Orte und Worte
by Kristin Schmidt
Kunstmuseum Thurgau: Ein Ort des H.R. Fricker.
Ida Schläpfer engagierte sich, schrieb einen Leserbrief, schaltete ein Inserat, gestaltete Plakate und Briefmarken, ihr Ziel: Das Frauenstimmrecht in den Appenzeller Kantonen. 1989 war es endlich soweit, die Ausserrhoder Landsgemeinde in Hundwil führt das Frauenstimmrecht ein. Ida Schläpfer war daran nicht ganz unbeteiligt. Ida Schläpfer? Wer ihren Spuren folgt, stösst erst auf eine Appenzeller Bärin und wenig später auf H.R.Fricker. Der Konzeptkünstler erfand die fiktive Person als Kontrapart zur Männerdemokratie und offenbarte einmal mehr das grosse Potential seiner unkonventionellen Ideen, Konzepte und Methoden.
Seit über 40 Jahren plakatiert, stempelt, beschildert, fotografiert, schreibt und malt H.R.Fricker.
Es gibt wohl kaum einen St. Galler, der noch nicht mit einem Frickerschen Werk in Berührung gekommen ist. Nahezu jeder ist schon über eines der kleinen Metallquadrate gelaufen, die sichtbares Zeichen des „Ortekatasters“ sind. H.R.Fricker unterteilte ganze Stadt in einen Raster aus vierzehn Feldern. Zufallsgesteuert ist jedem eine Ortsbezeichnung zugewiesen: Das eine Quartier wird zum „Ort der Lust“, ein anderes zum „Ort der Skepsis“. So passiert der eine täglich den „Ort der Vision“ oder wohnt der andere am „Ort der Lüge“ und wird sich dieser Erkenntnis schwerlich entziehen können.
H.R.Fricker hat aber nicht nur den Aussenraum im Visier. „Erobert die Wohnzimmer dieser Welt“ lautet sein Credo, das zugleich das Motto der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau ist.
Besonders präsent sind darin immer wieder die Emailschilder in vielen Farbvarianten mit dem Verweis auf einen „Ort der Orte“. Mit ihnen dringt H.R.Fricker in die privaten Räume von Einzelpersonen ein. Das Angebot ist niederschwellig, die Schilder lassen sich online oder im eigens in die Ausstellung integrierten Laden erwerben. Die Durchdringung von Kunst und Leben ist hier Programm.
Mit seinen „Orte“-Schildern verbindet H.R.Fricker das als allgemeingültig bekannte Medium des Strassen-, Verkehrs- oder Hinweisschildes mit emotional aufgeladenen Begriffen und eröffnet Gefühlsräume. Das funktioniert auf St. Galler Strassen und Plätzen genauso wie in der Ausstellung selbst. Ein Saal enthält einzig eine Bank zum Verweilen, einen Kasten für die quadratmetergrossen Schilder und das eine aufgehängte: „Ort der Wut“. Mit seiner ganzen Wucht wirkt es auf den Betrachter ein und bildet einen wirksamen Kontrast zum Ausstellungsort selbst, ist doch die Kartause Ittingen auch ein Ort der Spiritualität, der inneren Einkehr.
So präsent die Schilder plaziert sind, die Ausstellung zeigt eindrucksvoll, dass Frickers Oeuvre mehr umfasst. Sie präsentiert einen der innovativsten Konzeptkünstler der Schweiz in allen Facetten seiner Arbeit. Vom einfachen, in eine frisch verschneite Wiese gestapften „grün“, über fotokopierte Kleinplakate, die in den Strassen von St. Gallen und Zürich Zeichen setzten, über das Museum für Lebensgeschichten oder den „Seh-Zug“ bis zum Alpstein-Museum reicht das Spektrum, mit dem er immer wieder die Kunst zum Rezipienten brachte und im Alpstein beinahe nebenbei auch noch die Musealisierung ganzer Landschaften thematisierte, ein Problem nicht nur in Appenzell. Letztgenanntem Museumsprojekt ist ein ganzer Saal gewidmet. Ein anderer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Frickers Mail-Art-Projekten. Die Mail-Art-Bewegung entwickelte sich in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts und begriff Kunst weniger als das Hervorbringen kommerziell verwertbarer Werke, als vielmehr das Pflegen eines offenen Netzwerkes. Kommunikation war die Basis und das Ziel. Gedanken, die heute alltäglich geworden sind, für einen Künstler jedoch, der bereits vor den Zeiten des Internets in Trogen lebte und arbeitete, werkkonstituierend waren. H.R.Fricker korrespondierte von seinem „Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Land“ aus mit Künstlern auf der ganzen Welt, gestaltete Briefumschläge und Marken und schickte sie auf Reisen. Und nicht nur sie: H.R.Fricker organisiert Treffen von Exponenten der Szene auf der ganzen Welt – „Tourism“ als aktuellste Kunstform ist geboren.
Immer wieder agiert H.R.Fricker in Bereichen, die nicht den Künstlern vorbehalten sind. Er thematisiert, was ihn interessiert, er engagiert sich und sucht einerseits Wege hinaus in die Welt, an die Öffentlichkeit oder in die Wohnzimmer, andererseits gründet er Museen als Gefässe seiner künstlerischen Recherchen. Dies alles nicht nur zu zeigen, sondern auch zu vermitteln leistet die Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.