Enthüllt zum Selbst
by Kristin Schmidt
Das Duo DisTanz zeigt sein neues Stück „Hüllen“ in der Grabenhalle. Beatrice Im Obersteg und Markus Lauterburg haben ein Jahr lang an dieser ausgefeilten Produktion gearbeitet.
Es beginnt mit einem Bild: Die gesamte Bühne der Grabenhalle ist mit einer hauchdünnen Plastikfolie bedeckt. Ihr kristalliner Schimmer, die unzähligen Lichtreflexe lassen an Schnee oder eine Eisschicht denken. Darunterliegendes zeichnet sich in kleineren und grösseren Hügeln ab. Begleitet von Windgeräuschen beginnt es sich unter einem davon zu regen wie in der Gallertschicht eines Eies. Die Folie hebt und senkt sich, mal zeichnet sich eine Gestalt ab, dann wieder bauscht sich die schützende Hülle auf. Langsam tastet sich die Tänzerin vorwärts.
Das jüngste Stück des Duos DisTanz lässt sich und dem Betrachter Zeit, das Bild ganz in sich aufzunehmen, eigene Assoziationen zu entwickeln. Die transparente Landschaft, an- und abschwellende Sturmgeräusche, angedeutete Bewegungen fügen sich zueinander. Zu den pulsierenden Tönen des Schlagwerks fliesst die Folie wie von unsichtbarer Hand gezogen von der Bühne. Hände tasten sich ins Freie. Die erste Hülle ist abgelegt.
Ausgangspunkt für „Hüllen“ war ein Körpergefühl. Beatrice Im Obersteg beschreibt es als „Zeiten des `Dazwischen seins´, wie sie nach Brüchen in Beziehungen, nach wichtigen Projekten und nach erreichten oder fallen gelassenen Zielen erlebt werden“. Es sind Zeiten, in denen das Individuum auf sich selbst geworfen ist, in denen es sich konzentriert mit dem Ich auseinandersetzen kann oder muss.
Im Obersteg hat für die Konzeption des Stückes mit Hedwig Renggli zusammengearbeitet. Renggli ist Dozentin für Wahrnehmung und dreidimensionales Gestalten an der Hochschule Luzern. Gemeinsam mit Im Obersteg entwickelte sie die Papierobjekte, die im letzten Drittel von „Hüllen“ zum Einsatz kommen. Doch bevor es soweit ist, agiert die seit 2001 in Luzern lebende St. Gallerin ganz ohne Requisiten im naturweissen Umfeld, eingehüllt von einem knappen Leibchen aus Mullverband. Die schützende Folie ist verschwunden, die neue Freiheit ist irritierend. Sie wird ertastet und dann in kauernder Pose negiert. Erst wenn der eigene Körper wahrgenommen wird, kann er in den Raum hineingreifen. Plausibel tanzt Im Obersteg das In-die-Welt-kommen, den Wechsel der Wahrnehmung vom Ich zum Anderen. Wie stets ist es eine Augenweide den präzis und spannungsvoll gesetzten Bewegungen der Tänzerin zu folgen. Im Obersteg ist Perfektionistin bis in die Fingerspitzen. Selbst ein einziger bewusst inszenierter Blick, denn sie in den Zuschauerraum richtet, ist aussagekräftige Geste. Und eine längere Passage auf allen Vieren kippt nicht einen Moment ins Komische. Wenn Im Obersteg schliesslich mit den Papierschoten arbeitet, verschmilzt das Requisit so sehr mit der Tänzerin, dass ein ganz neues Wesen entsteht, ein Insekt, ein Vogel, ein surrealistisch anmutender Kopffüssler. Dann wieder wird das Papier zum Objekt, zum Gegenüber.
Papier hat viele Facetten. Hier kommen die plastischen Qualitäten, die Textur, die Farbe und sogar lautliche Aspekte auf die Bühne. Rascheln, Knistern oder das Kratzen von Fingernägeln auf dem Wellpappeboden sind integrale Bestandteile des Stückes. So wie die Musik. DisTanz Partner Markus Lauterburg begleitet Im Obersteg nicht nur. Der seit 1995 in Luzern lebende Berner gibt dem Stück wesentliche Impulse mit dem experimentell eingesetzten Schlagwerk.
Wenn sich Im Obersteg in einen knitterreichen Papiermantel hüllt, dieser sich wie ein Eisberg auftürmt und die Tänzerin daraus wieder auftaucht, schliesst sich der Kreis des Stückes. Doch es ist noch nicht ganz an seinem Ende angekommen. Der Schluss wartet mit einer rätselhaften Geste auf, die hier nicht verraten werden soll, da sie vielerlei Interpretationsspielraum bietet.