Falten in die Unendlichkeit
by Kristin Schmidt
„à discrétion“ als Zündfunke: Auf der Suche nach einem geeigneten Gasthaus für ihre Kunst entdeckte Vera Marke die Krone in Herisau. Unter ihren Händen und dank des Engagements der Wirtsleute verwandelte sich ein unansehnliches Getränkelager in ein Fest der Malerei und in einen würdigen Auftakt für die Rokokostube im Obergeschoss. „Triade“ wurde mit dem Prix Visarte als herausragendes Kunst und Bau-Projekt gewürdigt.
Kobalt Mattblau. Rebschwarz. Caput Mortuum, dunkel. Alizarin Krapplack, dunkel. Elfenbeinschwarz. Venetianischrot. Kobalt Sapporo. Umbra. Umbra Natur. Klingende Namen, variantenreiche Pigmente. Sie auf der weissen Wand zu sehen ist eine Lust. Der helle Untergrund bringt selbst Braun zum Leuchten. Die Farben streichen über die Wand, sie mäandern, züngeln, schwingen in Bändern aus, treffen aufeinander, entfernen sich wieder, sind zart hingehaucht oder mit Vehemenz aufgetragen – sie fliegen über das Weiss und sind doch Teil desselben: Vera Marke hat ein Fresko gemalt. Dafür werden Pigmente direkt auf den noch feuchten Putz gestrichen. Was harmlos klingt, ist ein künstlerisches Wagnis, da alles in jenem Moment passieren muss, da der Putz saugfähig ist. Alles entsteht am Stück, nichts lässt sich vertuschen, jeder Farbtupfer ist für immer gesetzt.
Eine technische und historische Herausforderung
Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich die Vera Marke mit dieser Königsdisziplin der Malerei, dank „à discrétion“ kam endlich die Gelegenheit, ein grossformatiges Fresko zu realisieren: Für diese Ausstellung waren Preisträgerinnen und Preisträger der Ausserrhodischen Kulturstiftung und der Innerrhoder Kunststiftung eingeladen, für ein Appenzeller Gasthaus ihrer Wahl ein Kunstwerk zu entwickeln.
Vera Marke ist Malerin und suchte nach Malerei als Kontrapunkt, Dialogpartner und Anreiz zur Auseinandersetzung. Fündig wurde sie im Gasthaus Krone in Hundwil. Hier befindet sich im ersten Stock neben der Wirtsstube eine vollständig ausgemalte Rokokostube. Decke, Balken, Türen, Täfer und Wandschrank sind prachtvoll gestaltet. Drei Farben dominieren und drei malerische Handschriften können voneinander geschieden werden. Die ganze Stube ist in blau, weiss und rot gehalten, was ihr den Übernamen „Napoleonstube“ einbrachte. Die Farben freilich sind gedunkelt. Sie sind vergilbt, an manchen Stellen abgestossen, an anderen Stellen drücken tiefer liegende Schichten durch. Dennoch sind sie hervorragend erhalten und zeigen deutlich die Eigenheiten dreier Maler. Decke und Wände sind von schneller Hand mit Rocaillen, dem Hundwiler Wappen und der Darstellung des Heiligen Geistes als Taube dekoriert. Bei letzterer zeigt sich der Pragmatismus, der in einem Wirtshaus zwangsläufig vorherrscht: Die Taube ist nur halb zu sehen, da die mittige Saalbeleuchtung genau dort ihren Platz hat.
Die Stuben- und Kastentüren hat ein zweiter Maler mit Genreszenen geschmückt. Wie Fenster öffnen sich die sicher und routiniert gemalten Rechtecke in eine französisch-höfisch inspirierte Welt. Geziert, grazil bewegen sich die Figuren in einer artifiziellen Umgebung, alles ist in blau und weiss gehalten.
Der dritte Meister schliesslich hat den Laden gestaltet, der Gastwirtschaft und Stube voneinander trennt. Sein Anspruch ist zweifelsfrei der höchste. In drei grossformatigen Szenen zeigt er den Gründungsmythos der Schweizerischen Eidgenossenschaft: Rütlischwur, Tells Apfelschuss und Tellen-Sprung. Der Historiker Thomas Fuchs hat zu diesem Werk eine detaillierte formale und inhaltliche Analyse vorgelegt und dabei die Geschichte des Gasthauses einbezogen.
Vom Abstellraum zum würdigen Entrée
Der Dreiklang der Maler und Farben fügt sich zu einem dichten Gesamtkunstwerk, dem jedoch der angemessene Auftakt fehlte: Über die Zeit hatte sich der Eingangsbereich des Gasthauses zum Harassenlager entwickelt. Für Denkmalpfleger Fredi Altherr ein dringender Fall, denn das Foyer bereitet idealerweise auf das oberen Stockwerk vor, spielt mit ihm zusammen. Dank der Arbeit Vera Markes, der Begeisterung der Wirtsfamilie Speck für das überzeugende Konzept der Künstlerin ist die neue Verbindung nicht nur künstlerisch, sondern denkmalpflegerisch exemplarisch gelungen: Die Eingangssituation wurde gesichert und gefestigt, das Holz und die Eisentüre abgelaugt, die Malschichten neu aufgebaut und der alte Verputz wich dem virtuosen Fresko. Dessen Farben nehmen den Dreiklang aus dem Saal wieder auf. Auch die Gestaltung der Deckenbalken antwortet derjenigen des Obergeschosses. Auf der Wand jedoch breiten sich mit „Triade“ die Marmorierungen aus, verwandeln sich in Falten und Verästelungen und lassen sich von Hundwil aus ins Unendliche weiterdenken.
Visarte, der Schweizer Berufsverband visuelle Kunst, hat Vera Markes Arbeit mit dem Prix Visarte 2017 ausgezeichnet und damit als wegweisendes Projekt gekennzeichnet, um Kunst im öffentlichen Raum mehr Gewicht in Gesellschaft und Öffentlichkeit zu verleihen.
Obacht, 2017/3