Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Kunsthalle Ziegelhütte Appenzell: Stefan Inauen

Die Farben knallen, die Formen explodieren, die Ornamente wuchern. Lichterketten verbreiten Partystimmung. Totes Fleisch wird als Zubehör magischer Praktiken inszeniert. Spiegel, Kulissenarchitektur, sakrale Motive und eine Galionsfigur verbinden sich zu einem schwer mit Symbolik beladenen Geisterschiff, das Stefan Inauen „Kopfwehschiff“ tauft. Der 1976 geborene Künstler bestreitet die erste monographische Ausstellung eines appenzellischen Gegenwartskünstlers der Stiftung Liner Appenzell. In einem vielschichtigen, metaphorischen Panoptikum bringt er Elemente der Volkskunst, der Pop Art, der Heavy Metal-Szene, des Okkultismus, des Surrealismus, der Religion, der Op Art, des Graffiti und viele andere, eigentlich unvereinbare Phänomene zueinander. Kaum ist aber das eine identifiziert, ergeben sich visuelle und inhaltliche Interferenzen mit dem nächsten. Inauen wertet nicht, er kritisiert nicht, er präsentiert eine amalgamierte Weltsicht, in der alles Heterogene Platz hat – noch. Denn der Ausstellungstitel „Kampf um die Vorherrschaft von Licht und Dunkelheit“ suggeriert die Möglichkeit einer Entscheidung. Wodurch sie aber getroffen wird und zu wessen Gunsten, ja ob sie überhaupt getroffen werden kann und muss, und was zu welcher der beiden Parteien gehört, liegt im Erkenntnisprozess des Rezipienten.

Valie Export. Archiv

Valie Exports Tapp- und Tastkino gehört zu den besonders einflussreichen Werken des 20. Jahrhunderts. Dies gilt sowohl für die künstlerische Rezeption, als auch für die Wirkung auf die Öffentlichkeit. Jener dürften angesichts dieser und manch anderer skandalträchtigen Aktion die meisten Facetten im Oeuvre der Österreicherin verborgen geblieben sein. Doch selbst für Kenner ihres Werkes lohnt sich die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Bregenz.

Das Herzstück der Präsentation bildet das Archiv der Künstlerin. Hier wird einerseits der Entstehungszusammenhang der wichtigsten Arbeiten gezeigt – es sind Drehbücher, Fotos der Dreharbeiten, Konzeptzeichnungen, Filme, Notizen und Collagen zu sehen. Andererseits werden die Werke anhand von Korrespondenzen, Zeitungsausschnitten, Plakaten und anderen dokumentarischen Materialien in ihrem historischen und inhaltlichen Kontext verortet. Was in den eigens konstruierten Vitrinen zu sehen ist, vermittelt dichte Informationen zum Werk der Künstlerin – und zu ihrer angenommenen Identität: Zum ersten Mal überhaupt ist ein Konvolut von verschiedensten mit dem Begriff „Export“ versehenen Erzeugnissen und Artikeln zu sehen, welche die Künstlerin seit dem Beginn ihrer Karriere sammelt.

Auch wenn sie noch so gut präsentiert wird und noch so interessantes Material enthält, wirkt eine reine Archivausstellung mitunter ihrem Gegenstand entfremdet, etwas lebensfern. Dieser Gefahr begegnet Yilmaz Dziewior in Bregenz indem er die Dokumente mit Werken der Künstlerin verflicht. Da ist etwa im Archiv die „Gentialpanik“-Jeanshose zu sehen und im Stockwerk darüber die Fotoarbeit dazu. Im Archiv sind die Materialien zum Tapp- und Tastkino und an anderer Stelle zwei Boxen die sozusagen als cineastischer Vorführraum dienten. Viel Raum nehmen die ursprünglich für das Bregenzer Magazin4 entwickelten „Fragmente einer Berührung“ ein – jene in mit Altöl, Milch und Wasser gefüllten Reagenzgläser eintauchenden 24 Glühlampen.

Im obersten Stockwerk findet sich der Betrachter schliesslich in einem Filmwald. Auch hier sorgt die Mischung von alten und neuen Formaten, von Monitor- und Leinwandpräsentationen, von Spielfilmen, Fernsehsendungen und Videos dafür, dass sich ein vielschichtiges Bild entfaltet. Das Nebeneinander, die Möglichkeit, durch den Raum zu zappen, passt zum Werk einer Künstlerin, deren Thema die technischen Medien und ihr Verhältnis zur Gesellschaft sind.

„Valie Export. Archiv“, Kunsthaus Bregenz bis 22. Januar 2012, Dienstag bis Sonntag, 10-18 Uhr, Donnerstag 10-21 Uhr.

Enthüllt zum Selbst

Das Duo DisTanz zeigt sein neues Stück „Hüllen“ in der Grabenhalle. Beatrice Im Obersteg und Markus Lauterburg haben ein Jahr lang an dieser ausgefeilten Produktion gearbeitet.

Es beginnt mit einem Bild: Die gesamte Bühne der Grabenhalle ist mit einer hauchdünnen Plastikfolie bedeckt. Ihr kristalliner Schimmer, die unzähligen Lichtreflexe lassen an Schnee oder eine Eisschicht denken. Darunterliegendes zeichnet sich in kleineren und grösseren Hügeln ab. Begleitet von Windgeräuschen beginnt es sich unter einem davon zu regen wie in der Gallertschicht eines Eies. Die Folie hebt und senkt sich, mal zeichnet sich eine Gestalt ab, dann wieder bauscht sich die schützende Hülle auf. Langsam tastet sich die Tänzerin vorwärts.

Das jüngste Stück des Duos DisTanz lässt sich und dem Betrachter Zeit, das Bild ganz in sich aufzunehmen, eigene Assoziationen zu entwickeln. Die transparente Landschaft, an- und abschwellende Sturmgeräusche, angedeutete Bewegungen fügen sich zueinander. Zu den pulsierenden Tönen des Schlagwerks fliesst die Folie wie von unsichtbarer Hand gezogen von der Bühne. Hände tasten sich ins Freie. Die erste Hülle ist abgelegt.

Ausgangspunkt für „Hüllen“ war ein Körpergefühl. Beatrice Im Obersteg beschreibt es als „Zeiten des `Dazwischen seins´, wie sie nach Brüchen in Beziehungen, nach wichtigen Projekten und nach erreichten oder fallen gelassenen Zielen erlebt werden“. Es sind Zeiten, in denen das Individuum auf sich selbst geworfen ist, in denen es sich konzentriert mit dem Ich auseinandersetzen kann oder muss.

Im Obersteg hat für die Konzeption des Stückes mit Hedwig Renggli zusammengearbeitet. Renggli ist Dozentin für Wahrnehmung und dreidimensionales Gestalten an der Hochschule Luzern. Gemeinsam mit Im Obersteg entwickelte sie die Papierobjekte, die im letzten Drittel von „Hüllen“ zum Einsatz kommen. Doch bevor es soweit ist, agiert die seit 2001 in Luzern lebende St. Gallerin ganz ohne Requisiten im naturweissen Umfeld, eingehüllt von einem knappen Leibchen aus Mullverband. Die schützende Folie ist verschwunden, die neue Freiheit ist irritierend. Sie wird ertastet und dann in kauernder Pose negiert. Erst wenn der eigene Körper wahrgenommen wird, kann er in den Raum hineingreifen. Plausibel tanzt Im Obersteg das In-die-Welt-kommen, den Wechsel der Wahrnehmung vom Ich zum Anderen. Wie stets ist es eine Augenweide den präzis und spannungsvoll gesetzten Bewegungen der Tänzerin zu folgen. Im Obersteg ist Perfektionistin bis in die Fingerspitzen. Selbst ein einziger bewusst inszenierter Blick, denn sie in den Zuschauerraum richtet, ist aussagekräftige Geste. Und eine längere Passage auf allen Vieren kippt nicht einen Moment ins Komische. Wenn Im Obersteg schliesslich mit den Papierschoten arbeitet, verschmilzt das Requisit so sehr mit der Tänzerin, dass ein ganz neues Wesen entsteht, ein Insekt, ein Vogel, ein surrealistisch anmutender Kopffüssler. Dann wieder wird das Papier zum Objekt, zum Gegenüber.

Papier hat viele Facetten. Hier kommen die plastischen Qualitäten, die Textur, die Farbe und sogar lautliche Aspekte auf die Bühne. Rascheln, Knistern oder das Kratzen von Fingernägeln auf dem Wellpappeboden sind integrale Bestandteile des Stückes. So wie die Musik. DisTanz Partner Markus Lauterburg begleitet Im Obersteg nicht nur. Der seit 1995 in Luzern lebende Berner gibt dem Stück wesentliche Impulse mit dem experimentell eingesetzten Schlagwerk.

Wenn sich Im Obersteg in einen knitterreichen Papiermantel hüllt, dieser sich wie ein Eisberg auftürmt und die Tänzerin daraus wieder auftaucht, schliesst sich der Kreis des Stückes. Doch es ist noch nicht ganz an seinem Ende angekommen. Der Schluss wartet mit einer rätselhaften Geste auf, die hier nicht verraten werden soll, da sie vielerlei Interpretationsspielraum bietet.

Guerilla Galerie: Die Achte

Erneut bespielt die Guerilla Galerie für drei Tage einen leerstehenden Raum in der Stadt mit zeitgenössischer Kunst. Sara Masüger zeigt aktuelle Arbeiten im ehemaligen Obergwändlilade.

Der Raum ist ein Glücksfall. Es wäre einiges an Material und Konzeption nötig, um einen solchen Raum zu entwickeln, hier aber ist er einfach da. An jedem Quadratzentimeter ist zu spüren, dass nichts einer vordergründigen Gestaltung geschuldet ist, sondern dass sich die jahrzehntelange Nutzung des Raumes in denselben eingeschrieben hat. Verblichene Farbschichten, abgenutztes Parkett, Nischen, Täfer und das von Rohren und Leitungen durchsetzte grosse Gewölbe – ein Raum der für Sara Masüger denkbar beste Voraussetzungen bietet. Die Zürcher Künstlerin setzt ihre Werke nicht einfach in Ausstellungen, sondern reagiert installativ auf Vorgefundenes, was im Idealfall für beides, für Arbeit und Raum, zu völlig neuen Ansichten und Wirkungen führt. So beim jüngsten Projekt der Guerilla Galerie: Im ehemaligen Obergwändlilade in der Schmiedgasse zeigt Masüger für drei Tage eigens ausgewählte Arbeiten, die auf subtile Weise mit dem Raum eine Symbiose eingehen.

Masüger, 1978 in Baar im Kanton Zug geboren, untersucht die physische Erfahrbarkeit von Erinnerungen in enger Verbindung mit dem räumlichen Empfinden. Am menschlichen Körper und alltäglichen Dingen lassen sich Ängste, Projektionen und Erinnerungen nachfühlbar darstellen. Körperfragmente liefern den unmittelbarsten Eindruck von Befindlichkeiten, selbst oder gerade, wenn es die immer gleiche Hand ist, die sich auf den Galerieboden drückt. Es ist unschwer zu erkennen, dass ein Gummihandschuh, nicht eine reale Hand die Ausgangsform bildete. Doch gerade die Widersprüche zwischen der Glätte des Materials und den Brüchen, Lufteinschlüssen und Falten, sowie zwischen der natürlichen Grundform und der veränderten, wie aufgedunsen wirkenden Gestalt irritieren und bahnen gebändigten, verdrängten oder versteckten Emotionen neue Wege.

Masüger arbeitet sich immer wieder an Grenzbereiche heran, wo die Sprache den Empfindungen die Herrschaft überlässt. Jener mannshohe Türbeschlag mit Schlüsselloch und schlaff auf den Boden gesunkener Klinke, jene Bronzekette mit ihren unregelmässig geformten und dennoch überaus massiv wirkenden Gliedern, ja selbst die zugegipsten Fensterflächen verdichten sich in ihrer Zusammenstellung zu einer beunruhigenden Metapher für das, was war und was sein könnte, für jene Gleise der Lebenswege, die verdrängt werden und doch präsent sind. „I perfectly remember the way it should have been“ ist inmitten schwarzwolkiger Form auf einem gerahmten Blatt zu lesen – das Hypothetische und die Sehnsucht als Triebkraft schwerer Gedanken, die unter dem mächtigen Gewölbe in der Schmiedgasse einen adäquaten Platz finden. Aus den Wänden, dem Lavabo, den Parkettfugen strömen sie hervor, angeregt von Masügers Arbeiten. Aussliesslich in schwarz oder weiss gehalten, bildet die Kunst einen markanten Kontrast zur Atmosphäre des Raumes, seiner verblichenen Ästhetik und verbindet sich doch mit ihm zu einer überaus homogenen Installation.

Vaduz: Beispiel Schweiz. Entgrenzungen und Passagen als Kunst

Das Kunstmuseum Liechtenstein ist in der besonderen Situation einen sehr intimen Blick auf die Schweiz liefern zu können, der durch die Ländergrenze dennoch von Abstand geprägt ist. Mit „Beispiel Schweiz“ werden insbesondere die Raumkonzepte in der Kunst des Nachbarlandes untersucht.

Sind länderspezifische Ausstellungen in Zeiten der Globalisierung nicht längst obsolet? Wenn damit nationale Eigenheiten zementiert werden sollen, mag dies stimmen. In der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein geht es jedoch nicht um Abgrenzung. Sie fokussiert vielmehr den schweizerischen Beitrag zu einem  internationalen Phänomen, dessen Anfänge bereits im frühen 20. Jahrhundert liegen und das seit den 1960er Jahren ganz wesentlich die Kunst veränderte: der Umgang mit Raum. Künstler sehen den Betrachter nicht mehr als passiven Gegenüber, sondern wollen ihn mit ihren Werken in Bewegung setzen, ihn auffordern Kunst aktiv wahrzunehmen und zu erleben. Oft wurden eigens dafür Orte geschaffen, die Grenzen von Skulptur oder Malerei ausgeweitet oder ganz aufgelöst. Beispiel Adrian Schiess: Seine Ensembles bemalter und mit Fotografien bedruckter Platten vermitteln horizontal ausgelegt das Erlebnis von Farbe, Raum und Licht – und Landschaft. Denn die ringsum präsentierten Landschaftsgemälde Hans Emmeneggers (1866–1940) gehen eine so intensive visuelle Verbindung mit den Werken Schiess´ ein, dass sich eine solche Assoziation geradezu aufdrängt. Andersherum lässt Schiess die Modernität der Emmenegerschen Werke hervortreten, die Farbfelder fangen an, sich zu verselbständigen.

Dies ist nur ein Beispiel für die in der Ausstellung inszenierten Dialoge. Im Kontrast dazu stehen eigens geschaffene Räume für Installationen von Miriam Cahn und Karim Noureldin. Hierin wird der Betrachter ganz vereinnahmt von der zeichnerischen Obsession beider Künstler. Andere wie Helmut Federle, Silvia Bächli oder Niele Toroni sind mit mehreren Werken oder Werkgruppen vertreten, was ebenfalls für Zonen intensiver Auseinandersetzung sorgt. Demgegenüber stehen prominent platzierte Einzelwerke wie jenes von Karin Hueber. Die Basler Künstlerin faltete ein grossformatiges Papier zu einem Körper und entfaltete es wieder in die Fläche. Das untersuchte Volumen entspricht dem minimal benötigten Lebensraum des Menschen. Hier wird Raum aus praktisch, pragmatischer Sicht thematisiert und in eine reduzierte Form transferiert.

Dies alles ist nun keinesfalls typisch schweizerisch, doch so wollen Friedemann Malsch und Roman Kurzmeyer ihre Ausstellung auch nicht verstanden wissen. Sie entwickeln vielmehr eine geografisch lokalisierbare Erzählung aus einem grösseren Kontext heraus. Und so liesse sich aus der besonderen Vaduzer Sicht noch so manch anderes europäische Kapitel hinzufügen.

Orte und Worte

Kunstmuseum Thurgau: Ein Ort des H.R. Fricker.

Ida Schläpfer engagierte sich, schrieb einen Leserbrief, schaltete ein Inserat, gestaltete Plakate und Briefmarken, ihr Ziel: Das Frauenstimmrecht in den Appenzeller Kantonen. 1989 war es endlich soweit, die Ausserrhoder Landsgemeinde in Hundwil führt das Frauenstimmrecht ein. Ida Schläpfer war daran nicht ganz unbeteiligt. Ida Schläpfer? Wer ihren Spuren folgt, stösst erst auf eine Appenzeller Bärin und wenig später auf H.R.Fricker. Der Konzeptkünstler erfand die fiktive Person als Kontrapart zur Männerdemokratie und offenbarte einmal mehr das grosse Potential seiner unkonventionellen Ideen, Konzepte und Methoden.

Seit über 40 Jahren plakatiert, stempelt, beschildert, fotografiert, schreibt und malt H.R.Fricker.

Es gibt wohl kaum einen St. Galler, der noch nicht mit einem Frickerschen Werk in Berührung gekommen ist. Nahezu jeder ist schon über eines der kleinen Metallquadrate gelaufen, die sichtbares Zeichen des „Ortekatasters“ sind. H.R.Fricker unterteilte ganze Stadt in einen Raster aus vierzehn Feldern. Zufallsgesteuert ist jedem eine Ortsbezeichnung zugewiesen: Das eine Quartier wird zum „Ort der Lust“, ein anderes zum „Ort der Skepsis“. So passiert der eine täglich den „Ort der Vision“ oder wohnt der andere am „Ort der Lüge“ und wird sich dieser Erkenntnis schwerlich entziehen können.

H.R.Fricker hat aber nicht nur den Aussenraum im Visier. „Erobert die Wohnzimmer dieser Welt“ lautet sein Credo, das zugleich das Motto der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau ist.

Besonders präsent sind darin immer wieder die Emailschilder in vielen Farbvarianten mit dem Verweis auf einen „Ort der Orte“. Mit ihnen dringt H.R.Fricker in die privaten Räume von Einzelpersonen ein. Das Angebot ist niederschwellig, die Schilder lassen sich online oder im eigens in die Ausstellung integrierten Laden erwerben. Die Durchdringung von Kunst und Leben ist hier Programm.

Mit seinen „Orte“-Schildern verbindet H.R.Fricker das als allgemeingültig bekannte Medium des Strassen-, Verkehrs- oder Hinweisschildes mit emotional aufgeladenen Begriffen und eröffnet Gefühlsräume. Das funktioniert auf St. Galler Strassen und Plätzen genauso wie in der Ausstellung selbst. Ein Saal enthält einzig eine Bank zum Verweilen, einen Kasten für die quadratmetergrossen Schilder und das eine aufgehängte: „Ort der Wut“. Mit seiner ganzen Wucht wirkt es auf den Betrachter ein und bildet einen wirksamen Kontrast zum Ausstellungsort selbst, ist doch die Kartause Ittingen auch ein Ort der Spiritualität, der inneren Einkehr.

So präsent die Schilder plaziert sind, die Ausstellung zeigt eindrucksvoll, dass Frickers Oeuvre mehr umfasst. Sie präsentiert einen der innovativsten Konzeptkünstler der Schweiz in allen Facetten seiner Arbeit. Vom einfachen, in eine frisch verschneite Wiese gestapften „grün“, über fotokopierte Kleinplakate, die in den Strassen von St. Gallen und Zürich Zeichen setzten, über das Museum für Lebensgeschichten oder den „Seh-Zug“ bis zum Alpstein-Museum reicht das Spektrum, mit dem er immer wieder die Kunst zum Rezipienten brachte und im Alpstein beinahe nebenbei auch noch die Musealisierung ganzer Landschaften thematisierte, ein Problem nicht nur in Appenzell. Letztgenanntem Museumsprojekt ist ein ganzer Saal gewidmet. Ein anderer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Frickers Mail-Art-Projekten. Die Mail-Art-Bewegung entwickelte sich in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts und begriff Kunst weniger als das Hervorbringen kommerziell verwertbarer Werke, als vielmehr das Pflegen eines offenen Netzwerkes. Kommunikation war die Basis und das Ziel. Gedanken, die heute alltäglich geworden sind, für einen Künstler jedoch, der bereits vor den Zeiten des Internets in Trogen lebte und arbeitete, werkkonstituierend waren. H.R.Fricker korrespondierte von seinem „Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Land“ aus mit Künstlern auf der ganzen Welt, gestaltete Briefumschläge und Marken und schickte sie auf Reisen. Und nicht nur sie: H.R.Fricker organisiert Treffen von Exponenten der Szene auf der ganzen Welt – „Tourism“ als aktuellste Kunstform ist geboren.

Immer wieder agiert H.R.Fricker in Bereichen, die nicht den Künstlern vorbehalten sind. Er thematisiert, was ihn interessiert, er engagiert sich und sucht einerseits Wege hinaus in die Welt, an die Öffentlichkeit oder in die Wohnzimmer, andererseits gründet er Museen als Gefässe seiner künstlerischen Recherchen. Dies alles nicht nur zu zeigen, sondern auch zu vermitteln leistet die Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

Digitale Signale

Die aktuelle Ausstellung im nextex versammelt Arbeiten, die auf digitaler Technik basieren. Unter dem Titel „ctrl+0“ sind Werke von sechs Künstlerinnen und Künstlern zu sehen.

 Ist ein Video ein digitales Kunstwerk oder ist es primär als filmische Arbeit anzusehen? Ist eine mit der Digitalkamera aufgenommene Fotografie digitale Kunst? Zweifelsohne sind die digitalen Medien aus der Kunst nicht mehr wegzudenken. Schwieriger ist es mit ihrer Einordnung, ihrer Kategorisierung innerhalb der etablierten Gattungsbegriffe, denn so sehr sich Künstler auch immer wieder engagierten gerade diese Grenzen niederzureissen, so präsent sind sie bis heute. Gespiegelt wird dies nicht zuletzt im institutionellen Bereich. Für die neuen Medien sind das etwa das frühere „Forum für Neue Medien“, das neue Haus für elektronische Künste in Basel, das Online Museum für digitale Kunst (DAM) oder das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe.

Aber wie weit wirkt sich die Technik nun aus auf die Inhalte und die Ästhetik? Wie sinnvoll ist es, digitale Kunst als eigene Kunstgattung zu betrachten? Diesen Fragen widmet sich die aktuelle Ausstellung im Nextex mit Werken sowohl junger als auch seit langem mit der digitalen Technik arbeitender Künstler und Künstlerinnen.

Guido von Stürlers Fotografien zeigen wie beiläufig aufgenommene Sujets, eine Bootstankstelle, Menschen auf der Strasse, die Plicht einer Yacht. Nichts Spektakuläres also; wären da nicht die Flammen, die plötzlich aus der Zapfsäule, einem Rollkoffer oder dem Mast aufsteigen. Der Widerspruch zwischen Szenerie und Geschehen verweist auf die Manipulation der Bilder, doch ihre Perfektion wirft den Betrachter wieder zurück auf das Motiv. Die digitale Bildmontage des Thurgauer Künstlers sorgt für eine sich nicht auflösende Ambivalenz. Dies gilt auch für die Serie „Germania Flats“ von Alexander Hahn. Der in New York und Zürich lebende Künstler präsentiert klassisch aufgebaute Landschaften: Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, Berge, Küste, Meer. Dem einen oder der anderen mag der Landstrich bekannt vorkommen und doch auch wieder nicht. Hahn verwendet Höhenmodelldatensätze des Golfs von Neapel, aber Vegetation oder Zivilisation fehlen in den Bildern vollständig. Der Sehnsuchtsort ist verwandelt in eine karge Landschaft, wie sie aus Video- und Computerspielen bekannt ist. Hahn verwebt reale und künstliche Bildwelten sind zu einem mysteriösen Ganzen.

Ernst Thoma konzentriert sich auf den eigenen Körper und verleiht ihm im Video „Körpermodulationen“ eine völlig neue Ausdruckskraft. Durch Teilung und Spiegelung wird der Leib fragmentiert bis zum Ornamenthaften, aber niemals losgelöst von seiner physischen Präsenz. In der harten Ausleuchtung und vor tiefschwarzem Hintergrund treten Falten, Wunden, Geweberisse aufs Deutlichste in Erscheinung – Natur und Abstraktion sind hier aufs engste verbunden.

Auf ganz andere Weise befassen sich Sarah Bühler und Prisca Wüst mit dem Körper. Zunächst ist dies kaum erkennbar im ornamentalen, wandfüllend projizierten Wabenmuster. Kleinste Verschiebungen und Bewegungen in den lenken die Aufmerksamkeit auf die kleinsten Zellen der Gesamtstruktur: Hier trainieren Menschen an Fitnessgeräten. Die beiden jungen Künstlerinnen liefern mit ihrer Arbeit einen vielschichtigen Kommentar zu Vermassung und Vereinzelung des Menschen und zu seinem Verhältnis zur Maschine.

In der Ausstellung zeigt sich, dass neue Technologien einige Herangehensweisen überhaupt erst ermöglichen. Inhalte können so auf grundlegend andere Weise visualisiert oder wie im Fall des Basler Künstlers Jonathan Ruf zu Gehör gebracht werden. Seine Arbeit wird im Januar im Rosenkeller die Unmittelbarkeit von Klang im Raum thematisieren und eine weitere wichtige Facette digitalen Arbeitens vorstellen.

Überblendet und collagiert

In der aktuellen Ausstellung der Reihe Kultur im Bahnhof sind Werke von Franziska Arnold und Mirjam Kradolfer zu sehen. Sie zeigen unter dem Titel „Nach ihnen… vor mir“ Buchcollagen und Fotografien.

Ein Buchumschlag ist eine Verheissung. Er verspricht Wissenswertes oder Unterhaltendes, Erbauliches oder Spannendes, Texte oder Bilder. Er verweist deutlich oder hintergründig auf die buchgebundenen Informationen oder Gedankenwelten. So lässt etwa die süssliche, harmlose Titelzeichnung für „Himmelchen im Internat“ einen problemfreien Kinderroman der fünfziger Jahre vermuten. Doch ein Blick zwischen die Buchdeckel offenbart ganz anders: Keine Buchseiten, keine Schilderungen der Irrungen und Verwirrungen im Internat, sondern eine Gastroquittung, eine Gutschein der Raststätte Heidiland, ein Rahmdeckeli, Fotos.

Franziska Arnold überarbeitet Bücher, genauer: sie nimmt dem Buch ihren ursprünglichen Inhalt und fügt eigene Assoziationen hinzu: „Ich weide derzeit Bücher aus und schenke ihnen neues Leben. Erst tut es ein bisschen weh, wenn ich mit dem Teppichmesser ans Werk gehe, aber dann können sie aufgeklappt und mit neuen Inhalten befüllt werden.“ Franziska Arnolds Arbeit beginnt bereits bei der Auswahl der Bücher. So werden beispielweise auch problematische Werke nicht ausgeklammert, etwa nationalsozialistische Propagandabücher. In diesem Falle polen Arnolds Überarbeitungen mit farbigen Kunststoffelementen die Vorlagen um, die neuen Inhalte abstrahieren und persiflieren das Ursprüngliche. In anderen Fällen arbeiten sie die Essenz des Vorherigen heraus oder aktualisieren die Bücher. In der aktuellen Ausstellung im Rahmen von Kultur im Bahnhof lässt sich das allerdings nicht in jedem Falle nachverfolgen, denn die Vitrinen stehen mitunter so, dass sie nicht umrundet werden können und damit nicht alle Buchumschläge sichtbar sind.

Einige der Buchcollagen sind eigens für die Ausstellung entstanden. Es sind jene, in denen die Künstlerin aus Hannover auch Fotos ihrer selbst eingeklebt hat. Die überarbeiteten  Bücher werden damit nicht nur zu rätselhaften Tagebüchern, in denen sich Realität und Fiktion mischen, sie reagieren auch ganz direkt auf die Arbeiten von Mirjam Kradolfer. Die St. Galler Künstlerin zeigt inszenierte Selbstporträts. Bereits im Sommer waren in einer Einzelausstellung in Katharinen Fotografien aus dieser Serie zu sehen. Kradolfer zitiert einmal mehr Zitate, die sich in ihrer Art des Zitierens selbst bereits auf Vorläufer beziehen.

Cindy Sherman untersuchte mit ihren Selbstporträts nach Gemälden von Holbein, Caravaggio oder Raffael Fragen nach Autorschaft, Originalität und Wertschöpfung. Kurz danach, Anfang der 1990er Jahre, reagierte Yasumasa Morimura unmittelbar auf Shermans Fotografien. Er thematisiert in seinen Rollenwechseln nach Gemälden oder Fotografien von Stars aber eher Fragen der Geschlechts- und der kulturellen Identität und die Selbstwahrnehmung. Kradolfer bezieht sich konkret auf Morimura und nimmt dessen Werke als Vorlage. So blicken aus van Goghs Selbstporträt mit verbundenem Ohr und Pfeife weder der holländische Künstler, noch der Japaner, sondern Mirjam Kradolfer. Wie schon in der Ausstellung in Katharinen drängt sich auch diesmal der Eindruck auf, dass die Künstlerin den gewählten Vorlagen wenig Eigenes hinzufügt. Viel spannender wirken da die Fotografien mit mehrfach überblendeten Motiven, in denen steinerne Locken das verrätselte Gesicht der Künstlerin rahmen, oder jenes dichte Vegetationsbild, in dem das Grün nur so wuchert, aber im Hinter- und Vordergrund vage Andeutungen von Architektur oder einer milchigen Glasscheibe enthält. Hier wie auch in den Strumpfmaskierungen findet Kradolfer wieder zu einer individuellen Formensprache und eigenen künstlerischen Ansätzen.

Aus drei mach eins

Marcelo Pereiros aktuelles Stück verbindet Salsa, Tango und zeitgenössischen Tanz zu einer sehenswerten Mischung. Getanzt wird es von Schülerinnen und Schülern seiner Tanzschule.

Salsa, Tango und zeitgenössischer Tanz zur selben Zeit auf derselben Bühne – funktioniert das? Sehr gut sogar, wenn Marcelo Pereira die Choreografie entwickelt hat.

Der brasilianische Tänzer und Choreograf ist in St. Gallen längst kein Unbekannter mehr. Dreissig Jahre lang stand er auf internationalen Bühnen und einige davon auf der des Stadttheaters St. Gallen. Dann war es Zeit für ein neues Projekt: Vor drei Jahren gründete der Tanzkünstler „Marcelo´s Move“, seine eigene Tanzschule. Nun stehen seine Schüler und Schülerinnen in einem eigens entwickelten Stück auf der Bühne – gemeinsam mit Pereira.

„Molambo“ schafft die Synthese dreier Tanzstile, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben und sich doch gegenseitig durchdringen und bereichern. Der zeitgenössische Tanz etwa bricht die Bewegungsabläufe des Salsa auf und verleiht ihm neue Akzente. Der sinnlich elegante Tango gewinnt an Tempo und bewahrt sich doch seine Intimität. Letztere strahlt wiederum auf den zeitgenössischen Tanz aus.

Das Nebeneinander, Nacheinander und Miteinander der Stile bringt den Charakter der Bewegungen zum Sprechen. Den Paarkonstellationen zu Beginn des Stückes folgen synchrone, energiegeladene Bewegungsbilder, die wiederum von Salsa- und Tangoszenen abgelöst werden. Dann wieder erobert der zeitgenössische Tanz mit raumgreifenden, spannungsvollen Gesten die gesamte Bühne. Immer wieder wechseln die Tänzer das Genre und bringen ihre individuelle Dynamik, ihre Leidenschaft ein. Ihre grossartige Körperarbeit lässt rasch vergessen, dass hier bis auf Pereira keine Profis tanzen. So eine gemeinsame Aufführung kann durchaus ihre Tücken haben, doch das Experiment gelingt. Marcelo Pereira zeigt in einem Solopart seine Virtuosität und lässt dann wieder seinen Schülerinnen und Schülern grosse Aufmerksamkeit zukommen. Er lässt ihnen Raum und so können sie dank hoher Bewegungspräzision selbst im Duett mit ihrem Lehrer überzeugen. Da ist es mitunter beinahe schade, dass die mit Tüchern verhängten Rahmen im ersten Teil des Stückes immer wieder den Blick behindern. Andererseits gliedern sie den Raum und bieten Anlass zur Interaktion, bis sie schliesslich ganz abgenommen und zu kleinen Bühnen auf der Bühne verwandelt werden.

Immer wieder strukturieren solche Gestaltungsideen das Stück. Mal sind es Stühle, mal Fächer, mal drehen sich die Tänzerinnen mithilfe elastischer Tücher in den Raum. So beleben sie beispielsweise einen Salsapart, der im Kontrast zum emotionsgeladenen Tango und zum dem energetischen zeitgenössischen Tanz sonst rasch monoton wirken würde. Für Abwechslung sorgt auch die Musik, deren Spektrum von lateinamerikanischen Rhythmen bis zu klassischen Klavierstücken reicht. Die Übergänge sind fliessend und werden von den Tanzenden ebenso mühelos bewältigt wie der Wechsel zwischen High Heels, barfuss oder Turnschuhen, die im zweiten Teil des Abends noch einen besonderen Auftritt haben.

Dieser Part des Stückes will die Lebensfreude feiern. Zu Beginn tragen die Tänzer farbenfrohe Kleidung, Musik wird frei und spielerisch interpretiert. Aber auch hier kommen bald ernstere Töne ins Spiel. Schliesslich verdichtet sich alles zu einer heterogenen Sequenz, bis das Auge kaum mehr folgen kann und sich alles in Einzelheiten auflöst. Die Stärken des Stückes liegen hingegen dort, wo die Stile sich ergänzen und voneinander profitieren, wo der Fokus auf den Tänzerinnen und Tänzer liegt und klassische Rollenbilder aufgebrochen werden, dort wo aus der Summe der sorgfältig inszenierten Details ein stimmiger Gesamtklang hervorgebracht wird – all das gelingt mit „Molambo“.

Sitzende und Besetzer

Claudia Valer präsentiert in der Galerie vor der Klostermauer aktuelle Arbeiten. Sie übersetzt Zeitungsfotos in differenziert ausgearbeitete Malerei.

Die Galerie vor der Klostermauer rückt für einmal noch näher an das geistliche Leben heran. In ihrem Obergeschoss treffen sich acht kirchliche Würdenträger zur Krisensitzung. Sie füllen den kleinen Ausstellungsraum mit ihrer ehrwürdigen Präsenz und zwingen den Betrachter zum Innehalten. Was ist der Zweck dieses Treffens? Was geht vor in diesen schwarzgekleideten Gestalten mit scharlachrotem Pileolus? Ihre Gesichter wirken verschlossen oder traurig, vorwurfsvoll oder indifferent, kritisch oder zynisch.

Der Anlass des Treffens war 2008 der Protest gegen die Reformpolitik des spanischen Ministerpräsidenten Zapatero. Claudia Valer hat die Kardinäle einem Zeitungsfoto entnommen und die kleinformatige Abbildung in sieben Gemälde übersetzt. Dabei lag ihr besonderes Augenmerk auf den Gestalten. Wie bereits in vergangenen Werkserien hat Valer den Hintergrund weiss belassen. Dadurch tritt die Monumentalität der Porträtierten noch stärker in den Vordergrund. Gleichzeitig löst sie die St Galler Künstlerin mit ihrem malerischen Copy-Paste-Verfahren aus dem ursprünglichen Kontext.

Wie selbstverständlich sind die Kardinäle in den Galerieraum übergetreten und umzingeln auf drei Wänden den Betrachter. Aber nicht nur das Sujet bannt den Blick, es ist auch die Malerei selbst. Claudia Valer trägt die Ölfarbe lasierend auf. Mit feinem Farbauftrag moduliert sie die Gesichtspartien. Die schwarzen Mäntel hingegen wirken mit ihrer sparsamen Binnenzeichnung wie homogene Flächen. An einigen Stellen und besonders an den Rändern sind sie in Auflösung begriffen. Die Farbe fliesst herunter, schwarze Rinnsale hinterlassend.

Auffällig ist auch die Präsentationsform: Die leicht ausfransenden Leinwände sind nicht gerahmt und nur mit kleinen Nägeln an die Wand gepinnt. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass sich diese malerischen und formalen Details inhaltlich deuten lassen, umso mehr als bei den Porträtierten im Erdgeschoss keinerlei Auflösungserscheinungen zu sehen sind. Auch sie entstammen sämtlich Zeitungsfotos. Aber es sind Vertreter verschiedener Demokratiebewegungen.

Da ist etwa der libysche Junge mit dem wachen, kritischen Blick, oder der zu den Indignados, den Empörten, gehörende junge Mann mit über dem Kopf verschränkten Armen. Auch zwei bekannte Gesichter finden sich unter den Dargestellten: Camila Vallejo, die junge Anführerin der chilenischen Studentenproteste, und Julia Timoschenko, die ukrainische Oppositionsführerin.

Obgleich die Vorlage der Gemälde jeweils ein Foto ist und somit von vornherein eine bildliche Barriere zwischen Künstlerin und Dargestellten besteht, gelingt es Valer immer, die Wesenszüge der Porträtierten herauszuarbeiten. Durch die Umsetzung eines kleinen Zeitungsbildes in ein viel grösserformatiges Gemälde und die damit verbundene Aufmerksamkeit für die Abgebildeten gibt sie ebendiesen Personen einerseits ein Stück ihrer Individualität zurück. Andererseits enthebt sie das Sujet dem schnelllebigen Medium und würdigt die Bedeutung des Einzelnen über die Tagesaktualität hinaus. Dies funktioniert auch ganz ohne goldenen Rahmen. Zwei der Gemälde sind gerahmt und die ornamentierten Zierleisten passen verblüffend zu Timoschenkos Frisur oder der ägyptischen Muslimin. Dort jedoch, wo Valer auf Rahmen verzichtet, wird der Ausschnittcharakter des Bildes betont. Es erhält mehr Raum, um sich auszubreiten und im Sinne des Ausstellungstitels die ganze Wand zu besetzen. Denn den „Homo sedens“ versteht Valer nicht nur als den Sitzenden, Undynamischen, sondern auch sein Gegenteil, den Besetzer, den, der mit seiner Sitzblockade etwas bewegt.