugt eine neue Realität, eine eigenständige materielle Präsenz. Gerhard Richter hat an den Grenzen beider Medien gearbeitet wie auch an den Übergängen dazwischen, immer wieder hat er den Wirklichkeitsgehalt von Fotografie und Malerei untersucht und fällte sein Urteil zugunsten der Malerei. Vor dem Hintergrund der grossen Aufmerksamkeit für die Arbeit des Künstlers ist es nur folgerichtig, dass zwei seiner bekanntesten Motive den Anfang der Schau „Das Ringen um die Wirklichkeit. Malerei und Fotografie im Dialog“ markieren. Aber es ist weder Richters Betty, die sich hier abwendet, noch steigt Ema die Treppe hinunter. Stattdessen handelt es sich um zwei Reinszenierungen. Das Schaffhauser Künstlerduo EberliMantel hat die Richterschen Bilder nachgestellt und analog fotografiert. In einem zweiten Schritt wurden die Aufnahmen digital auf «malerisch» getrimmt. Der Dialog ist also um einige Ebenen reicher: Hatte Richter mit seiner Replik auf Duchamps «Nu descendant un escalier» dessen Absage an die gegenständliche Malerei eine andere Wendung gegeben, so fügen EberliMantel dem Motiv zwei weitere Übersetzungsarten hinzu. André Bless greift ebenfalls in dieses Spiel ein und projiziert den englischen Titel von Duchamps Bild auf eine Treppe des Museum zu Allerheiligen. Langsam fliessen die Buchstaben über die Stufen nach unten und thematisieren einen neuen medialen Bruch ebenso wie die Kraft der Bilder.

Dialoge finden in dieser Ausstellung nicht nur zwischen Fotografie und Malerei als bildnerische Techniken statt, sondern auch zwischen den Bildinhalten. Einige Werke weisen starke kunsthistorische Bezüge auf, andere kommunizieren innerhalb der sinnfälligen Hängung über die Sujets miteinander. Fast alle Arbeiten sind jüngeren Datums und stammen ausnahmslos von Schaffhauser Künstlerinnen und Künstlern – die meisten sind Sammlungswerke. Einmal mehr zeigt diese Präsentation wie sich Sammlungen einerseits durch relevante thematische Fragestellungen aktivieren lassen und wie lohnenswert andererseits der Blick in die Depots ist, um daraus wiederum neue Auseinandersetzungen zu entwickeln.

Bis 5. Juni, www.allerheiligen.ch

Himmelherrgottsupernova

„Melancholie durch Heiterkeit belästigt“ – Markus Lüpertz setzt den Ernst heiteren Angriffen aus. Sein Gemälde ist einer der wohlinszenierten Kippmomente in der grossen Himmelsschau der IG Halle: „Out of the Blue – Aus heiterem Himmel“.

„Pssst, Friedrich malt Himmel.“ Brachte Caspar David Friedrich den Himmel auf die Leinwand, durfte ihn niemand stören. Denn Himmel zu malen war dem grossen Melancholiker Gottesdienst. Dies in einer Zeit als der Himmel längst verweltlicht wurde. Vorbei die Zeit, als Heilige in echtgoldenen Himmelsnischen standen und Engel auf aufgebauschten Wolken sassen. Der Himmel war ein ästhetisches und meteorologisches Gebilde geworden. So konnte Johann Wolfgang von Goethe den Romantiker Friedrich um Bilder für einen Wolkenatlas bitten – erhalten hat er sie selbstverständlich nicht.

Künstlerisch interessant geblieben ist der Himmel trotz aller Säkularisierung. Trefflich studieren lässt sich dies in der aktuellen Ausstellung der IG Halle. Es ist die 25. des Rapperswiler Kultur- und Kunstvereins und die letzte unter der Leitung von Peter Röllin. Gekonnt platziert ist sie im Obergeschoss des Kunst(Zeug)Haus Rapperswil. Hier, wo der elegant geschwungene Dachaufbau wellenförmig bewegte Ausblicke in den Himmel freigibt, eröffnen nun Künstlerinnen und Künstler ihre Ansichten auf Himmelsdinge.

Eine Rückkehr zur göttlichen Ordnung ist nicht zu erwarten, dies zeigt sich bereits im Treppenaufgang mit der Gouache „Der Engel flieht“ des niederländischen Surrealisten Lucebert. Faszinierend sind die höheren Sphären aber auch ohne geflügelte oder strahlenumkränzte Wesen. So lässt Andreas Hofer in „Raum für Frau Angelico“ die Heiligen einfach weg, zurück bleibt die sorgfältig konstruierte Frührenaissancekulisse. Der 1936 in Berlin geborene, seit 1991 im Zürcher Oberland lebende Maler Werner Schmidt malt den Himmel in Friedrich´scher Tradition als transzendenten Raum. Blau oder schwarz spannt er sich über das Format, leuchtend weisse Farbspuren verleihen ihm Plastizität und holen zugleich das Licht ins Bild. Überhaupt das Leuchten: Wie lässt es sich bannen? In welchen Farben? In welcher Technik? Die israelisch-schweizerische Künstlerin Naomi Leshem fotografiert den gleissenden Himmel über Landebahnen israelischer Militärflugplätze. Auf einzelnen Bildern der Serie steht eine Frau mitten auf der Landebahn, verletzlich und ins Bewusstsein rufend, dass es der Mensch ist, der diese Bahnen gebaut hat.

Immer wieder verändert der Mensch den Boden unter dem Himmel und allzu oft zum Schlechteren. So zeigt Georg Aerni in der Fotoserie „El jardín de los ciclopes“ die Plastikplanen, mit denen nicht nur die Hors sol-Erdbeerenkulturen von der Sonne Südspaniens abgeschirmt sind, sondern gleich ein vollständiger Landstrich. Ähnlich drastisch sind die Umformungen der Landschaften in China, fotografisch festgehalten von Ferit Kuyas. Hier tritt der Himmel zurück, um bald darauf umso mächtiger ins Bild zu drängen wie etwa in der gewaltigen Wolkenformation auf einer Fotografie Markus Gislers.

Längst sind die Himmelsgrenzen verschwunden und andere Sphären drängen ins Bild. Ein Meilenstein war die Mondlandung 1969. Edy Brunner hat diesen Aufbruch damals in 23’688 Einzelbilder zerlegt und in einem 10 Meter langen Tableau wieder zusammengesetzt. Der in Düsseldorf lebende Ostschweizer Thomas Stricker reist noch weiter. Dank virtuell montierter Originalaufnahmen der NASA und ESA geht´s bis in andere Galaxien und am Schluss zurück zur Sonne durch ein schwarzes Loch. Zurück zur Erdenschwere – oder doch nicht so ganz. Alles will hinauf, will fliegen, himmelhoch. Doch selbst Roman Signers Helikopter sind am Brummen gehindert, die Rotorblätter eingeklappt, verpackt. Ausgebremst? Auf die Balance kommt es an. Diese Schwebe zwischen heiterem Abheben und bedrohlichem Kippen hat der St.Galler Andrea Corciulo perfekt in Bilder übertragen. Das ganze Dilemma, die grosse Sehnsucht nach Leichtigkeit und die vermaledeite Bodenhaftung – in diesen Collagen treffen sie aufeinander, in diesen Collagen und in der gesamten Ausstellung.

Gross, grösser, gigantisch

Das Kunsthaus Bregenz feiert sein zwanzigjähriges Jubiläum mit «The Theatre of Disappearance». Die Schau des Argentiniers Adrián Villar Rojas ist eine der aufwendigsten in der Geschichte des Ausstellungshauses.

Die Architektur Peter Zumthors fordert in ihrer Strenge und Klarheit die Kunst heraus. Mal wurden die Oberlichter des Kunsthaus Bregenz skellettiert, mal wurde es geflutet und vernebelt. Es wurde an die Belastungsgrenze gebracht, ganze Räume wurden verschüttet, zusätzliche Wände eingebaut oder aufgehängt. Die Architektur ist geduldig und im Idealfall öffnen die Interventionen den Blick für die Arbeitsweise des Architekten, für Massstab, Material und Lichtführung.

In der aktuellen Ausstellung ist ein solcher Mehrwert ins Gegenteil verkehrt. Die Eingriffe in den Bau sind zwar radikal, aber sie reiben sich weniger an der Qualität des Hauses als dass sie sie negieren: Adrián Villar Rojas hat die Türöffnungen zu den Räumen und Aufzügen verkleinern und auf vier Etagen neue Böden verlegen lassen. Nicht irgendwelche Böden, versteht sich, denn bei Adrián Villar Rojas muss alles eine Nummer grösser sein, eine Nummer gigantischer. So wurde das Erdgeschoss geräumt, der Kassentresen in das Untergeschoss verbannt und der Fussboden vollständig bedeckt mit einer Kopie der «Madonna del Parto» des italienischen Renaissancemeisters Piero della Francesca.

Die Madonna ist nun so gross, dass sie den Blicken entzogen ist, aber den Füssen preisgegeben. Sie rückt in die Nähe, da sie sich greifen, ja sogar treten lässt, aber sie bleibt unnahbar, da sie sich nicht mehr als Ganzes erfasst werden kann – ein 450 Quadratmeterbild. Gehilfen des argentinischen Künstlers haben es auf Holzplatten gemalt und auch gleich noch Spuren der Zeit imitiert: Das Holz wurde aufgebrochen, abgeschabt, verletzt und bereitet mit der vernarbten Oberfläche auf das vor, was eine Etage darüber folgt.

Hier, im ersten Obergeschoss hat Adrián Villar Rojas tonnenweise braune Marmorplatten verlegen und tatsächlich eingeschlossene sowie künstliche Ammoniten stolpersteingleich herausmeisseln lassen. Das Ornament ist wichtiger als die Naturwissenschaft. Künstliche Efeuranken über der Glasdecke und steinzeitähnliche Zeichen den Wänden verstärken den Kulisseneindruck. Das Höhlengefühl wird ein Stockwerk darüber noch gesteigert. Dunkel und warm ist es hier. Zwischen schwarzen Kristallen züngeln echte Flammen. Sie sind die einzige Lichtquelle im Raum und erhellen nur spärlich eine Kopie von Picassos «Guernica». Das Ambiente mit polierten Marmorplatten am Boden, marmornen Clubsesseln, überdimensioniertem Kamingitter, aus dem auch ein martialischer Lüster geformt ist, entlarvt die Präsentation des Antikriegsbildes als reines Prestigeobjekt. Fehlen nur noch die Mächtigen, die in diesem Bunker die Welt unter sich aufteilen – bis ein Geheimagent eintrifft, vielleicht im Dienste Ihrer Majestät. Vielleicht ist der aber auch schon weitergezogen so wie der Superheld im Obergeschoss. Dort ist die wohl berühmteste Skulptur der Welt der Last ihres Ruhmes immerhin teilweise entkommen. Nur die Beine der Marmorkopie von Michelangelos David stehen inmitten einer vierteiligen Rampe. Den ganzen grossen Rest der Kolossalstatue entlässt Rojas in die Freiheit und entschädigt dafür mit niedlichen spielenden Katzenkindern. Hehre Grösse oder Kitsch? Kunst oder Kulisse? Solche Kategorien hebelt der Argentinier aus – unbefangen und mit einem deutlichen Hang zum Monumentalen. Zumindest durch diesen Gigantismus wird die Schau innerhalb der Ausstellungshistorie des Kunsthauses Bregenz in Erinnerung bleiben.

«‹Sorget Euch nicht!›, pfeift die Ente»

Der Kulturraum am Klosterplatz, jahrelang spannender Ausstellungsort des Kantons, ist in anderer Form zurück: Im Kloster Magdenau zeigen drei Künstlerinnen und drei Künstler ihre Arbeiten – für etwas mehr «Glanz und Glut» in der Welt.

Im Mai 2016 schloss der Kulturraum am Klosterplatz seine grossen schweren Türen für die zeitgenössische Kunst. Auf den Tag genau ein Jahr später ist er zurück, allerdings nicht mehr im Klosterbezirk angesiedelt, sondern nomadisierend im Kanton St.Gallen unterwegs: Als «Kulturraum S4» bewegt er sich künftig entlang der gleichnamigen S-Bahn-Linie rund um den Säntis, nicht sklavisch den Schienen folgend, sondern offen für Seitenwege und besondere Orte.

Das Kloster Magdenau ist so einer. Mitten im Grün, an kaum befahrenen Landstrassen zwischen Degersheim, Flawil und Uzwil liegen der idyllische Weiler und seine Zisterzienserinnenabtei – und das seit 770 Jahren. Kann es der zeitgenössischen Kunst gelingen, sich diesem grossen kulturellen Erbe unbefangen anzunähern, ihm auf Augenhöhe zu begegnen? Kann mit solch einer Begegnung nicht nur der Gegenwartskunst, sondern auch dem historischen Ort neue Bedeutung und Aufmerksamkeit widerfahren?

Es liegt wohl an beidem, am Gespür der Kuratorin und der Kunstschaffenden wie an der Aufgeschlossenheit und dem Pragmatismus der Nonnen, dass die Kunst und das Gebäude so gut aufeinander treffen – eine «abenteuerliche Spannung zwischen altem Bau und neuen Gedanken», wie Sr. Maria Veronika bei der Begrüssung sagte.

Glanz und Glut auf beiden Seiten

«Des Einen Glanz, des Anderen Glut»: Entlehnt hat Kuratorin Ursula Badrutt, Leiterin der Kulturförderung des kantonalen Amts für Kultur, diesen Ausstellungstitel einem der Embleme im Vestibül im zweiten Obergeschoss des klösterlichen Gästetraktes. Anschaulich bebildern sie religiöse Lehrsätze und moralische Verhaltensregeln zum Zwecke der täglichen Besinnung. Der Magdenauer Zyklus ist einer der frühesten und eigenwilligsten dieser Art in der Schweiz. Schon er lohnte die kleine Reise, aber nun ist er obendrein mit der zeitgenössischen Kunst verzahnt.

Der entlehnte Titel bezeichnet das Bild eines barocken Spiegels in einer brennenden Landschaft. Es steht für die Eitelkeit einerseits und für Selbsterkenntnis andererseits und tritt in einen sinnfälligen Dialog mit Manons Spiegel, der sich um sich selber dreht und der Nonne mit Apfel.

Von der Meisterin der Selbstinszenierung sind ausserdem Fotoarbeiten aus der Serie Hotel Dolores zu sehen. Als Auftakt im Eingangsportal konfrontieren sie die Vergänglichkeit mit Jugend, Lust und Schönheit. Von hier aus windet sich eine enge Wendeltreppe nach oben zum Vortragssaal St. Benedikt und dem Video Ab ins Zwischenwesen von Sarah Elena Müller und Birgit Kempker. Die beiden Künstlerinnen  begeben sich in Kloster und Umgebung auf die Suche nach dem Zauber des Lebens. Sie erwecken eine ausgestopfte Ente zum Leben, beseelen und erfinden Dinge und streuen denkwürdige Lebensweisheiten ein: «Sorget Euch nicht», mahnt die Ente – und, so liesse sich ergänzen, bleibet offen, das Unwahrscheinliche zu schauen.

Kunst im Kornspeicher

Requisiten aus dem Video sind im ganzen Gästetrakt zu entdecken, auch Gegenstände, die ganz selbstverständlich dazugehören hätten können, wie der Schlitten im Dachgeschoss. Immer wieder schaffen es die Kunstwerke, den Blick zu öffnen für architektonische Details und die Schönheit des Alltäglichen im Kloster. Alfred Sturzeneggers sorgfältig platzierte Werke im Dachstock etwa: Gefundene und gelegte Spuren in den Arbeiten auf Papier nehmen das Gespräch auf mit den Spuren im alten, vielfach geflickten Dielenboden. Das dunkle Grün auf zwei kleinen Formaten öffnet den Blick für das Grün des grossen Lastentors im Kornspeicher. Auf einem weiteren Blatt geben Klammern den Raum frei, sie öffnen das Feld ins Unendliche und damit auch für alles, was hier vor Ort eine Geschichte erzählen kann.

In Vorbereitung der Ausstellung haben die Nonnen den Dachspeicher geräumt, aber noch immer herrscht eine besondere Stimmung, die es auch Peter Dew angetan hat. Der St.Galler Künstler spielt mit dem, was ist und was sein könnte. Bereits im Vestibül hat er ein unscheinbares, auf dem Kopf stehendes Fragezeichen platziert. Im Dachstock sind es verborgene Farbkreuze im Fachwerk und Schrifttafeln, mit denen Dew Blick, Schritte und Gedanken lenkt. Blachen und Kübel, die an einigen Stellen zu finden sind, haben hingegen keine künstlerische, sondern praktische Funktion: Das Dach ist stellenweise undicht und müsste repariert werden, Infos hier.

Einzig Jonathan Meese geht offensiv zu Werke. Der deutsche Künstler hat sich das Zimmer des Prälaten auserkoren und hier seine Keine-Angst-Familie einquartiert. In gewohnt leidenschaftlicher, überbordender Malerei besetzt sie Wände, Bett und Möbel und steht im Sinne der Ausstellung ein für eine angstfreie Welt – dank Kunst, Ente und Kloster.

http://www.saiten.ch/sorget-euch-nicht-mahnt-die-ente/

«Zu den Bildern»

Nicole Böniges Arbeiten auf Papier für «Obacht Kultur»

Farbe ist Farbton und Materie. Sie lässt sich abtönen oder pur verwenden, lässt sich zart lasierend aufs Papier streichen oder deckend flächig auftragen. Mit Wasser verdünnt und mit breitem Pinsel ergibt die Farbe breite ausfasernde Striche. Eine Spraydose verteilt sie in unzähligen kleinen Spritzern aufs Papier. Pink, blau, grau, gelb, abgestufte Töne, grün.

In den Arbeiten von Nicole Böniger besetzt die Farbe den Raum, sie formt ihn. Farbe bestimmt die Tiefe des Raumes und seine Weite, sie definiert seine Grenzen und das Licht. Die Künstlerin sucht und mischt Farben. Sie gestaltet damit sowohl Bildräume, wie auch gedankliche Räume. Ohne gegenständliche Details vorzugeben und reduziert auf eine überschaubare Menge an Flächen und Linien, öffnen sie dem Sehen ein grosses Feld. Eine Horizontale wird zu einem Horizont. Ein Band zu einem Weg, einem Fluss, einem Feldrain. Flächen stellen sich dazwischen wie Steine, Findlinge, kleine Hügel, Landmarken. Nicole Böniger fügt manche dieser Flächen als Collageelemente ins Bild ein. Sie staffelt die Flächen hintereinander, setzt sie mit weiteren Farbbahnen zueinander in Beziehung, malt weitere Flächen darüber und baut aus diesem Zusammenspiel Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund. Nicole Böniger schneidet die Farbflächen so aus, dass das Papier weiterhin zu sehen ist. So ist das Papier mehr als nur der Farbträger, seine Tonwerte gehören zum Bild. Damit lenkt die Künstlerin die Aufmerksamkeit auf die Nuancen. Kein Weiss gleicht dem anderen, keine Fläche ist monochrom. Immer wieder fängt sich darin das Licht und zieht den Blick in eine unbestimmte Ferne.

Nicole Böniger ist 1970 geboren, in Abtwil aufgewachsen und verwandtschaftlich mit Appenzell Ausserrhoden verbunden. Sie lebt in Zürich und arbeitet in Wettingen. 2004 und 2008 hat sie einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung erhalten.

«Obacht Kultur» No. 27, 2017/1

«Bilder Thema»

Zur Obacht-Installation von Meisterflorist und Gestalter Walter Zellweger

Sie sind die Ersten: Die Blumenzwiebeln sind beständig, winterhart. Sie überdauern die kalte Jahreszeit um kurz darauf und vor allen anderen Blumen zu blühen. Jedes Jahr von Neuem. Es sei denn, die Zwiebel wird abgetrennt. Dann stirbt sie und mit ihr die ganze Pflanze. Walter Zellweger löst Blüten und Stengel der Tulpen von den Zwiebeln und übersetzt die Geste des Trennens und ihre Folgen in das Bild einer langsam wachsenden Distanz. Sind Blüte, Stengel und Zwiebel auf der linken Seite der Installation noch fest miteinander verbunden, so entfernen sich die Pflanzenteile rechts immer weiter voneinander. Zentimeter um Zentimeter, Stück für Stück. Der trennende Schnitt hat nur einen kurzen Moment gedauert. Seine Folgen zeigen sich nicht sofort. Noch sind die Blätter grün, die Blütenblätter rot. Noch entfalten die Pflanzen ein Eigenleben über das Raster des fixierenden Gitters hinaus, noch kräuseln sich die Blütenblätter, winden sich die Stengel. Aber die Vergänglichkeit ist der Installation eingeschrieben.

«Obacht Kultur» No. 27, 2017/1

Friedhöfe – Zeugen des Wandels

Orte für die Toten erzählen viel über uns Lebende. Wo bestatten wir die Verstorbenen? Wo gedenken wir ihrer? Wie gestalten wir die Gräber und die Plätze der Erinnerung? Lange Zeit wurden die Toten auf Friedhöfen beerdigt, in Kollektivgräbern die einen, in der Familiengruft die anderen, für die ewige Ruhe gebettet, bald dicht umwachsen und von Baumriesen beschattet. Alte Friedhöfe sind atmosphärische Orte. Der Journalist Hanspeter Spoerri schätzt die besondere Stimmung auf historischen Friedhöfen in Wien oder Prag und denkt über das Kommen und Gehen auf hiesigen Friedhöfen nach. Reglemente limitieren die Dauer der Grabstellen, lassen inzwischen aber grösseren räumlichen und gestalterischen Freiraum. So ist die Frage nach der idealen letzten Ruhestätte nicht mehr leicht zu beantworten. Unkonventionelle Orte des Trauerns und Gedenkens bieten sich an. Die Kulturanthropologin Theres Inauen schlägt den Bogen von den Fotografien und Bildern in der Küchenecke ihrer Grossmutter bis hin zu den virtuellen Grabstätten im Internet. Sie untersucht den Wandel der Erinnerungsräume als Spiegel des gesellschaftlichen Wandels. Die ästhetischen Konsequenzen der neuen Vielfalt erlebt der Steinbildhauer und Journalist Wolfgang Steiger: Auf den Friedhöfen weichen die lokal verankerten und einem Gesamtbild verpflichteten Materialien und die von sicherer Hand ausgeführte Gestaltung beliebig austauschbaren, oft maschinell erstellten Form- und Schrifttypen. Das Streben nach Individualismus ist ebenso gross wie die Freiheit bei der Wahl des letzten Ortes. Ein Stückchen Wiese, unbesteint und unbeschriftet, ein Häufchen Asche im Wind – auch das ist möglich. Der Florist Walter Zellweger interpretiert die letzte Reise mit sich allmählich von ihren Zwiebeln entfernenden Tulpen. Am Ende steht die Auflösung alles Seienden. Friedhof und Grabmal sind nur noch ein Angebot unter vielen. Die Lebenden können selbst entscheiden.

Einleitung Thematext Obacht Kultur, No. 27 | 2017/1

Tine Edel – Wege zum Bild

Tine Edels Wege zum Bild sind nicht standardisiert, Experimente sind Teil ihrer konzeptuellen fotografischen Arbeit.

Die Digitalfotografie ermöglicht technisch makellose Bilder. Bereits kleine Amateurkameras enthalten Programme um Verzerrungen, Rauschen oder Blitzlichteffekte zu verhindern, verbliebene Fehler können mit digitalen Bildbearbeitungsprogrammen weiter vermindert werden. Die technisch perfekte Fotografie ist jedoch eine Fotografie ohne Eigenschaften. So erklärt sich die Beliebtheit von speziellen Filtern. Sie simulieren gealterte Bilder, unvollkommene Bilder, sie täuschen Belichtungs- und Entwicklungsfehler vor, die ein Kennzeichen optischer und chemischer Vorgänge der analogen Fotografie sind. Was aber passiert bei analogen Prozessen genau? Wie lassen sie sich verändern? Wie weit lassen sie sich steuern? Wie groß ist der Spielraum zwischen gelungenem und gescheitertem Bild? Kann auch ein gescheitertes Bild ein gelungenes Bild sein?

Tine Edel experimentiert im weiten Feld analoger fotografischer Verfahren und Inszenierungen. Die Künstlerin negiert die Gesetze der tradierten Fotografie, sie arbeitet mit Mehrfachbelichtungen, lässt Fehler zu, mischt oder erhitzt Fotochemikalien, gewährt Bleichmitteln eine Eigendynamik und bringt verschieden groß Abgelichtetes zusammen in ein Format: Die Wege zum Bild sind in Tine Edels Arbeit ebenso wichtig wie die Resultate. Die Bilder sind eine Reise vom Bekannten ins Unbekannte, von Gebrauchsgegenständen und kleinen Fundstücken im Atelier hin zu mehrdeutigen Objekten im fotografischen Raum.

Alltägliche Dinge aus dem Atelier der Künstlerin, Gegenstände ohne inhaltliche Aufladung verwandeln sich in der Serie „Licht zu Papier“,  seit 2015 in etwas Anderes, ohne eine bestimmte Interpretation zu behaupten. Viel wichtiger als die Deutung der Motive ist der aufmerksame Blick für Umrisse, Texturen, Kontraste, Helligkeit und Schatten: Wie ist der Bildraum gestaltet? Wodurch entsteht Tiefe? Wodurch unterscheiden sich die Grautöne voneinander? Wie verhalten sich die Objekte zum Hintergrund? Wie verhalten sie sich zueinander? In den Schwarzweißfotografien entfaltet sich ein reiches Spektrum an Tönen, Nuancen und Texturen. Die fotografierten Objekte befinden sich aber in einem undefinierten Raum. Oft eignet ihnen eine Anmutung der Schwerelosigkeit. Optischen Halt erfahren die Dinge im Zwiegespräch miteinander. So verharrt ein  gefaltetes Tuch über der Sitzfläche eines Stuhles. Ein Wolkengebilde hängt über einer felsähnlich aufragenden Struktur. Ein textiles Gespinst strebt aus einer Glasflasche empor. Tücher, Flaschen, Spiegel, ein Holzscheit, eine Sellerieknolle, eine optische Linse – die Objekte stehen ursprünglich nicht in einer Beziehung, keines davon wird in eine andere Form gezwungen oder in seinem Aussehen manipuliert. Einzig durch die Position im Raum, durch Licht, Schatten und Anordnung, durch die Aufmerksamkeit der Fotografin erhalten die Dinge eine neue Präsenz und eine Relation zueinander.

Tine Edels Aufnahmen sind weniger Abbilder, als Bilder. Sie halten keinen bestimmten Moment fest, sondern bilden einen konzeptuell konstruierten Raum. Er ist das Ergebnis zweier situativer Inszenierungen und zweier separater Belichtungsmomente. Die Künstlerin nimmt einen Gegenstand im Atelier mit der Plattenkamera direkt auf Schwarzweißfotopapier auf. Für die Umkehrung in ein Positiv fügt die Künstlerin dem Bild eine weitere ergänzende Komponente hinzu. Neben optischen Linsen oder Textilien können dies auch Materialien wie zum Beispiel Polyesterwolle, Sand, Salz, Vaseline, oder Pappe sein.

Das Nebeneinander zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgenommener Dinge und die daraus entstehende geheimnisvolle Ausstrahlung der Bilder erinnert nicht von ungefähr an die Geisterfotografien William H. Mumlers (1832–1884). Tine Edel hat sich mit der sogenannten „spirit photography“  des Bostoner Autodidakten auseinandergesetzt. Er versprach in seinen fotografischen Porträts die gleichzeitige Darstellung des Geistes verstorbener Angehöriger und belichtete dafür die verwendeten Glasplatten doppelt. Tine Edel erzeugt die doppelte oder mehrfache Belichtung entweder mit einer weiteren Kameraaufnahme oder durch Fotogramme, also Gegenstände, die sich direkt auf dem Papier abzeichnen. Weder der Aufnahmeprozess noch das Ergebnis lassen sich vollständig steuern. Die Künstlerin gestattet und respektiert die Autonomie der Fotografie. Ihr geht es nicht darum, ein Objekt möglichst vollständig zu charakterisieren oder zu repräsentieren, sondern das Wesen der Fotografie zu ergründen. Ihre experimentellen und inszenatorischen Anordnungen, die chemischen und physikalischen Eingriffe verleihen den Bildern eine eigene werkimmanente Wirklichkeit.

Katalogtext anlässlich der Nominierung der Künstlerin für den 6. Marta Hoepffner-Preis für Schweiss-Fotografie 2017