Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Gleitschirmflieger im Sennenstreifen

Die aktuelle Ausstellung im tartar erforscht die Tradition der Appenzeller Senntumsmalerei und erlaubt dabei Nebenblicke in die Medien Fotografie, Plastik und Skulptur.

Sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde, mit Beinen wie zwei Säulen, deutlich grösser proportioniert als der übrige Körper. Menschen mit solchen Beinen wirft so schnell nichts um.

Fredy Ritter verleiht seinen braun behosten Sennen rechten Halt in der Welt. Zwar wirken sie weniger statisch als schematisierte Sennendarstellungen, doch gleichzeitig strahlen sie als Motiv eine Präsenz aus, die nicht selbstverständlich in der Bauernmalerei ist. Dies lässt sich in der aktuellen Ausstellung der Galerie tartar Kunstformen gut nachvollziehen. Unter dem Titel „Senntum et Novum“ zeigt Martin Jedlitschka eine breit angelegte Auswahl von Bildern, die mal mehr, mal weniger mit Sennenmalerei zu tun haben und auch Gebirgsdarstellungen, Landschaftsskizzen des ehemaligen Vorstehers des Innerrhoder Finanzdepartements, Josef Moser, oder Einzelbeispiele aus Mäddel Fuchs‘ 2010er Fotoserie „Hag um Hag“ umfassen.

Wie schon in den vergangenen Ausstellungen der Galerie wirken die gezeigten Arbeiten in ihrer Qualität sehr heterogen. Der Galerist verzichtet konsequent auf Wertungen und zeigt weitläufige Assoziationen zum Thema Brauchtum und was er dazu versammeln konnte, denn nicht alle gewünschten Arbeiten waren verfügbar. Insgesamt dominiert der Eindruck, weniger wäre mehr gewesen und eine strengere Auswahl der Werke würde nicht nur dem Gesamtcharakter der Präsentation, sondern auch den einzelnen Arbeiten zugute kommen.

Doch wer sich mit Zeit und Muse auf die Ausstellung einlässt, wird gleichwohl einiges entdecken, das einer Betrachtung lohnt. Die Fahreimerbödeli und Bilder Fredy Ritters fallen in diese Kategorie ebenso wie so manches anonyme Werk aus früheren Zeiten. Etwa jenes Portrait eines gelben Bauernhauses. Es ist keineswegs perfekt bis ins Detail ausgearbeitet, doch was dem Besitzer wichtig war, hat der Maler hervorgehoben: Die Vorhänge hängen aussen vor den Fenstern und erzählen so einiges vom Stolz ihrer Besitzer. Auf aktuellen Bildern sind es andere Details, die ins Auge fallen. So negieren einige Maler zeitgenössische Details vollständig, während andere sie ganz selbstverständlich in den sennischen Ausdruck integrieren. Eine Kinderschaukel, Badende im Seealpsee, Gleitschirmflieger über der Ebenalp oder die Plakette im Ohr der Kuh sind kein Problem, sondern Beiwerk im Sinne der Gegenwärtigkeit.

Von einigen Künstlern sind grössere Werkgruppen versammelt. So lässt sich beispielsweise die reiche Bildwelt Erich Straubs erkunden. Feinfühlige Porträts von Mensch und Tier stehen neben phantastischen, farbenfrohen Traumszenen: „Der Appenzeller im Himmel“ wird begleitet von einer sich selbst melkenden Kuh.

Ein grosses Konvolut zeigt die Ausstellung von Mathias Krucker, kurz KUK. Der junge Schwellbrunner zeigt eine erfrischend unkonventionelle Sicht aufs Senntum. Seine Protagonisten sind mehr Cowboys als Bauern, die Rinder kommen auf extrem hochformatigen Einzelbildern in Frontalansicht als wilde Urwesen daher, wird der Leib der Kuhskulptur geöffnet, entpuppt sich der Kasten als Bar.

In der Besucherinformation heisst es unter anderem „Am Alpstein hat sich eine ganze Heerschar von Artisten formiert, welche mit ihrer Kunst einen artifiziellen Zaun um ihr liebstes Kulturgut legen, auch um dieses vor den entrückenden Einflüssen des Neuen zu schützen.“ Ohne diese klischeebehafteten Malereien zu diskreditieren, zeigt die Ausstellung, wie sich Tradition anverwandeln lässt, indem ein offener Blick für die Realität bewahrt wird.

Assoziativ und suggestiv

Prisca Fritz stellt ihre Arbeiten in der Galerie vor der Klostermauer aus. Die Präsentation zeigt einen Überblick über ihr aktuelles Schaffen.

Ein Paar, kaum bekleidet, beieinander sitzend. Das Bild ist äusserst reduziert, doch das Wenige lässt erahnen, dass hier Mann und Frau an einem Strand sind, gemeinsam auf einem quadratmetergrossen Handtuch. Sie hat ihre Schuhe abgelegt, aber eine Kappe auf, er eine Sonnenbrille und schaut in die Ferne. Alles andere bleibt offen, alles andere ist auch nicht wichtig. Prisca Fritz fokussiert auf die Menschen und ihr Miteinander, oder in diesem Falle ihr Nebeneinander: Denn obgleich die Gesichter der beiden Dargestellten einander zugewendet sind, schauen sie sich nicht an. Neben diesem kompositorischen Detail sind es besonders die Farben des 48teiligen Acrylgemäldes, die Zweifel an dem aufkommen lassen, was der Titel verheisst: „Harmonie“.

Prisca Fritz geht nach einem ausgeklügelten Schema vor. Jedes Teilbild basiert auf genau vier Farben, eine den (Hinter-)Grund, eine für Handtuch und Haare, eine für die Haut, eine für Kappe, Kleidung und Schuhe. Auf Binnenzeichnung und Schattierungen wird verzichtet, stets stossen monochrome Flächen unterschiedlicher, aber stets intensiver Farbigkeit aneinander. Kontraste, wohin das Auge blickt. Prisca Fritz findet mit diesem Werk einen experimentellen, ganz eigenständigen Ausdruck. Es gehört damit zu den stärkeren Arbeiten in ihrer Ausstellung „Sichtbar machen“ in der Galerie vor der Klostermauer.

In diese Kategorie fällt ein weiteres mehrteiliges Werk: Auf acht kleinen Tafeln hat die St. Gallerin Beobachterblicke eingefangen. Die Porträts namenloser Personen besetzten jeweils das obere reichliche Bilddrittel, der übrige Teil ist weiss belassen. Männer wie Frauen in einem unbestimmten hellblauen Raum schauen über eine unsichtbare Brüstung nach unten. Wo befinden sie sich? Wen oder was beobachten sie? Und warum? Die sorgfältig aufgebauten Gemälde lassen alles offen, schade nur, dass der Titel „Stalker“ diese Offenheit etwas eindämmt, indem er ungute Absichten der Dargestellten suggeriert. Dies vermeidet Fritz mit dem Titel „Maske“ bei einem dreiteiligen Werk. Hier sind Frauenporträts mit verhülltem Gesicht zu sehen. Nur die Augen und der Mund bleiben unbedeckt. Die Ölgemälde entstanden kurz vor der Burkadebatte in der Schweiz und könnten durchaus in diesem Zusammenhang gelesen werden. Gleichzeitig zeigen sie die Vieldeutigkeit der Gesichtsverhüllung, sind erinnern sie doch auch an die Sturmhauben, die von Töfffahren ebenso getragen werden wie von extremistischen Demonstranten, oder auch an die Masken der BDSM-Szene. Diese Vieldeutigkeit wird durch den Bildtitel nicht eingeschränkt und durch die Farbigkeit der Vermummung – hellgelb, rosa oder dunkelbraun – noch unterstützt.

Prisca Fritz betont, ihre Ausstellung in der kleinen Galerie nach inhaltlichen Kriterien gehängt zu haben. Im Erdgeschoss die „lauten Arbeiten“ im oberen Geschoss die „leisen Bilder“. Auch hier schränken die Kategorien eher ein, denn so betrachtet liessen sich die Masken durchaus im unteren Stockwerk einordnen und die Werke „Akt, eine Treppe herunter steigend“ im oberen. Wer bei diesem Titel an ein oder zwei bedeutende Werke der Kunst des 20. Jahrhunderts denkt, ist damit auf dem richtigen Wege. Fritz ist für ihre Collagen zunächst von der gleichnamigen Serienfotografie Eadweard Muybridges ausgegangen, hat sich bei Marcel Duchamp umgesehen und auch Gerhard Richters „Ema (Akt auf einer Treppe)“ nicht vergessen. Ganz unbeeindruckt von der grossen Vorgeschichte des Motives entwickelt Fritz fragile Collagen, die den Bewegungsablauf beinahe filmisch nachvollziehen, und versucht sich einmal mehr in einem eigenständigen Ausdruck.

Minimal und Nachhaltig: Bojan Šarčević

Sie begegnen sich zum ersten Mal: She, 1,7 Tonnen schwer, und He, 5,4 Tonnen schwer. Ihre Oberfläche ist poliert und geometrische Einschnitte kontrastieren mit den unzähligen Äderchen und Schichten. Bojan Šarčević liess die zwei Blöcke aus Onyxmarmor in Steinbrüchen an der Seidenstrasse schneiden und ins Kunstmuseum Liechtenstein bringen. Im sparsam bestückten Ausstellungssaal strahlen sie nun Ruhe, Kraft und Schönheit aus. Ein einziges weiteres Objekt, ein Zweiglein mit hineingewobenen Haaren, schiebt sich fast unmerklich, aber dennoch wirkungsvoll in dieses Zwiegespräch.

Bojan Šarčević arbeitet mit sparsamen, aber sehr präzise gesetzten Gesten. Sie entfalten grosse Präsenz, wenn sie auch zunächst einmal rätselhaft bleiben. So auch jene an Regalsysteme erinnernde Konstruktionen aus Metallstangen mit Kupfertablaren oder die Filme in Pavillons aus Plexiglas. In einem sind farbige geknüllte Papiere, Pappkartons und ein Haarbüschel zu sehen, statisch zwar, doch durch die Kamerafahrt und die orientalische Musik zu einem Reigen erweckt. Ein anderer Film zeigt biomoprh geformte Tonobjekte mit Filzhaarbewuchs, begleitet von Panflötenklängen. Ein dritter erweist deutlicher noch als die anderen beiden Filme der Skulptur des 20. Jahrhunderts seine Referenz mit einer konstruktivistischen, an Sticken aufgehängten Holzskulptur. Weitere Werke Šarčevićs sind in eine vom Künstler kuratierte Sammlungspräsentation integriert. Dazu gehört ein Blatt mit zehn Fragen zur heutigen gesellschaftlichen Situation, darunter „Trifft es zu, dass die Gesellschaft heute keine Gesellschaft mehr sein will, sondern sich mit sich selbst zurechtkommen begnügt?“ Šarčević stösst unaufgeregt, aber nachhaltig das Denken an.

Sein und Verschwinden

Das Nextex zeigt in seiner aktuellen Doppelausstellung Werke von Katharina Anna Wieser und Doris Schmid. Ausserdem hat die St. Galler Künstlerin Elisabeth Nembrini eine neue Installation in der Nextex-Bar eingerichtet.

Die Räume sind klein, die Decken niedrig, die Durchgänge schmal. Das Nextex hat nicht gerade ideale Bedingungen, um zeitgenössische Kunst auszustellen, doch der besondere Charakter des Ortes erweist sich immer wieder als Glücksfall, vor allem dann, wenn eine Künstlerin mit ihm umzugehen weiss. In diesem Falle Katharina Anna Wieser. Die Baslerin analysiert die architektonische Grundform, die Struktur und Grösse von Räumen wie auch ihre Geschichte und Funktion. Davon ausgehend arbeitet sie sich an das Wesen des Raumes heran, macht es sichtbar und erlebbar.

Will der Besucher die aktuelle Ausstellung im Nextex betreten, scheint ihm dies zunächst verwehrt. Eine schräg angeschnittene, im Zickzackmuster mit den St. Galler Farben Rot, Weiss und Schwarz bemalte Barriere verstellt den Weg – und fordert eine Entscheidung: Zwischen Wand und Holzkonstruktion öffnet sich ein schmaler Spalt, gerade breit genug, um sich seitlich hindurchzuzwängen. An der Aussenkante der Arbeit bietet sich ein breiterer Durchgang an. Wer diesen nimmt, gelangt zur Innenseite eines frei im Raum stehenden Winkels aus zwei Stellwänden und sieht sich Weiss und von fallenden Linien umgeben. Das Auge versucht eine Horizontale oder Vertikale auszumachen, doch Wiesers Werk zeigt, dass es diese hier nicht gibt. Alles ist schief, der Fussboden, die Decke, die Balken. Auch der Winkel ist kein rechter. Zudem scheint er in seinen Halterungen zu kippen.

Mit ihrem Werk erweist Wieser nicht nur der Schräge des Raumes Referenz, sondern auch der Farbe der Fensterläden auf der Rückseite des Hauses, der Farbe des Erkers auf der Vorderseite, der früheren Farbe der Balken und dem einzigen Zierelement im Raum. Die Künstlerin hat ein mannigfaltiges Bezugssystem erarbeitet, das seinen Ausdruck auch im vieldeutigen Werktitel „Blende“ findet. Mit sprachlichen Mehrdeutigkeiten arbeitet auch Doris Schmid. Es wäre zu kurz gegriffen, den Werktitel „Projektionen“ nur auf die technische Abbildung der Videobilder auf der Wandfläche zu beziehen. Einiges mehr steckt in diesem Begriff bezogen auf die fiktive Lebensgeschichte einer 1919 geborenen Frau. Schmid folgt bruchstückhaften Spuren einer möglichen Biographie von Berlin über die Schweiz nach Athen und bewahrt sich dabei grosse Offenheit, die wiederum Freiheit für Interpretationen und eben Projektionen bietet. Selbst wenn im Video Personen oder Orte zu sehen sind, bleiben sie entrückt, rätselhaft, vage, denn die in Wien lebende Künstlerin bildet nicht einfach ab oder dokumentiert, sie entwirft neu. Sie überlagert Sequenzen, indem sie gefilmtes projiziert und erneut abfilmt. Sie verwendet fotografisches Material, Zeitraffer- und Zeitlupenaufnahmen, sie mischt Video und Film. Überdies ist die Tonspur mit einem unaufgeregten, fein komponierten Dialog aus der Werkstatt des Zürcher Autors Lorenz Langenegger verwoben. Einfühlsam spürt Schmid dem Verschwinden nach und bewahrt ihre Protagonistin davor.

Die dritte Arbeit im Nextex ist gleichzeitig eine vierte: die Barintervention # 4 von Elisabeth Nembrini. Die St. Galler Künstlerin beleuchtet den wenige Quadratmeter grossen Raum durch drei Zeichnungen. Sie wurden in weiss bemalte Folien gekratzt und strahlen nun mit Hilfe dreier Hellraumprojektoren von der Wand. Auch sie sind mehrdeutig und fügen sich aufs Beste zur Doppelausstellung von Schmid und Wiesner. Der Wellensittich etwa hat in seiner Grösse und Pose nur noch wenig gemein mit dem zahmen Tierchen im Vogelbauer und das Wort „Blue“ eröffnet weite gedankliche Räume und holt die ganze Welt in die fensterlose Kammer.

Leerstellen als Leitlinien

Susann Albrecht schärft die Wahrnehmung für den Raum. Unter dem Motto „Der fragmentierte Raum“ zeigt sie ihre Arbeiten in der Galerie vor der Klostermauer.

Unterführungen, Brücken, Korridore halten die Menschen in Bewegung. Es sind Gangsituationen, dafür geschaffen, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Überdies bieten sie in der Zentralperspektive einen weit entfernt gelegenen Fluchtpunkt und öffnen einen tiefen Raum. All diese Aspekte faszinieren Susann Albrecht. Die 1954 geborene St. Gallerin ist seit einigen Jahren mit der Kamera unterwegs, um besondere Raumsituationen und das Verhalten der dort anwesenden Passanten zu ergründen. Ein wichtiger Meilenstein war dabei ihr Aufenthalt im Rom-Atelier des Kantons St. Gallen 2009. Sie untersuchte damals monumentale Personendarstellungen im Verhältnis zur architektonischen Umgebung. Ein Beispiel dieser Werkphase ist derzeit in der Galerie vor der Klostermauer zu sehen. Doch auch ganz aktuelle Arbeiten sind ausgestellt.

Ob älter oder neu: Susann Albrechts Fotografien sind das Ergebnis strategischer Überlegungen, sensibler Wahrnehmung und einer Portion Zufall. Mit dem Fotoapparat begibt sie sich in den Stadtraum oder Räume im Übergangsbereich von Innen und Aussen wie überdachte Brücken, grosszügig durchfensterte Galerien und Arkaden. Dort wählt die Künstlerin eine Sichtachse aus und wartet. Erst dann, wenn die anwesenden Passanten in bestimmter Konstellation zueinander stehen oder gehen, nimmt Albrecht die Szenerie auf. Doch selbst dann kommt es vor, dass plötzlich jemand ins Bild läuft – ungeplant und dennoch willkommen, denn in der Summe aus Kalkül und Zufall entsteht eine sowohl ausgewogene als auch spannungsvolle Komposition.

Damit nicht genug. Weitere Akzente setzt Albrecht, indem sie die kleinformatigen Schwarzweissabzüge auf unkonventionelle Art vergrössert. Das Bild wird nicht etwa auf einem hochspezialisierten Drucker ausgedruckt, sondern Albrecht verwendet einfache Kopiergeräte. Die fotografische Vorlage wird dabei Stück für Stück, Bildausschnitt für Bildausschnitt vergrössert. Anschliessend werden die Fragmente zusammengesetzt.

Prozessbedingt entstehen dabei Leerstellen an den Rändern der einzelnen Blätter. Diese zerschneiden als weisse Linien das Motiv. Indem bestimmte Details zusammengefasst und andere durch diese Linien abgetrennt werden, lenkt Albrecht die Wahrnehmung des Betrachters. Die Anordnung der Personen und andere Einzelheiten des Bildes werden betont. Die Künstlerin wertet und gewichtet. Sie choreographiert ihre Aufnahmen. Und nicht nur das. Auch die Ausstellung selbst lebt von der durchdachten Anordnung der Einzelelemente, in diesem Falle der Werke. Im Untergeschoss der Galerie liegt der Fokus auf Aufnahmen des Aussenraumes oder von Übergangszonen. Im oberen Stock zeigt Susanne Albrecht den Innenraum. Einmal ist eine Frau in einem Buchladen zu sehen. Die Fragmentierung des Bildes legt so manches leicht zu übersehendes Detail offen, wie etwa das Fensterputzmittel im Büchergestell. Doch inmitten des dicht gefüllten Raumes widmet sich die junge Frau ihrer Lektüre und erinnert in ihrer Versunkenheit an die Frauenbildnisse Vermeers. Der Fotografie gegenüber hängt das Schwarzweissbild eines Mädchens, ebenfalls vor einem Bücherregal, ebenfalls vertieft, aber in das Spiel mit gefundenen, einfachen Materialien. Damit ergibt sich eine Brücke zu einem weiteren Werk, einer abfotografierten, floral verzierten Ofenkachel. Sie ist die einzig farbige Arbeit, und die einzige, bei der die Fragmentierung bereits vorhanden war. Es ist ein Foto eines Fundstückes, dessen Einzelteile Albrecht gesucht und zusammengesetzt hat. Auch hier sind Leerstellen selbstverständlicher Teil der Arbeit und geben Raum, die vorhandenen Dinge genauer anzusehen.

Das Buch als Fries

Der in St. Gallen geborene Thomas Stricker zeigt in der Kunstbibliothek im Sitterwerk seine Monographie und Arbeitsproben.

Bücher lassen sich virtuell oder manuell blättern. Aber stets ist es nur ein Ausschnitt, sind es ein oder zwei Seiten, die gleichzeitig sichtbar sind. Schade ist dies vor allem bei Büchern, die vom vorderen bis zum hinteren Buchdeckel in einen grossen zusammenhängenden Bilderkosmos entführen wollen. Letzteres tut Thomas Strickers grosse Werkmonographie „Skulpturale Fragen“. Alle wichtigen Arbeiten des Künstlers sind darin vorgestellt, eine jede auf mehreren Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Die Werkabbildungen lassen sich nun freilich auch beim Durchblättern studieren, aber die Chronologie des Buches und die Vielfalt der Arbeiten zeigt sich um einiges anschaulicher in der aktuellen Ausstellung in der Kunstbibliothek im Sitterwerk.

Die Monografie ist als begehbares Buch inszeniert. Die ungebundenen Druckbögen sind einer neben dem anderen nahtlos und passgenau auf massive Holzbretter geklebt und ziehen sich mäandernd über den Bibliotheksboden. Das ausgebreitete Buch setzt den Betrachter in Bewegung. Die Abfolge der Arbeiten kann nun im Gehen erkundet werden. Formale, farbliche oder inhaltliche Übergänge lenken den Blick von einem Werk zum nächsten und zeigen immer wieder überraschende Parallelen auf.  

Thomas Strickers Oeuvre ist sehr vielseitig. So manches Etikett wurde ihm bereits angeheftet, auch solche, die sich eigentlich widersprechen. Vom Vollblutbildhauer war da die Rede, vom Social Networker oder vom Landart Plastiker. Bereits der Einstieg ins Buch zeigt, dass solches Schubladendenken bei dem seit Ende der 1980er Jahre in Düsseldorf lebenden St. Galler nicht funktioniert. Einem Schulgartenprojekt in Namibia folgt eine Edelstahlskulptur in Form eines Blitzes in Nordrhein-Westfalen. An anderer Stelle ist die kinetische Skulptur für die Heilpädagogische Schule Flawil im Verlauf der Jahreszeiten zu sehen, gefolgt von der Idee eines Apfelbaumgartens für Düsseldorf.

Gemeinsames Bindeglied aller Arbeiten ist Strickers Suche nach den Möglichkeiten von Skulptur: „Ich versuche herauszufinden, was heute Skulptur ist, wo für mich der Kern sein könnte.“ Wenn der Künstler den Kunstbegriff dabei in den sozialen Raum hinein erweitert, steht dahinter auch die Frage: „Vielleicht ist eine Skulptur, im besten Fall, ein Ding, welches mir nicht die Sicht versperrt, sondern meinen Horizont erweitert?“ Und nicht nur den des Künstlers, sondern auch den der involvierten Personen und der Betrachter. In der aktuellen Ausstellung kann dies zwar nicht an Originalen überprüft werden, ist aber dennoch nachvollziehbar. Dies liegt zum einen an der Bilderfülle im Buch und seiner Präsentationsform, zum anderen wird die Publikation durch Materialproben, Modelle und Konzeptstudien ergänzt. So wird sowohl Strickers Recherche- und Gedankenarbeit im Vorfeld eines Projektes dokumentiert, als auch die komplexen Arbeitsvorgänge und ungewöhnlichen Materialkombinationen von Styropor, Gips oder Wachs.

Stricker experimentiert, forscht, untersucht. Seit einigen Jahren schon konzentriert er sich ganz auf orts- und situationsspezifische Arbeiten und so ist diese Ausstellung eine seltene Gelegenheit, einen handfesten Überblick über sein Werk zu erhalten. Stricker zeigt seine Monographie so, wie es wohl nur ein Bildhauer kann. Das Buch wird zum Objekt und füllt gemeinsam mit den ausgestellten Materialien den Raum zwischen Werkstoffarchiv und Kunstbibliothek physisch und inhaltlich und schlägt gedanklich auch noch die Brücke zur Kunstgiesserei, in der frühere Arbeiten Strickers realisiert wurden.

Das Potential des Einfachen

Das Architekturforum Ostschweiz stellt sein diesjähriges Programm unter das Motto „einfach“. den Auftakt gestaltete der Berliner Philosoph Hannes Böhringer.

Einfach ist alles andere als einfach. Bereits mit dem Begriff beginnt es. Einfach kann heissen: einmal, schlicht, unkompliziert, bescheiden, trivial, gewöhnlich. So vielfältig aufgeladen der Begriff ist, so vielfältig sind die damit verbundenen Dinge und ihre Ästhetik, die individuellen, professionellen und gesellschaftlichen Sichtweisen. Wenn also das Architekturforum Ostschweiz sein diesjähriges Programm unter das Motto „einfach“ stellt, darf mit mehr gerechnet werden als puristischer Architektur oder geradlinigen Entwürfen. Dies zeigte sich gleich anlässlich der ersten Veranstaltung.

Der Löffel war das Thema des vergangenen Montagabends. Zunächst kamen in den Händen von Markus Maggiori die Qualitäten des Löffels als Musikinstrument zum Zuge, unterstützt von Reto Grab am Schwyzerörgeli. Als Esswerkzeug böte der Löffel einigen Raum, über reduzierte Gestaltung nachzudenken, doch anschliessend wurde ein ganz anderer, ein viel grundsätzlicherer Ansatz gewählt.

Für Hannes Böhringer ist der Löffel Anlass, über das Leben nachzudenken. In einem ununterbrochenen Gedankenstrom mäandert der Berliner Philosoph von den Lebenswegen, dem Unterwegssein, dem Fortbewegen hin zu den Wagnissen des Seins, den Gemeinschaften und schliesslich den Grundbedingungen des Lebens im Kleinen wie im Grossen. Eines fügt sich zum anderen. Die Zweideutigkeiten der Sprache sind immer wieder ein willkommener Anlass zum Weiterdenken. Der Weg dient dem Weggehen, der Mut ist dem Gemüt verwandt, der Hut der Obhut.

Klein Hänschen macht es vor. Weg will er, frei sein, und dennoch braucht er Halt. Der Hut behütet. Der Stock, lose wie Hänschen selbst, ersetzt den fehlenden Begleiter. Überhaupt der Stock: Er ist Stütze, Werkzeug, Waffe, Wurfgerät, Anfang der Technik. Und er eignet sich als Stiel für Hacke, Harke, Hammer, Besen, Axt und allen voran für die Schaufel. Der Löffel ist nichts anderes als eine Schaufel zum Essen, der Hand nachgebildet und zugleich eine kleine Puppe mit Kopf und Körper.

Böhringer verbindet philosophisches mit gestaltendem Denken. In seinen Überlegungen zu unserem Ess-, Rühr- und Verteilungsgerät steckt ebenso viel Poesie wie Erkenntnis. Der Löffel ist das Mass, das Abbild für Gerechtigkeit und Mässigung. Vom Ausschenken ist es nicht weit zum Schöpfen und schon ist Böhringer beim Ursprung angelangt. In Metaphern und Metonymien geht es fort. Der einfache Gegenstand ist Ausgangspunkt für ein komplexes Gedankengebäude. Er wird umkreist, eingehüllt, erforscht.

Bereits mit früheren Schriften begab sich Böhringer auf die „Suche nach Einfachheit“, um festzustellen „Das Einfache ist schwer, womöglich das Schwerste überhaupt. Was aber schwer ist, das ist nicht leicht. Gehört zur Einfachheit nicht auch Leichtigkeit? Das Einfache ist immer in Gefahr, zu einfach zu sein oder im Schweren und Schwierigen zu verschwinden.“ Einfach oder schwer – auf jeden Fall besonders: Böhringer arbeitet das Potential des Alltagsgegenstandes heraus. Einfaches kann bedeutungsvoll sein.

Töne im Dunklen

Der Rosenkeller wird zum Nextex-Satellit. Der Basler Jonathan Ruf hat hier eine Klanginstallation realisiert.

Keller sind der älteste Teil eines fast jeden Gebäudes. Oft wirken sie wie aus einer anderen Zeit, archaisch, dunkel, geheimnisvoll. Im eigentlichen Gebäude längst unkenntlich gemachte Zustände, Bauteile und technische Elemente sind unterirdisch erhalten. Allerdings verstellen funktionelle Einbauten meist den Blick für die bauliche Grundform und erschweren das Raumerlebnis. Das Gegenteil davon lässt sich derzeit im Rosenkeller erleben. Jonathan Ruf nutzt den hinteren Teil des mittelalterlichen, doppelten Gewölbekellers für seine Klanginstallation. Sie entstand eigens für die aktuelle Ausstellung „ctrl+0 digitale kunst“ im Nextex und arbeitet nicht nur die akustischen Qualitäten des Raumes heraus. Wer die Treppen im Haus zur Rose hinab steigt, begibt sich in fast vollständiges Dunkel und kann sich zunächst ganz auf das Gehör konzentrieren. Rhythmisches Scharren erklingt, pulsierende Töne, Schlaggeräusche. Klänge schwellen an und ab. Nähe und Ferne, Dynamik, Ausbreitung werden evoziert. Dröhnendes Wummern lässt die Körperzellen vibrieren.

Über sechs Lautsprecher wird eine Komposition wiedergegeben, deren Klangmaterial der Basler Künstler ursprünglich im Rosenkeller erzeugt, aufgenommen und hinterher bearbeitet hat. Die Tonspuren wurden nach dem Prinzip der Fibonacci-Reihe geordnet und wieder an den Ort ihrer Entstehung zurück gebracht. Hier verdichten sie sich mit dem ursprünglichen Raumklang. Sie werden von den steinernen Wänden des Kellers reflektiert und überlagert. Der Keller wird zum Resonanzkörper seines eigenen Klanges.

Ruf gelingt es, den massiven Raum gedanklich zu öffnen. Je nach Standort verwandeln Lautstärke und Dynamik des Klanges den Raum in einen Tunnel, setzen den Besucher in Bewegung. Gleichzeitig rücken mit der Zeit die Details in den Blick, die an der Decke aufgehängten Ringe, das Mauerwerk, die weiss getünchten Wände. Der Klang weitet sich zu einem Raumporträt. Es lässt den Besucher eintauchen in seine eigenen Assoziationen, und doch bleibt der eigentliche Ort, der Rosenkeller, stets präsent.

Zitronen- statt Neapelgelb

Mit wenig Worten und starken Bildern versucht „Gehard Richter Paintings“ dem Geheimnis des grossen Künstlers auf die Spur zu kommen.

Die Projektionsfläche wird zum Malgrund. Mit breitem Pinsel trägt Gerhard Richter Farbe auf, schiebt sie mit einem beinahe mannshohen Rakel über die Leinwand, trägt sie mit einem Messer wieder ab. Die Farbe ist mehr als Farbton, sie ist Materie, sie bietet Widerstand, sie tropft, schmatzt und führt ein Eigenleben. So leuchtet im aufgerakelten Weiss plötzlich ein helles Gelb auf und entlockt dem Künstler einen kleinen Freudenausbruch. So unbefangen wirkt Gerhard Richter selten in Corinna Belz´ Kinofilm über den grossen Maler. Ganz offen gesteht er, dass er die beobachtende Kamera stets spürt, dass sie ihn beeinflusst. Dennoch hat sich der als unnahbar und scheu geltende Künstler ihr gestellt und sogar vor der Kamera gearbeitet. Gerade jene Momente, in denen Richter malt, sind die intensivsten des Filmes. Behutsam, bedacht und doch bestimmt nähert er sich dem entstehenden Bild. Er setzt den Rakel oder den Pinsel an, dirigiert die Farbe und lässt ihr doch eigenen Raum.

Immer wieder zeigt sich, dass Richters gegenstandslose Malerei das Ergebnis kleinerer und grösserer Entscheidungen ist. Ganz abgesehen von der Wahl des Formates und der Farbe – die unspektakulären Farben sind ihm lieber als die ausgefallenen – ist auch jede einzelne Bewegung der Hand, jedes Ansetzen oder Wenden des Pinsels eine bewusste und folgenreiche Geste.  Dies gilt selbst dann noch, wenn Richter den leinwandbreiten Rakel ansetzt und alles Vorherige mit Weiss oder Schwarz überstreicht. Immer wieder dringen ältere Farbschichten durch und verleihen den Bildern die vielbesprochene Raumtiefe. Richter erschafft Zustände, die er wieder zerstört und reagiert erneut darauf.

Doch wann ist die Arbeit am Bild beendet, wann ist es vollendet? Die Frage taucht im Film auf verschiedene Weise auf und sie wird weniger durch Gerhard Richters Kommentare als durch die Werke selbst beantwortet. „Die Bilder machen, was sie wollen. Ich hatte sie anders angelegt“, sagt der Künstler und zeigt, dass jedes Werk eine ihm eigene Spannung und Balance aufweist, die weder geplant noch auf den ersten Blick erkannt werden kann. Erst wenn sich die Werke über einen längeren Zeitraum hinweg der Prüfung durch den Künstler standhalten, erweisen sie sich als gültig. Und dies ist selbst bei Gerhard Richter durchaus nicht immer der Fall. Irrtümer sind möglich.

Es sind diese Szenen im Atelier, das Malen, die Konzentration und der kritische Blick des Künstlers, die den Film sehenswert machen. Erfreulich ist, dass die Regisseurin gerade diesen Aspekten viel Zeit einräumt. Gerne sähe man noch mehr davon und würde auf Corinna Belz´ eindringliches Nachfragen zu Aspekten von Richters Arbeit verzichten, die sich selbst erklären. Zu sehen, wie der Künstler arbeitet, ist Erklärung genug. Daneben ist jede Atelierszene freilich auch ein ästhetisches Ereignis. Richter, stets im dunklen Oberhemd statt im Malerkittel, agiert vor riesigen, makellos weissen Wänden. Hier ist die Werkstatt bereits der White Cube – von hier ist es nicht weit bis in den Ausstellungsraum. Die Regisseurin begleitet Richter in Ausstellungen im heimischen Köln und nach London. Der Film zeigt die Ausstellungsvorbereitung anhand von Modellen im Atelier, den Aufbau vor Ort, begleitet von akribischen Restauratoren, die Pressekonferenz und den Vernissagerummel und lässt Richters Assistenten wie auch die New Yorker Galeristin zu Wort kommen. All dies fügt sich zu weit mehr als einem Künstlerporträt. „Gerhard Richter Paintings“ ist nicht nur ein Film über den Maler, es ist ein Film über die Kunst.

Des Menschen Welt

Die Fotografien des Komponisten Heinrich Schweizer – Reisen durch fünf Jahrzehnte.

Hochhäuser in Hong Kong, Strassenschluchten in New York, Hütten und Sandstrassen im Senegal, Berge und Bahnen in der Schweiz – mit den Namen von Orten und Ländern verbinden sich stereotype Bilder. Bestimmte geografische, infrastrukturelle oder architektonische Gegebenheiten dominieren die Wahrnehmung nicht nur jener, die sich auf die Aufnahmen und Berichte Anderer stützen. Sie besitzen auch für den Reisenden vor Ort einen hohen Wiedererkennungswert, sind sie doch besonders eindrucksvoll aufgrund ihrer Grösse, Andersartigkeit oder Ausführung, oder verbinden sich mit dem, was aus Überlieferungen bereits bekannt ist. Doch spätestens dann, wenn der Daheimgebliebene das Studium intensiviert, oder dann, wenn der Reisende für einen Moment oder länger zum Bleibenden wird, wenn er sich auf die Stadt, das Land einlässt, dort vielleicht sogar eine zeitweilige Heimat und einen Arbeitsort findet, dann ändert sich der Blick, dann ändert sich die Wahrnehmung. Sie vervielfältigt sich, sie öffnet sich für die Details sowohl der Wahrzeichen wie ihrer Umgebung, sie wendet sich von kollektivem Wissen hin zu einer individualisierten Betrachtung.

Heinrich Schweizer ist als Reisender immer auch Bleibender gewesen, ein Arbeitender unterwegs. Weltweit folgt er den Spuren der Musik, findet immer wieder Orte, die zum Bleiben anhalten, Orte, deren Bewohner und ihre musikalische Ausdrucksmöglichkeiten ihn faszinieren. Sowohl die Leidenschaft für die Musik wie auch für das Unterwegssein verbinden ihn aber nicht nur mit der Welt, sondern auch mit seinen Wurzeln. Als Sohn eines Pfarrers in Hundwil lernt Schweizer beides kennen: die Musik als tägliche Begleiterin, aber auch die Arbeit abseits eines geografischen Fixpunktes. Schliesslich war der Vater aufgrund der appenzellischen Streusiedlungen oft über lange Distanzen unterwegs – zu Fuss, in einem Tempo also, dass es erlaubt, der Umgebung die ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist kein Zufall, dass Schweizer dem Wesen dieser Landschaft immer wieder näherzukommen versucht und sie auch in späteren Jahren oft fotografiert. Zwar verlässt die Familie das Appenzell als Schweizer 12 Jahre alt ist. Doch die Ostschweiz hat ihm da bereits wichtige Eindrücke vermittelt, die er später musikalisch und fotografisch verarbeiten wird.

Schweizer entwickelt früh ein umfassendes Gespür für lokale Besonderheiten. Er verarbeitet nicht nur akustische Reize, sondern ist stets mit allen Sinnen offen für das, was um ihn herum passiert, er ist ein aufmerksamer, ein genauer Beobachter. So ist es nur konsequent, dass er neben der Musik ein visuelles Ausdrucksmittel sucht. Anfangs, während der Zeit in Luterbach (SO), war dies die Malerei. Gern berichtet Schweizer von seinem Besuch als 16jähriger bei Cuno Amiet in dessen Oschwander Atelier. Schweizer hatte ein eigenes, aktuelles Gemälde mitgebracht und bat um die Meinung des Künstlers. Doch der Hinweis Amiets, dass, wenn man es ernst meine, neben der Kunst kein anderes Berufsziel bestehen könne, führt Schweizer konsequenterweise zur Musik.

Neben der Musik drängt es ihn jedoch weiterhin, in einem bildlichen Medium zu arbeiten. Der Nebenverdienst in einem Fotolabor gibt schliesslich entscheidende Impulse: Schweizer entwickelt Negativfilme und stellt Papierabzüge her. Später nimmt er an einem Fernlehrgang teil, um die Möglichkeiten der Fotografie umfassender kennenzulernen und schliesslich für sich selbst, für die Umsetzung eigener Bildideen nutzen zu können. Schliesslich richtet er sich im Badezimmer eine Dunkelkammer ein. Bald nehmen Tageszeitungen wie der Landbote oder das Winterthurer Tagblatt Schweizers Fotos von Lokalereignissen in ihre Spalten auf. Später erscheinen Aufnahmen auch auf Tonträgerhüllen oder in Programmheften. Der Fotoapparat ist ihm Arbeits- und Kompositionsgerät geworden.

Die Verwendung der Fotografien in der lokalen Presse legt nahe, dass Heinrich Schweizers Aufnahmen der Gattung der Reportagefotografie zuzurechnen sind, Aufnahmen, die Gesehenes, Ereignisse oder Objekte, bildlich festhalten und darstellen, die Sachverhalte glaubwürdig und realitätsnah vermitteln. Ebenso wie aber die Reportagefotografie nicht auf das Dokumentarische einzuschränken ist, wie sie Schnittstellen zur Inszenierung, zum Schnappschuss und zu atmosphärischen Aufnahmen aufweist, sind auch Schweizers Fotografien weit mehr als die Illustration seiner Umwelt. Wenn Heinrich Schweizer die Kamera zur Hand nimmt, dann nicht, um zu dokumentieren, sondern in Vilem Flusserschem Sinne das Unwahrscheinliche, die Information, zu suchen. Finden lässt sich das Unwahrscheinliche überall, wenn einer nur achtsam genug ist, es zu spüren, und auch dasjenige in seine Betrachtungen einbezieht, was nicht selten als zu alltäglich, belanglos oder gar sentimental abgetan wird. Schweizer scheut sich ebenso wenig, die Schönheit eines Sonnenuntergangs bewusst wahrzunehmen, wie er seine Faszination an der Technik verbirgt. Eine Landschaftsaufnahme aus einem fahrenden Schnellzug, fotografiert mit einer 1000stel Sekunde, steht gleichberechtigt neben einer unspektakulären, aber nichtsdestoweniger atmosphärischen Vorstadtsituation. Einen schmalen Pfad erkennt er als ebenso aussagekräftig wie die Architektur eines Regierungsgebäudes.

Die Kamera ist Schweizers Begleiterin an nahezu jeden vom Komponisten besuchten Ort und über Jahrzehnte hinweg. Sie lassen sich die die Fotografien nicht nur auf einer geografischen Achse einordnen, sondern eine zeitliche Achse ist ebenso wichtig. Die ausnahmslos analogen Aufnahmen umfassen eine Zeitspanne von über 50 Jahren und bieten ausgezeichnete Vergleichsmöglichkeiten. Die in New York gemachten Aufnahmen entstanden beispielsweise in den späten 1970er und den frühen 1980er Jahren. Weitere folgten dann wiederum 1999. Was sich auf diesen Fotografien ändert, sind nur der Mode unterworfene Details wie Kleidung und Frisuren der Passanten, die Gestaltung der Anzeigen oder die Form der Autokarosserien. Beeindruckender isomorph ist hingegen das Gesicht der Stadt. Zwar spiegeln sich auch in den architektonischen Details, den Fassaden, Fenstern und Dachabschlüssen die Zeichen der jeweiligen Bauzeit, doch die dominante Struktur, die Ordnung der Stadt und ihr Charakter ändern sich kaum. Das zeigt sich genauso in den Aufnahmen aus Paris, welche einerseits in der ersten Hälfte der 1980er Jahre und dann wieder im Herbst 2010 entstanden.

Dass die Infrastruktur und die Architektur derart dichtbesiedelter Metropolen sich in so sichtbarer Logik entwickeln, überrascht nicht. Ebenso wenig, dass besonders markante Bauwerke ihren Wahrzeichencharakter über Generationen hinweg entfalten. Beeindruckender ist hingegen Kontinuität der Ästhetik der Aufnahmen. Aus ihnen spricht einerseits der Versuch zu Objektivität und die Achtung vor der Wirklichkeit, andererseits Schweizers sehr individuelles Interesse an formalen wie auch inhaltlichen Kriterien der Fotografie. Die erstgenannte Kategorie drückt sich im Bemühtsein um Komposition und Layout aus. Mitunter entfalten die Fotografien einen geradezu grafischen Charakter, wenn der Fotograf etwa den Blick auf die Oberleitungssysteme des öffentlichen Verkehrs richtet. Sie zerschneiden den Himmel, die Häuserfronten und Strassenzüge und legen ein eigenes Rastersystem über die Stadt, das durch die Fotografie besondere Präsenz entfaltet. Ein anderes Raster entdeckt Schweizer in der architektonischen Struktur einer Brücke, sie wird überzeichnet, zu einem Liniengerippe verdichtet und wirkt in ihrer räumlichen Staffelung sich endlos wiederholend. Obgleich in Farbe fotografiert, dominieren hier Helldunkelwerte in spannungsvollem Verhältnis. Gleiches gilt für die Fotografie einer Anzeigetafel für ein Konzert. Dass dabei Schweizers eigene Komposition mit auf dem Programm steht, wird beinahe nebensächlich vor dem Wechselspiel aus weisser Schrift, schwarzem Hintergrund und grün-beigen Reflexionen, schemenhaft verleihen sie dem Bild etwas Geheimisvolles, beinahe wie ein unscharfer Filmstill kommt es daher und weist weit über die abgelichtete Situation hinaus.

Farbe und Lineatur im Wechselspiel sind Thema einer Ansicht der Hongkonger Waterloo Street aus der Vogelperspektive – ein optischer Balanceakt zwischen Strassenmarkierung und Fahrzeugen. Auf ganz andere Weise überzeugend in der Bildanlage wirkt die Innenansicht eines historischen Bauwerkes in Griechenland. Farbwerte, architektonische Elemente und weisse Flächen gehen eine Verbindung ein, die einer austarierten abstrakten Komposition weitaus näher sind als einem fotografischen Dokument. Gleiches gilt für eine Aufnahme aus einem Flugzeugfenster, in der Himmel, sandfarbene Landschaft, rote Turbine und weisser Flugzeugflügel zu einem ausgewogenen Flächengefüge mit Farbakzent zusammengesetzt sind. Die Reihe dieser aus einem formalen Interesse heraus konzipierten Bilder liesse sich lange fortsetzen. Gleiches Gewicht kommt hingegen auch den bereits genannten inhaltlichen Kriterien zu. Hierin offenbart sich Schweizers äusserst aufgeschlossene Einstellung gegenüber dem Menschen.

Der Mensch und seine vielfältigen Beziehungsgeflechte stehen letztlich im Mittelpunkt des Schweizerschen Bilderkosmos. Mit der Kamera sucht er Antworten: Was prägt die Menschen? Wie leben sie zusammen? Womit umgeben sie sich? Wie bewegen sie sich? Wie ist ihr Verhältnis zur sie umgebenden Welt?

Vordergründig besehen steht Schweizers ausgeprägtes Interesse am Individuum und der Gesellschaft im Widerspruch zur Tatsache, dass Menschen nicht das hauptsächliche Sujet der Fotografien sind und Porträts eine Ausnahme bleiben oder ihnen selbst dann noch etwas beiläufiges, selbstverständliches anhaftet. Es geht ihm nie um die Inszenierung des Einzelnen, sondern um seinen Kontext, sein Wesen, die Bedingungen menschlicher Existenz. Der Komponist entwickelt ein umfassenderes Bild des Menschen, als es durch die blosse Präsentation einzelner Personen möglich wäre. Er erforscht das soziale Verhalten des Menschen nicht nur anhand seines tatsächlichen Gebarens, sondern auch anhand der Einrichtungen, die manchmal primär, meistens aber sekundär der sozialen Interaktion dienen. Schweizer untersucht den Charakter der Bauwerke, Grünanlagen, Beförderungsmittel, Werbeanzeigen, er fotografiert am Strand, im Restaurant, auf der Landstrasse, vor dem Zeitungskiosk, in der Eisenbahn, in den Slums und den Kulturzentren, den Touristenzentren und den Arbeitervierteln. Es ist kein Zufall, dass der städtische oder dörfliche Raum, also die Zentren menschlichen Zusammenlebens, den grössten Anteil seiner Fotografien einnehmen, gefolgt von Landschaftsaufnahmen.

Stadt und Dorf sind gleichbedeutend mit einer nahezu vollständig organisierten, gestalteten Umwelt. Doch auch die Landschaft existiert nicht mehr unabhängig vom menschlichen Einfluss.

Schweizers Landschaftsaufnahmen variieren von Gegenden, die stark durch die menschliche Besiedelung oder Bewirtschaftung geprägt sind, bis hin zu solchen, in denen der Mensch nicht oder nur am Rande vorzukommen scheint. Doch auch dort, wo er abwesend ist, hat er seine Spuren hinterlassen, etwa durch Lawinenverbauungen oder dem Klimawandel, der gegenwärtig weltweit am stärksten in Alaska zu Veränderungen geführt hat. Das Bild der Schneelandschaften Alaskas wurde auf dem Flug von New York nach Anchorage aufgenommen und reiht sich damit in die Gruppe der Fotografien aus Vogelperspektive heraus. Sie entstehen aus dem Flugzeugfenster heraus, von Hochhäusern, Türmen oder Bergen herab und liefern eine wichtige Ergänzung zu all jenen Bildern, die sich dem Geschehen aus nächster Nähe widmen. Schweizer wechselt beständig den Standpunkt, er oszilliert zwischen Mikro- und Makrokosmos, sucht die Über- und die Innensicht. Er begibt sich in grössere Distanz, um danach wieder einzutauchen in die ihn umgebende Welt.

Immer wieder verfolgt Schweizer dabei konzeptuelle Ansätze. In New York fuhr er beispielsweise das gesamte Untergrundbahnnetz ab, um dann an einzelnen Stationen auf die Strasse hinaufzusteigen und dort Sehenswertes ablichtete. Mitunter sucht er bereits begangene Orte erneut auf, wenn ihn die Stimmung, die Umgebung oder ein Moment besonders faszinierten, sich aber nicht auf adäquate Weise mit der Kamera bannen liessen. Die Basis für solche wiederholten Bildversuche sind akribische Notizen: „Beste Zeit für Aufnahmen in der Strasse G. um 4 Uhr nachmittags. Dunkelblauen Bus an der linken Ecke  abwarten; Kinder auf Trottoir und, falls möglich, wolkigen Himmel mit einbeziehen.“ Schweizer wartet dann einen günstigen Tag ab und zeigt sich als geduldiger Beobachter, der, wie Dürrenmatt es forderte, die Wirklichkeit formt, um sie zum Sprechen zu bringen.

Schweizer lässt sich von Zufällen, Beobachtungen, Begegnungen leiten. Er kehrt an bereits besuchte Orte zurück, um den Blick nochmals zu vertiefen. Er vergleicht Vertrautes mit Fremden, Früheres mit Gegenwärtigem. Hier kommt insbesondere Schweizers kontinuierliches Interesse an der ihn umgebenden Welt zum Ausdruck. Er lässt sich auf Veränderungen ein und erspürt deren Tragweite. Geradezu prozesshaft wird seine Arbeit, wenn er wie in Bangkok dreimal denselben Standunkt aufsucht und die Verwandlung eines Hotels im Bungalowstil in eine Baustelle und zuletzt in die Fassade eines riesigen Einkaufszentrums verfolgt. Nicht immer zeigt sich die fortschreitende Kommerzialisierung und Standardisierung so vordergründig, aber mitunter noch viel eindrücklicher. Doch es geht Schweizer nicht um Konsum- oder Kulturkritik. Statt zu polemisieren oder zu dramatisieren, pflegt er eine realistische Betrachtungsweise, mitunter gepaart mit feinem Bildwitz. Er arbeitet Typologien heraus und entdeckt globale Gemeinsamkeiten, gleichzeitig behält er die lokalen Spezifika im Blick. Heinrich Schweizers fotografisches Oeuvre offenbart dem Betrachter differenzierte Blicke auf die Veränderungen und Konstanten des menschlichen Miteinanders im öffentlichen Raum im Laufe eines halben Jahrhunderts.