Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Warten und Fliegen

Lichtensteig, SG: Als Bahnhöfe noch Bahnhöfe waren und nicht nur Haltepunkte, als Zugreisen noch denkwürdige oder gar glamouröse Ereignisse waren, waren auch Kleinstadtbahnhöfe besondere Orte. So wie in Lichtensteig. Der kleine Bahnhof war Teil der im sogenannten Heimatstil konzipierten, von 1910 bis 1912 errichteten Stationsgebäude an der damals neuen Linie der Bodensee-Toggenburgbahn. Heute hält die Südostbahn hier zwar noch, aber im getäferten Wartesaal wird nicht mehr gewartet, sondern Kultur gezeigt. Aktuell präsentiert die Kulturförderung des Kantons St.Gallen hier eine Ausstellung rund um Skispringlegende Walter Steiner. Ein Skiflieger im Wartesaal? Warum nicht, denn das Warten, das Innehalten gehört dazu: Wie fühlen sich die Sekunden an hoch oben auf der Skiflugschanze? Die Sekunden kurz vor dem Startsignal bevor es hinabgeht auf dem Anlaufturm, zum Schanzentisch, zum Absprung, zum Flug? Walter Steiner hat diese Momente immer wieder erlebt. Diese Spannung, aber auch diejenige zwischen Fliegen und Erdung, zwischen Heimat und internationaler Skiflugszene, zwischen Pioniergeist und Profizirkus sind ergiebige Themen über das Biografische hinaus. So ist es eine grosse Bereicherung, dass sich die Ausstellung nicht auf Dokumentarisches zu Walter Steiner beschränkt, sondern Künstlerinnen und Künstler ihre Sicht auf die Spannungsfelder präsentierten. Rolf Graf (*1968) beispielsweise lässt Wanderstockplaketten himmelwärts streben, während der altertümliche Stecken wie vergessen im Wartesaal lehnt. Yves Mettler (*1976) flicht einen poetischen Text zur Sicht auf die Landschaft in den Sicherheitszaun rund um den Schaltposten für den Fahrstrom. Elisabeth Nembrini (*1960) lässt auf der Glaswand der heutigen Wartezone einen Vogel starten und Birgit Widmer (*1964) bringt Wölkchen aus Holz zum Tanzen. Roman Signer (*1938) hat das Prinzip der Sprungschanze wörtlich genommen, von ihm ist «Piaggio auf Schanze», 2003 zu sehen: Das dreirädrige Fahrzeug wurde auf eine alte Schanze im polnischen Zakopane gezogen und los gelassen. Es flog fast zehn Meter weit, landete unbeschadet und ist noch heute dort unterwegs.

Die künstlerischen Arbeiten sind an verschiedenen Stellen in die kleine Ausstellung eingestreut, sie stehen den Fotosammlungen Steiners zur Seite, den Videosequenzen, Holzschnitzereien und Kinderzeichnungen und unternehmen von da aus eigene Gedankenflüge.

Ein Farngarten im Museum

Das Appenzeller Volkskundemuseum Stein präsentiert eines der Lieblingsmotive Hans Krüsis: In seinen Bildern werden Farne zu Bäumen, zu Wäldern und Wesen.

Hans Krüsi ist längst kein Unbekannter mehr, als Künstler nicht und auch nicht als Persönlichkeit. Über Krüsi wurde geschrieben, wurden Fernsehbeiträge gesendet, seine Werke wurden gesammelt, ausgestellt, aufgearbeitet. Doch noch immer gibt es unentdeckte Seiten im Werk des Ostschweizers. Eine davon wird jetzt im Volkskundemuseum Stein präsentiert: «Schattengewächs Farn – Hans Krüsi und die Natur» verweist bereits im Titel auf das zentrale Ausstellungsmotiv und zeigt dessen Wandlungsfähigkeit und Vielfalt.

Mitte der 1970er Jahre entstehen Krüsis erste künstlerische Arbeiten und schon in ihnen tauchen Farne auf. Noch ist der Blumenverkauf Krüsis Haupterwerb und so verwundert es nicht, dass er in dieser Zeit Farnstengel zu straussähnlichen Gebilden fügt. Noch bleiben die Farnpflanzen im Hintergrund, sind zartes, schmückendes Beiwerk für Vogeldarstellungen. Bald aber erhalten die Farne mehr Gewicht und eine eigenständige Farbgebung. Grössere Querformate füllt Krüsi einzig mit Farnwedeln. In leuchtenden Farben sind sie mal Ornament mal Motiv, aber immer von einer selbstbewusst vorgetragenen Schönheit.

Die regelmässige Form, die zur Spitze sich verjüngenden Blätter, die bis ins kleinste Blattdetail sichtbare Struktur, die Rippen, Sporen und Adern – Krüsi war ganz offensichtlich fasziniert von der Gestalt der Farne und von ihrem motivischen Potential. Immer wieder spielt er mit den Grössenverhältnissen. Ein einzelner Farnwedel kann in einem Bild zu einem Baum werden, mehrere werden zu einem Wald. Rot eingefärbt gleichen sie Flammen, weiss erinnern sie an Eisblumen. Mit dem Pinsel lassen sie sich weitermalen, sie erhalten Gesichter und funktionieren als Positiv- wie auch als Negativform.

Krüsis Technik wechselt von Jahr zu Jahr und von Blatt zu Blatt. Er benutzt die Pflanzen als Schablone und übersprayt oder übermalt sie. Er verwendet sie als Stempel oder integriert sie als Objekt in seine Arbeiten. Alle Materialien wirken schlicht, die Arbeiten fragil. Trotzdem oder gerade deshalb entfalten sie eine grosse Unmittelbarkeit, selbst dann noch, wenn sie verglast und gerahmt sind.

Die Ausstellung beschränkt sich nicht darauf, Krüsis Kunst zu zeigen, sondern stellt sie in den Kontext seines Lebens und seiner Herkunft. Die präsentierten Brillen des Künstlers, sein Mantel und das Blumenwägelchen mit Papierrosen sorgen allerdings eher für anekdotisches Beiwerk. Interessanter sind die Ton- und Fotodokumente, so lassen sich auch auf Krüsis Polaroids Farne entdecken und die Tonbandaufnahmen zeugen von seiner Nähe zur bäuerlichen Welt wie auch von seiner Leidenschaft für die Natur. Letztere hat in der Ausstellung einen besonderen Auftritt: Der Meisterflorist Walter Zellweger, bekannt durch „Blumen für die Kunst“ im Aargauer Kunsthaus, hat für Krüsis Arbeiten einen hängenden Farngarten und eine Farnwolke gestaltet. Der Schwellbrunner gliedert damit die kleinräumige Ausstellung und bringt das Grün und den Duft der Pflanzen ins Museum.

Jungspund ist anders.

Festivals prägen. In ihrer Dichte, ihrer Atmosphäre, ihrer Intensität sorgen sie bei Gästen und Beteiligten für bleibende Eindrücke. Aber auch die Städte und Quartiere verwandeln sich unter dem Einfluss von Festivals, denn sie bringen Menschen in Bewegung: Fachleute und Publikum reisen an, sie wechseln von einem Veranstaltungsort zum anderen, sie verweilen, sie frequentieren Plätze ausserhalb des eigentlichen Festivalzentrums.

Das gemeinsame Interesse am Inhalt schweisst die Gäste und die Beteiligten eines Festivals zusammen, aber die Begeisterung zieht stets auch Kreise über das Festival hinaus. Idealerweise springt der Funke über und verbreitet sich in der Stadt – Festivals entfalten einen Sog, so verwundert es nicht, dass sie zur Imagebildung und zu Vermarktungszwecken eingesetzt werden. Längst wird von einer Festivalitis gesprochen, wenn es nicht mehr um Inhalte geht, sondern um Übernachtungszahlen und Aussenwirkung.

Jungspund ist anders. Jungspund ist nicht einfach ein zusätzlicher Anlass in einer mit Festivals gesättigten Sparte, Jungspund springt in die Lücke. Seit Jahren fehlte den professionellen Theaterschaffenden für ein junges schweizerisches Publikum eine national und international beachtete Plattform, um ihr Schaffen zu präsentieren und sich zu vernetzen. Eine Leerstelle, die umso mehr schmerzte, als Theater von direkter, unmittelbarer Kommunikation und persönlicher Wertschätzung lebt, erzählen doch die Schauspielerinnen und Schauspieler eine Geschichte für ihr Publikum. Für ein junges Publikum: Jungspund richtet sich an Kinder und Jugendliche, ein Publikum also, das selbstverständlich mit virtuellen Erlebnissen in einer digitalisierten Welt aufwächst und mit der Welt des Filmes früh vertraut ist. Wie gut, dass Theater da für Irritationen sorgen kann. So entspann sich nach «Knapp e Familie» des Theaters Sgaramusch eine Diskussion darüber, wann ein Baum ein Baum ist. Ist ein Baum auf der Kinoleinwand echter als ein zu einem Baum verwandelter Besen auf der Bühne? Was ist real und was nicht? Kommt der Musiker zu «Block 47C» von Andi Peter und Andi Wettstein wirklich zu spät? Gab oder gibt es den Skispringer, Schulversager, Rabenmensch und Holzschnitzer aus «Herzwerk» der TRIAD Theatercompany tatsächlich? Und was ist überhaupt Theater? Ist «Block 47C» ein Theaterstück oder ein Konzert? Und «.h.g.» der Tessiner Kompanie Trickster-p? Ist das Theater, wenn niemand auf der Bühne steht, wenn es gar keine Bühne gibt, sondern einen echten Märchenwald und ein Lebkuchenhaus, das sogar duftet? Märchenwald? Kann grimmschen Märchen noch etwas Neues abgewonnen werden? Lassen sich altbekannte und bis zur Unkenntlichkeit verniedlichte Geschichten heute noch so erzählen, dass sich eine Gänsehaut einstellt?

Jungspund ermöglichte solche berührenden und prägenden Theatererfahrungen. Es wurden Kategorisierungen ad absurdum geführt, es wurden Gefühle geweckt und Fragen aufgeworfen, für die es keine vorgefertigten Antworten gab. Stattdessen durfte kommuniziert werden. Auch im Rahmenprogramm stand der Austausch im Vordergrund. Kompanien und Theaterschaffende hatten die Gelegenheit, ihre Arbeit vorzustellen, Rückmeldungen anderer Fachleute zu erhalten und Vermittlungsmöglichkeiten zu diskutieren. Wie wichtig das Gespräch ist, zeigte sich aber auch für die jungen Gäste: Im «Kiosk à Gogo» ging es nur vordergründig darum, entbehrliche Dinge aus dem eigenen Kinderzimmer gegen verheissungsvolle Objekte aus dem Kiosk einzutauschen. Viel wichtiger war es, ideelle und sachliche Werte zu verhandeln, sich hineinzuversetzen in potentielle andere Interessenten.

Jungspund hat Grenzen aufgelöst und Impulse gegeben, das Theater auch in der Musik, der Literatur, dem Tanz und der Performance zu verorten. Überdies hat es sich der Teilhabe aller Kinder und Jugendlicher an künstlerischen Ausdrucksformen verschrieben. Dieses vielgenannte kulturpolitische Ziel ist nicht nur mit Schulvorstellungen eingelöst worden, sondern auch mit der Vielfalt des Programmes, einer Vielfalt, die auch dank der Zusammenarbeit etablierter St.Galler Institutionen mit der freien Theaterszene zustande kam. In der sechsköpfigen Programmgruppe waren sowohl Verantwortliche des FigurenTheaters St.Gallen und des Theaters St.Gallen als auch Künstlerinnen und Künstler der freien schweizerischen Theaterszene vertreten. Die ausgewählten Inszenierungen stammten aus allen Sprachregionen des Landes, zwei davon wurden als Koproduktionen mit Jungspund realisiert, zwei weitere entstanden im FigurenTheater St.Gallen und dem Theaters St.Gallen und feierten ihre Premiere anlässlich des Festivals. Dank Jungspund ist die Stadt St.Gallen nicht nur Austragungsort für ein schweizweit beachtetes und einmaliges Festival geworden, sondern zugleich Teil der national und international tätigen Kinder- und Jugendtheaterszene. Jetzt kommt es darauf an, diese Vernetzung weiter zu stärken und die Stadt mit Jungspund als zentralen, national ausstrahlenden Ort für professionelle Theaterschaffende für ein junges Publikum zu etablieren.

IXYPSILONZETT Magazin für Kinder- und Jugendtheater (4/2018)

Simon Fujiwara – Facetten des Kommerzes

Simon Fujiwara zeigt im Kunsthaus Bregenz sein «Hope House» – einen Nachbau des Bastelbogenmodells des Anne Frank Hauses, inklusive Steckverbindungen und Backsteinmuster. Über drei Stockwerke erstreckt sich der Nachbau in den Dimensionen des Amsterdamer Hauses, aber das Ergebnis ist nicht Architektur in der Architektur, sondern eine Installation mit skulpturalen Qualitäten. Sie funktioniert als Gehäuse für Fragen rund um Kommerz und Spektakel.

Die Hilfsorganisation Oxfam hat sich weltweit dem Auftrag verschrieben, Menschen in armen Ländern eine sichere Existenzgrundlage zu ermöglichen, angefangen von der Bildung und bis hin zur Geschlechtergerechtigkeit. Das Geld dafür sammelt sie beispielsweise in Buchläden nach dem Brockenhausprinzip: Gelesene Bücher können abgegeben werden und werden wieder verkauft. Vor wenigen Jahren wurde eines der karitativen Antiquariate mit ausgemusterten Exemplaren des Erotikromans «Fifty Shades of Grey» dermassen überschwemmt, dass die Mitarbeitenden aus den Büchern Wände bauen konnten, gleich einer kleinen Festung.

Eine Bücherwand gab es auch im Haus an der Prinsengracht 263–267 in Amsterdam, jenem Haus, in dem sich die Familie Frank zwei Jahre lang versteckte. Das Gestell war beweglich und verbarg den Zugang vom Vorder- zum Hinterhaus. Erhalten geblieben ist es nicht, aber das Anne Frank-Museum zeigt eine Rekonstruktion.

Rekonstruktion der Rekonstruktion

Für sein «Hope House» hat Simon Fujiwara das rekonstruierte Bücherregal erneut nachgebaut und mit gebrauchten «Fifty Shades of Grey»-Exemplaren bestückt. Die Festungsmauer aus Büchern ist damit an die richtige Stelle gerückt, dorthin, wo sie einst das Hinterhaus schützen sollte. Aber «Fifty Shades of Grey»? Es handelt sich um ein kommerziell ausgesprochen erfolgreiches Buch. Das Anne Frank Haus wiederum ist zwar ein Museum, aber eines, in dem die Originalausstattung aus den 1940er Jahren nicht erhalten ist und das mit Repliken erfolgreich zur Touristenattraktion wurde. Eintrittskarten sollten wegen des Andrangs im voraus gekauft werden und auch der Shop ist gut besucht. Er verkauft ein Anne Frank-Tagebuch zum Hineinschreiben, Anne Frank-Briefmarken, -Bücher, -Comics und ein Modell des Hauses als Bastelbogen. Kommerz im Dienste der Erinnerung? Unterhaltung im Sinne des Infotainment? Gänsehaut inklusive?

Ein Modell als Rahmen

Simon Fujiwara konstruiert ein offenes System, in dem Fragen ebenso Platz haben wie individuelle Erfahrungen oder Verweise auf die Geschichte. Er fällt keine Urteile, auch nicht über die Kommerzialisierung des Anne Frank Hauses: «Ich versuche nicht zu kontrollieren oder Hierarchien zu konstruieren. Ebensowenig will ich eine Botschaft präsentieren. Ich schaffe eine Umgebung, in der alle Fragen gültig sind.» Ein schlüssiges Bild für diese Umgebung ist im Erdgeschoss des Kunsthauses zu sehen. Hier wird der Bastelbogen in originaler Grösse präsentiert. Zerlegt in seine Einzelteile ist es das Skelett eines Hauses. Sogar der leere Papprahmen fehlt nicht, der zuvor alles zusammenhielt. Er bildet die Klammer, gleichsam den Raum, in dem die Verehrung, die Trauer, das Interesse, die Projektionen, die Selbstbetrachtung des Publikums Platz haben. Auch mit der drei Stockwerke umfassenden grossen Version des Bastelbogens gelingt es Fujiwara einen Rahmen zu schaffen. Er liess von Vorarlberger Handwerkerteams nicht einfach das Haus in der Prinsengracht oder das Anne Frank-Museum nachbauen, sondern eben jenes Pappmodell.

Das Modell trägt weniger die Aura der Geschichte in sich als die kommerziellen Aspekte und damit verbundenen Fragen: Kann das Anne Frank Haus als lukrativer Anziehungspunkt mit einer Million Besuchen pro Jahr seine Aufklärungsfunktion noch erfüllen? Geht mit der geschichtstouristischen Vermarktung ein Ausverkauf der Geschichtsvermittlung einher? Legitimiert die Chance, das Wissen um die Geschichte weiterzugeben, die Vermarktung? Simon Fujiwara stellt diese Fragen in den Mittelpunkt seiner Arbeit, ohne die Antworten vorwegzunehmen: «Wir stehen jeden Tag vor einer neuen Welt, und mit der Geschwindigkeit des Kapitalismus werden neue Dinge von uns verlangt, auf die wir reagieren müssen. Ich habe Verständnis für die Anne Frank Stiftung und das Haus, denn es ist eine grosse und unbequeme Aufgabe, den Ruf und die Botschaft von Anne Frank in einer Welt, in der alles vermarktet und kapitalisiert wird, weiterzuführen.»

Vereinnahmungen und Verführungen

Die emotional aufgeladene Welt rund um Anne Franks Schicksal ist dabei nur ein mögliches Beispiel: «Aber es geht wirklich um jeden Einzelnen von uns als Individuum, denn in kleinerer Weise stellen wir uns jeden Tag die gleichen Fragen: Wie kann ich an dieser Welt teilnehmen, nicht ausverkaufen, sondern überleben, mich authentisch fühlen, meine Würde bewahren, ein Individuum sein und anderen helfen, aber trotzdem Geld verdienen und nicht konsumiert werden?»

Einen Teil des breiten und unübersichtlichen Spektrums der kommerziellen Vereinnahmungen und Verführungen hat Fujiwara ins «Hope House» integriert: eine Schokoladenmaske des französischen Chocolatiers Pierre Hermé, die von einer indigenen ghanesischen Maske inspiriert und aus Kakaobohnen von der Elfenbeinküste hergestellt wurde, Fasnachtskostüme für Kinder, mit denen sie sich als «Tempelritter» oder «World War II Evacuee» verkleiden können, Kunststoffbesteck aus einem öffentlich zugänglichen Gefängnisrestaurant, Spielzeugpanzer zum Selbstanmalen, ein Exemplar des Hosenanzuges, den Sängerin Beyoncé trug, als sie ihren Besuch im Anne Frank Haus auf Instagram dokumentierte und der danach innerhalb einer Stunde international ausverkauft war, oder «Happy D.», ein Baddesign von Phillipe Starck, das sich laut Hersteller Duravit mit den «feinen Radien der abgerundeten Ecken» «ganz von einer femininen Seite» zeigt. Neben diesen Ready mades zeigt Fujiwara frühere eigene Werke, etwa «Masks (Merkel)», 2015, Gemäldesegmente eines Porträts der deutschen Kanzlerin gefertigt aus dem Makeup-Material, wie es die Visagistin für Angela Merkel verwendet, oder das Video «Joanne», 2016, seiner ehemaligen Kunstlehrerin gewidmet und mit den Mitteln der Marketingindustrie umgesetzt.

Die Auswahl der Objekte im «Hope House» folgt einem roten Faden, ist aber durchaus nicht festgeschrieben, so Simon Fujiwara: «Es gibt eine Million Optionen, Versionen, Wahl- und Entwicklungsmöglichkeiten des ‹Hope House›, und ich hoffe, dass es in verschiedene Kontexte reisen und in verschiedenen Zeiten gezeigt wird. Es kann sich anpassen und das präsentieren, was in diesem Moment entscheidend ist.»

Spektakel als Prinzip

Eine Version des «Hope House» war im vergangenen Jahr in der Dvir Gallery in Tel Aviv zu sehen. Spielte Israels Geschichte für das «Hope House» und seine Rezeption eine andere Rolle als die österreichische Geschichte für die Ausstellung Bregenz? Simon Fujiwara verneint, viel stärker wurde der architektonische Moment wahrgenommen, der eigentlich keiner ist: «Die Ausstellung wurde mit Spannung und Neugierde aufgenommen, denn sie arbeitet in Erzählungen, die Israelis kennen, und solchen, die sie nicht kennen. In einer Modellversion des Anne Frank Hauses zu sein, zum Beispiel, war für viele eine ‹exotische› Erfahrung: eine Erfahrung, in einem ‹kleinen europäischen Haus› zu sein, das wenig mit dem täglichen Leben in Israel zu tun hat. Mit einer ikonischen Erzählung wie derjenigen von Anne Frank stellt das ‹Hope House› die Frage, ob es in gewisser Weise exotisch für alle ist, aber zugleich auch persönlich für alle.»

Mag im Falle Anne Franks die aussergewöhnliche, detailliert aufgearbeitete Geschichte Neugierde oder Gänsehaut auslösen, so faszinieren im Falle Beyoncés der Ruhm und die zur Schau gestellte Empathie, im Falle des Gefängnisrestaurants und des erotischen Beststellers dominiert die Lust am Fremden, am gesellschaftlich nicht Etablierten. Immer wieder kreist die von Guy Debord proklamierte Gesellschaft des Spektakels um sich selber und das «Hope House» zeigt deren Facetten in einem Bezugssystem, das ebenso dicht wie offen ist und dadurch sogar nach der Ausstellungseröffnung noch weiterwächst: So geriet Oxfam, eben noch der «Fifty Shades of Grey»-Exemplare überdrüssig, im Februar in die Schlagzeilen, weil Journalisten von Partys in den Republiken Haiti und Tschad berichteten, für die Oxfam-Angestellte Prostituierte engagierten.

Stadtansichten

«Converter» vereint die Arbeiten dreier Künstlerinnen und dreier Künstler im Kunstmuseum St.Gallen. So verschieden ihre Bildsprache ist, so pointiert sind die Werke gesetzt und so schlüssig sind sie in ihrem gemeinsamen Kommentar zu den aktuellen Einflüssen auf die Gestalt der Stadt.

Parkourläuferinnen und -läufer, Traceur genannt, schreiben neue Zeichen in den urbanen Raum. Untersuchten die Situationisten noch die Psychogeographie der Stadt und damit die manipulative Wirkung des gestalteten Raumes auf das menschliche Verhalten, interpretiert Parkour die infrastrukturellen Vorgaben aktiv um. Stadtmöbel, Brüstungen, Kanten werden als Bewegungsangebote gelesen, werden elegant, effizient und kreativ umgedeutet. Parkour ist eine Haltung, Parkour sieht die Stadt neu. In diesem Sinne ist «Converter» Parkour. Die erste Transformation findet statt, indem die Künstlerinnen und Künstler den Stadtraum in das Kunstmuseum St.Gallen bringen. Nicht in einem metaphorischen Sinne, sondern real, radikal: Gabriel Kuri (*1970, Mexiko-Stadt) zeichnet mit einem verrenkten Stahlrohr von Boden zu Wand und zurück wechselnd eine Linie, unterbrochen wird sie von Kekspackungen, Banknoten und Steinbrocken wie sie in Stadtzentren als Barriere gegen Terrorangriffe genutzt werden. Kommerz, Abfall, Reglemente und deren Potential zur Übertretung sind hier miteinander verflochten. Daneben besitzt die heterogene, präzise gesetzte Installation skulpturale Qualitäten.

Nina Beier (*1975, Aarhus) platziert mehrere grosse Asphaltstücke auf dem Parkett im Oberlichtsaal. Auf jedem Brocken liegen zerteilte Schokoriegel – die im Strassenbau verarbeiteten Bodenschätze sind die Basis für den angeschnittenen Mars, die halbierte Milchstrasse: Kosmos und Konsum sind eins geworden. Während Beier mit Produkten arbeitet, konzentriert sich Raphael Hefti (*1978, Biel) auf die Baustoffe. Stahlbarren hat er über fünf Jahre hinweg wechselnden Temperaturen ausgesetzt und damit langwierige Alterungsprozesse simuliert. Über die schrundigen Balken hinweg bläst es aus einer vergitterten Tür wie aus einem U-Bahn-Schacht. Der Gegensatz zwischen der brutalen Zweckform der Stadt und dem klassizistischen Ausstellungssaal könnte kaum grösser sein. Die ausgestellten Arbeiten eignen sich die Museumsräume an, sie interagieren, sie kontrastieren mit der Architektur. Dass dies perfekt gelingt, liegt nicht nur an der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler, sondern daran, dass fast alle von ihnen die Werke eigens für die jeweiligen Räume realisiert haben. Überdies bleiben sie nicht in der formalen Auseinandersetzung stecken, sondern beziehen Stellung zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragen, undogmatisch, aber bestimmt.

Moderne reloaded

Vaduz: Die Spuren der Moderne ziehen sich auch 100 Jahre später durch die Kunst. So lassen sich alle Ready Mades noch immer Marcel Duchamp zurückführen und Assemblagen, Collagen und Performances auf die Kunst oder Anti-Kunst seiner Zeitgenossen. Was also machen die Künstler in «Reservoir Moderne» anders? Sie nutzen konzeptionelle und formale Traditionen des frühen 20. Jahrhunderts direkt und ohne die Umwege, die durch die kunsttheoretische Aufarbeitung gespurt worden sind. Sie bewerten künstlerische Konzepte aus künstlerischer Sicht und suchen den unmittelbaren Zugang. Dieser These wird in der Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein anhand der eigenen Sammlung nachgegangen. Kristallisationspunkt ist in den gezeigten Werken immer wieder und wenig überraschend Duchamp. Er erhält einen grossen Auftritt bereits zum der Auftakt der Ausstellung in der Arbeit «Fountain Archive» von Saâdane Afif. Der in Berlin lebende Künstler stellt dem verlorenen gegangenen, gekippten Urinoir ein eigenes Ready Made gegenüber: Er präsentiert Publikationen zu Duchamps Werk in einer Reihung und Rahmung, die an Urnenwände erinnert, aber nicht Duchamps radikaler Geste das Grab schaufelt, sondern dem von der Kunstwissenschaft errichteten, theoretischen Überbau. Auch Rosemarie Trockels feinsinnige Anspielungen erhalten in der Ausstellung einen Auftritt. In ihren Werken ist der Kommentar zu Duchamp und Zeitgenossen aufs Schönste verstrickt mit kritischen Untertönen zum männlich dominierten Kunstsystem: So übersetzt die Künstlerin beispielsweise Malewitschs «Schwarzes Quadrat» in ein Strichbild, also in weiblich konnotierte Handarbeit, jedoch hergestellt dank digitaler Technik.

Insgesamt bleibt die Rezeption moderner Malerei in der aktuellen Kunst jedoch eine Randerscheinung in der Ausstellung, was nicht zuletzt an den Sammlungsschwerpunkten des Museums liegt. Stattdessen gibt es mehr Raum für Film, Literatur und Architektur der Moderne und der Zeit danach bis hin zu Stanley Kubrick oder Yves Klein. Letzterer findet in einem Video von Pamela Rosenkranz seinen zweiten Tod: Der blaue Bildschirm in «Death of Yves Klein» erinnert nicht von ungefähr an den gefürchteten Blue Screen of Death, der Nutzerinnen und Nutzern gewisser Betriebssysteme ein gravierendes Rechnerproblem anzeigt: fatal system error.

Die Ausstellung spannt den Bogen weit auf. Dennoch ist das Thema längst nicht ausgereizt, das Potential für eine Fortsetzung ist hoch und wird von den heutigen Künstlerinnen und Künstlern ständig erweitert.

Kauft, Leute kauft!

Simon Fujiwara stellt Fragen rund um Vermarktung, Ethik und Kunst. Im Kunsthaus Bregenz ist sein Nachbau des Bastelbogens aus dem Anne Frank Museum zu sehen.

«Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält, ihr lobender Monolog.» Guy Debord attestierte der Gesellschaft des Spektakels ein ins Totale gesteigertes Selbstinteresse. Eitel kreist sie um sich und produziert immer neue Spektakel. Seit Debords Schrift ist ein halbes Jahrhundert vergangen und die Vereinnahmung schreitet fort. Lässt sich dem Spektakel noch entkommen? Hat der Konsum alle Lebensbereiche erfasst? Darf überhaupt alles kommerzialisiert werden? Spielen ethische Fragen bei diesem totalen Ausverkauf eine Rolle? Simon Fujiwara begibt sich mitten ins Geflecht dieser Fragen und thematisiert sie undogmatisch, aber anhand eines besonders sensiblen Themas.

Erinnerung oder Infotainment?

Der Künstler mit britisch-japanischen Wurzeln besuchte im vergangenen Jahr das Anne Frank Haus in Amsterdam. Das Museum ist längst eine der touristischen Hauptattraktionen der Stadt. Mehr als eine Million Menschen besuchen jährlich das Haus. Spontanbesuche sind nahezu unmöglich geworden, ein Onlinebuchungssystem versucht die Ströme zu regulieren. Doch was ist überhaupt zu sehen? Wenig Originales ist aus der Zeit Anne Franks erhalten. Selbst die Tapete ist nachträglich wieder hinzugefügt worden und zwar aus Gründen der Authentizität aus ehemaligen DDR-Beständen. Auch das Bücherregal, welches das Vorderhaus vom Hinterhaus trennte, in dem sich Anne Frank und weitere sieben Untergetauchte verbargen, ist eine Rekonstruktion. Geschieht sie im Dienste der Aufklärungs- und Erinnerungsfunktion? Oder ist bereits die Stufe zum Infotainment überschritten?

Schicksale im handlichen Format

Im Museumsshop schliesslich entdeckte Simon Fujiwara ein Tagebuch im Stile des Anne Frank Tagebuches. Die leeren Seiten als harmloses Angebot für heutige Konsumenten und Konsumentinnen? Das ganze Schicksal nurmehr noch ein Produkt, eine Projektionsfläche für zeitgenössische Harmlosigkeiten? Simon Fujiwara urteilt nicht, aber seine Arbeit im Kunsthaus Bregenz zeigt doch sehr deutlich wie unauflöslich die kapitalistischen Verstrickungen sind. Das «Hope House» basiert auf einem Modell des Abbe Frank Hauses wie es im Museumsshop angeboten wird: ein Steckmodell in der Grösse eines Puppenhauses. Nun erstreckt es sich über drei Stockwerke des Ausstellungshauses in Realgrösse. Selbst die Verbindungsbolzen aus Pappe wurden nachgebildet, auch die aufgedruckten Ziegelsteine sind nur aufgedruckt. Dort, wo das Anne Frank Haus leer ist – originales Mobiliar war nicht erhalten – bestückt Fujiwara seine Rekonstruktion der Rekonstruktion Beispielen aus der Welt der Waren, die nicht immer eine heile, aber immer eine schöne Welt ist. So fühlt sich das eigene Leben gleich besser an nach einem Einkauf im Choose Love Store: Hier können Utensilien erworben werden, die Geflüchtete dringend benötigen, und sie werden den Bedürftigen direkt zugestellt. Wer für sich selbst konsumieren möchte, aber keine Zeit dafür hat, kann den Service von Outfittery beanspruchen und sich vollständige Bekleidungspakete aufgrund seiner online eingegebenen Vorlieben zusammenstellen.

Visuelle und inhaltliche Parallelen

Der auseinandergefaltete Outfittery-Versandkarton sieht wie der Grundriss eines Hauses aus. Diese Verbindungen visueller oder inhaltlicher Art durchziehen Fujiwaras Arbeit und reichen sogar noch darüber hinaus. So hat der Künstler das rekonstruierte Bücherregal im «Hope House» erneut nachgebaut, aber mit gebrauchten «Fifty Shades of Grey»-Exemplaren bestückt. Sie stammen aus einem der Brockenhäuser der Hilfsorganisation Oxfam, das mit ausgemusterten Exemplaren des Erotikromans dermassen überschwemmt wurde, dass die Mitarbeitenden im Internet darum baten, ihnen keine publizistischen Massenware mehr zukommen zu lassen, und aus den Büchern eine kleine Festung bauten. Oxfam wiederum geriet in der Zwischenzeit in die Schlagzeilen, weil Journalisten von Partys in den Republiken Haiti und Tschad berichteten, für die Oxfam-Angestellte Prostituierte engagierten.

Fujiwaras System ist so durchlässig und flexibel wie die Deckenkonstruktion im Kunsthaus Bregenz: Für das «Hope House» wurden die Oberlichter geöffnet, der Nachbau des Modells durchdringt gleichsam das gesamte Haus so wie sich auch Kommerz und Kunst durchdringen. Eines der bekanntesten Beispiele zitiert Fujiwara in seiner Plastik «Penthouse»: Ein Modellexemplar des Anne Frank Hauses ist hier gekrönt von einem modernistischen Glaskubus auf dem wiederum ein goldfarbener Balloon Dog aus Keramik steht. Jeff Koons´ Werk ist der Prototyp einer sich verselbständigenden Warenkette, sind doch die in millionenteure Kunst verwandelten Ballonhündchen inzwischen in handlicher, immer noch blitzblank polierter Version für ein paar Dollars im Internet zu haben und kaum zu unterscheiden von den teuren Originalen und Multiples. Das Spektakel dreht sich weiter. Noch einmal Debord: «Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat.»

Ab in den Wald

Die Kinder entwickeln draussen ihre Wahrnehmung wie nirgends drinnen. Mag der Wald auch noch so stadtnah und domestiziert sein, er bleibt ein komplexer Erfahrungsort.

Vogelmorgen bei den Waldkindern St.Gallen: Das heisst einmal im Jahr im Frühsommer den Vögeln beim Erwachen zuzuhören, die Morgendämmerung unter freiem Himmel zu erleben, sich gemeinsam mit den eignen Kindern im dunklen Wald in Schlafsäcke und unter Decken zu kuscheln und auf den ersten Laut zu warten. Das heisst aber auch die Kinder um vier Uhr morgens zu wecken, um pünktlich Viertel vor fünf am Waldrandtreff im Notkersegg erscheinen zu können, das heisst vorher Sack und Pack parat gemacht und die müden Kinder eingemummelt zu haben gegen die Kälte. Das heisst für die meisten auch das Auto nehmen zu müssen, denn nur wenige Waldkinder wohnen in Velo- oder Fussdistanz zum Waldrand – das erste Trogener Bähnli fährt erst Viertel vor sechs.

Aber bereits der Weg durch den stillen, noch nächtlichen Wald und die aufgekratzten, zugleich um Ruhe bemühten Kinder entschädigen für das frühe Aufstehen. Die raschelnde Suche nach einem Platz für Plache und Schlafsack, das gemeinsame Lager unter den himmelhohen Buchen sorgen ebenso für nachhaltige Familienerlebnisse wie die leichte Verschlafenheit von Gross und Klein, das Flüstern und natürlich das Lauschen. Zu hören ist … die Autobahn. Kurz nach Fünf. Die ersten Pendler und Pendlerinnen verlassen die Stadt in Richtung Osten, LKWs sind unterwegs. Die Stadt rauscht schon früh am Morgen lauter als der Wald. Sie bringt sich permanent in Erinnerung.

Wald als Stadtgürtel

Der Wald im Notkersegg ist kein unberührter Naturraum. Er ist ein Stück des grünen Stadtgürtels. Er ist von Fahr- und Spazierwegen durchschnitten. Er ist aufgeräumt und vielseitig genutzt. Eher sind Hunde zu sehen als Fuchs, Dachs oder Igel, eher Nordic-Walkerinnen als Greifvögel, eher Jogger als Rehe. So stammt auch der erste Vogellaut an jenem Maimorgen nicht von Amsel, Drossel, Fink oder Star, sondern von einer Krähe. Macht nichts. Bald tschilpen und zwitschern die Singvögel aus allen Wipfeln. Die Autobahn ist vergessen, die Krähe auch. Das Fenster zur Natur ist wieder offen. Für die Waldkinder öffnet es sich beinahe täglich für einige Stunden.

Die meisten der Waldkinder leben in der Stadt, sie wachsen in gestalteten, mehr oder weniger funktionierenden Räumen auf. Aber sie lernen das Gegenteil kennen – und schätzen.

In der Stadt folgt alles gesellschaftlichen Bedürfnissen, hier lenken Architektur und Infrastruktur das Verhalten der Individuen, hier erlaubt der gebaute Raum bestimmte Bewegungen, andere behindert er. Das setzt sich fort bis in den Innenraum. In Kindertagesstätten und Kindergärten stehen Stühlchen, Tischlein, kleine Bänke und Schemel bereit. Zwar gibt es inzwischen drinnen auch Klettergerüste, Mattenlager und Miniaturzelte. Aber alles hat eine Bestimmung und eine feste Größe. Die Räume und ihr Mobiliar sind definiert. Der Wald hingegen gibt den Kindern nichts vor, sondern lässt sich als Angebot lesen. Freilich ist er im Falle des Hasenwäldli und seiner Nachbarn ein längst domestiziertes Stück Natur, dennoch steht er in deutlichem Kontrast zur Lebensrealität in der Stadt. Hier ist der Boden niemals eben. Jeder einzelne Baum ist mit seiner Rinde haptisch interessanter als die allermeisten Gebäudehüllen. Gerüche wechseln ebenso wie Geräusche. Und statt einer Decke überwölbt das Blätterdach das Geschehen.

Nie schlechtes Wetter

Jetzt im März geben die unbelaubten Äste den Blick in den Himmel frei. Von dort kommen weitere Eindrücke – je nach Wetter. In St. Gallen gibt es regelmässig Tage, an denen ist es drinnen vor allem deshalb so behaglich, weil es draussen umso ungemütlicher ist, Tage, an denen es aus Eimern schüttet, Tage mit nasser Kälte, mit Nebel oder Nieselregen. Aber was heisst schon ungemütlich? Wenn die Gummistiefel dicht sind – das sollten sie unbedingt sein – und die wasserfeste Kleidung sitzt, kann nicht mehr viel schief gehen. Höchstens, dass die Gunte doch tiefer ist, als angenommen, und das Nass in die Stiefel schwappt. Die Schafthöhe der Stiefel und trockene Füsse sind Waldkindern jedoch weit weniger wichtig als ein schönes Stück aufgeweichter Boden. Da darf das Pfützenwasser auch knietief sein oder eine Matschrutsche hineinführen.

Genau so sollten Kinder die Natur erleben. Schwierig wird es erst, wenn sie vollständig schlammbedeckt auf dem Heimweg in Bus und Bähnli steigen. Schlechtes Wetter gibt es jedenfalls nie. Manchmal lohnt es sich eine ganze Woche lang kaum, die Regenkleider in die Waschmaschine zu stecken. Aber sie sind ja auch nicht dreckig, sondern höchstens voller Erde – Waldboden eben mit ein paar Lehmklumpen. Erst nach zwei Wochen Dauerregen hat fast jedes Waldkind wieder Lust auf Sonne. Aber dann weiss es selbst warum. Auch klirrender Frost ist kein Grund zum Drinnenbleiben. In jenem Februar vor einigen Jahren, als zwei Wochen lang Temperaturen im zweistelligen Minusbereich herrschten, war die Erleichterung jedes Mal gross, wenn die Drei- und Vierjährigen mit warmen Händen aus dem Wald kamen. Den Zvieri hatten sie im Laufen gegessen, sie waren müde, aber nie quengelig, denn der Wald gibt die Energie zurück, die die Kälte nimmt.

Wahrnehmung schulen

Die Kinder entwickeln ein Gespür für ihre Umgebung. Sie erfahren, wie sich etwas anfühlt. Das fängt bei der Nässe an und hört bei der Temperatur nicht auf. Auch die Weite des Raumes gehört dazu. In der Grosszügigkeit des Waldes finden die dynamischen Kinder ebenso ausreichend Platz wie die stillen, denen es in der Kinderkrippe schon zu laut war. Während die einen von Rufen begleitet jeden Hügel hinauf- und wieder hinunterjagen, finden die anderen zur gleichen Zeit ein ruhiges Fleckchen und richten ihre Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge. Viele davon werden gerne mit nach Hause genommen: Moos in den Jackentaschen, getrocknete, zerbröselte Blätter in der Hose, Steine im Rucksack (viel zu schwere, wenn die Diskussionen um das Schulranzengewicht berücksichtigt werden) und natürlich Stecken. Waldkinderfamilien besitzen innerhalb kürzester Zeit eine ansehnliche Stocksammlung. Zwar sollten die Kinder ins Bähnli nur Stecken mitnehmen, die nicht grösser sind als sie selber, aber wenn doch jeder Stecken heiss und innig geliebt und für etwas ganz bestimmtes gebraucht wird… So liegen sie denn irgendwann im Dutzend vor der Tür herum und jede Postbotin, jeder Postbote kann vermutlich genau sagen, wo in St.Gallen die Waldkinder wohnen.

Im Wald brauchen die Kinder keine Sammelkarten, kein Spielzeug, hier gibt es Material genug und jedes Kind ist am richtigen Ort. Das verleiht Selbstvertrauen. Da können die Bäume noch so gross sein und der Nebel noch so dicht. Neben elementaren Erlebnissen bietet der Alltag unter freiem Himmel eine permanente Wahrnehmungsschulung: Was umgibt uns? Welche Größe hat es? Welche Materialität? Welche Haptik? Tut es mir gut? Wie verändert es sich? Der grosse Wert dieser reichen, sinnlichen Eindrücke für die Kinder ist unbestritten und er ist nachhaltig. Denn der Erfahrungsschatz aus dem Wald wird den Kindern erhalten bleiben, wenn sie sich dereinst mehrheitlich in gebauten Räumen bewegen. Er wird es ihnen ermöglichen, die Psychogeographie der Stadt bewusst wahrzunehmen und Stadträume vielleicht sogar mitzugestalten.

Der nächste Schritt nach dem Waldkindergarten oder der Waldbasisstufe führt fast alle Kinder in die Hausschule, die nicht so heisst, weil sie Zuhause ist, sondern weil sie sich in einem Haus befindet und eben nicht im Wald. Die Waldkinder kommen mit einem gut geschnürten Rucksack in die öffentliche Schule, auch wenn es manche Grosseltern irritiert haben mag, als das Waldkind auf die häufigen Fragen, was es heute gemacht habe, jeweils erstaunt antwortete: «gespielt» – was denn sonst? Zum Beispiel «Kronenladen»: Die Kinder, Mädchen und Jungen, flechten aus Lärchenzweigen Kronen, schreiben Preise dazu, bauen eine Ladentheke, verhandeln und rechnen das Wechselgeld in Steinen aus. Fast ohne es zu bemerken haben sie gerechnet, geschrieben, gestaltet und ihre Sprachkompetenz geschult. Sie haben sie haben ihre Materialien selbst gewählt und miteinander gearbeitet, sie haben Handlungen mit Wissen verknüpft und praktisch angewendet und haben all dies aus eigenem Antrieb getan. Was für ein Glück, dass es die Waldkinder gibt! Wie schade, dass nicht die gesamte Primarstufe im Wald stattfindet.

Körperansichten

Herbert Hoffmanns Aufnahmen tätowierter Menschen liefern das umfassende Bild einer Subkultur. Aber war Hoffmann deswegen ein Künstler? Die Kunst Halle Sankt Gallen unterläuft gängige Ausstellungskonventionen und lässt Hoffmanns Arbeiten auf die Werke von vier Künstlerinnen treffen.

Das Internet ist voll davon: Aufnahmen tätowierter Körperteile. Sie werben für die omnipräsenten Tattoostudios, dienen als Motivkatalog und sprechen vom Mitteilungsbedürfnis der Tattooträgerinnen und -träger. Zwar beschränkt sich die Tätowierfotografie auf Ausschnitte, aber reale tattoobedeckte Körper werden heute selbstverständlich und nahezu überall öffentlich gezeigt. Früher, zu Herbert Hoffmanns aktiver Zeit als Tätowierer war es andersherum: Die Körper blieben in der Öffentlichkeit bedeckt, aber tätowierte Menschen zogen sich stolz für Ganzkörperfotos aus.

Hoffmann (1919–2010) führte viele Jahre die älteste Tätowierstube in Hamburg St. Pauli. Seit langem und über die Szene hinaus gilt er als Kultfigur, als Tätowierlegende. Viel zu diesem Ruf beigetragen haben nicht nur seine Tattoos, sondern auch die Schwarzweissfotografien. Über einen Zeitraum von 30 Jahren fotografierte Hoffmann 400 Tätowierte, geboren zwischen 1878 und 1952. Nun widmet ihm die Kunst Halle Sankt Gallen die bisher umfassendste museale Ausstellung mit mehr als hundert Werken, darunter nie zuvor gezeigte Arbeiten und Dokumente. Ein Anlass für diese Schau ist der regionale Bezug des Tätowierers: Er lebte seine letzten drei Jahrzehnte in Heiden, AR. Ein anderer ist die Frage nach dem Selbstverständnis: Hat Hofmann seine Fotografien als Dokumentationen verstanden oder als Porträts? Kommt es auf dieses Selbstverständnis an, um die Bilder im Kunstkontext zu verorten? Antworten gibt die Ausstellung bewusst nicht, sondern umgeht Festschreibungen mit einer parallelen Ausstellung der Werke vierer Künstlerinnen: Auf diese Weise werden, statt Qualitäts- oder Genrefragen gegeneinander auszuspielen, inhaltliche Verwandtschaften ausgelotet.

Louisa Gagliardi (*1989), Ebecho Muslimova, (*1984), Anna Uddenberg (*1982), und Tabita Rezaire (*1989) behandeln den Körper als Projektionsfläche und Transformationsobjekt. Weibliche Geschlechtsorgane werden als Ornament inszeniert und bis ins Groteske getriebene Selbstdarstellung begegnet kitschig überhöhter Bildästhetik, die durch die Eurovision Song Contests längst massenmedientauglich ist. Den spannendsten Beitrag liefern Uddenbergs suggestive Plastiken. Kratzbaum, Treppenlift, Massagestuhl oder doch erotisches Möbel – das Hacking von Alltagsgegenständen und -materialien ist hier ein lustvolles Spiel mit den Extremen.

Salon im Untergeschoss

St.Gallen: Die Übergänge sind fliessend und allgegenwärtig: Kunst wird zum Gebrauchsgut, Keramik dient der Kommunikation, Eigenes verwebt sich mit Fremden, Privates mit Öffentlichem. Bei Caro Niederer ist die Kunst ein offenes System und bleibt selbst im Ausstellungskontext durchlässig für Bedeutungs- und Funktionswechsel. Um dies angemessen zu würdigen, räumt das Kunstmuseum St.Gallen der Zürcher Künstlerin ausreichend Raum und Zeit ein: Caro Niederers Arbeiten sind im Untergeschoss während elf Monaten zu sehen. Dies ist eine unüblich lange Ausstellungsdauer. Sie ist jedoch nicht als statische Präsentation angelegt. Zunächst wurde ein Café eröffnet. Endlich. Denn noch immer wartet das Kunstmuseum St.Gallen auf einen Umbau, noch immer fehlt ein Museumscafé. Caro Niederers temporäres Café ist mit Vorhängen mit Gemäldemotiven bestückt, wartet mit Kunstkeramik und eigens bereit gestellten Publikationen auf. Im gegenüber liegenden Auditorium wird Niederers Video «Gespräche über die Arbeit» als Quelle für weitere Unterhaltungen gezeigt.

Wenige Monate nach der ersten Vernissage ist der Ausstellungsteil «Album» eröffnet worden. Im Sinne der klassischen, einen zeitlichen Ablauf spiegelnden Sammlung von Bildern fasst Niederer hierfür ihre Instragram-Fotografien zusammen und stellt ihre «Roten Bilder» aus. Diese grossformatigen Ölgemälde basieren auf alltäglichen Motiven aus dem Archiv der Künstlerin: ein Auto, ein Picknick, ein Blumenstrauss – durch die Transformation in Malerei sowie durch die Dimension und die suggestive Farbigkeit erhalten die Szenen eine neue Intensität. In diesem Ausstellungsteil durchdringen sich nicht nur die Medien, sondern auch die Handschriften. Caro Niederer inszeniert Begegnungen mit den Werken von Künstlerinnen und Künstlern aus ihrem privaten und beruflichen Umfeld wie Nora Berman, Tina Bräegger, Josef Felix Müller, Rachel Lumsden oder Andreas Rüthi. Parallelen zur Salonkultur des 19. Jahrhunderts bestehen nicht nur im gepflegten Gedankenaustausch, sondern auch im dargestellten persönlichen Netzwerk. Passend zu dieser Assoziation zeigt die Künstlerin in einem dritten Ausstellungsschritt frühere Interieuraufnahmen und Seidenteppiche. Das Kunstmuseum St.Gallen hat für «Good Life Ceramics» ein passendes Begleitprogramm entwickelt, das unter anderem eine Kunstbuchmesse und eine Textildesignschau umfasst.