Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Entgegen der Gewohnheit

Getarnt zwischen dem Bekannten kommt das Komplexe daher. Hinter der Verheissung verbirgt sich die Falle. Das Schöne kann jederzeit zum Verstörenden mutieren. «Camouflage» in der St. Galler Lokremise verschreibt sich dem Prinzip der Tarnung ganz ohne Versteckspielchen, dafür mit weitreichenden Bedeutungsebenen.

Punkt, Punkt, Komma und Strich ergeben ein Mondgesicht. Punkt, Strich, Kurve und Zickzack ergeben die ganze zivilisatorische Welt, ihren Überfluss, ihre Künstlichkeit, ihre Austauschbarkeit. Zin Taylor (*1978 Calgery) zeichnet mit einem kleinen Repertoire an schwarzen Linien alles, ausser das Einzigartige. Er zeichnet Zelte, Früchte, Zierrat, aber keine Landmarken. So ist seine zweiteilige Wandarbeit in der Lokremise St. Gallen zwar ein Porträt der Ostschweizer Stadt, entstanden während eines einwöchigen Aufenthaltes vor Ort, vor allem aber ist sie ein Abbild der Beiläufigkeit und Banalität: Ballon, Banane, Birkenstock – alles gibt es überall. Das Besondere ist tief verborgen unter den Schichten des Gleichen.

Es lohnt sich also hinter die Dinge zu blicken, zwischen den Zeilen zu lesen und unter die Oberfläche zu tauchen. Dies ist die gemeinsame Ausgangslage für alle vier Positionen der Ausstellung «Camouflage». Sie bezieht sich damit auf surrealistische Darstellungsformen und Arbeitsverfahren wie beispielsweise die ecriture automatique. So reiht Kasia Fudakowski (*1985 London) schon im Titel ihrer Arbeit «Continuouslessness» Buchstabe an Buchstabe, ohne zwingend bereits auf Sinn zu zielen. Mit Paraventelementen setzt sie die Reihung im dreidimensionalen Raum fort. Keines kann für sich alleine stehen, gemeinsam fügen sie sich zum psychologischen Diagramm einer Beziehung – surrealistisch verrätselt und doch ganz im Heute.

Grace Schwindt (*1979 Offenbach) ist als einzige Künstlerin der Ausstellung mit bereits bestehenden Arbeiten in der Ausstellung vertreten, aber auch ihr «Curtain» ist so perfekt an die Kunstzone der Lokremise angepasst, dass er wirkt, wie dafür gemacht. Die bunten Seidenstreifen bilden eine attraktive visuelle Barriere und schaffen gleichzeitig einen intimen Raum innerhalb der grossen Kubatur. Damit rahmen sie eine zehnteilige Keramik mit märchenhaften Formen und Figuren. Viel profaner kommt «Sabotage» von Catherine Biocca (*1984 in Rom) daher mit Juwelenimitaten in Kleidergestellen und Staubschutzhüllen. Wer hier wen sabotiert oder vielmehr sabotieren sollte, erschliesst sich durch den per Videoinstallation gesetzten Bezug auf Etienne de la Boétie und seine Schrift «Von der freiwilligen Knechtschaft»: Die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft ist die Gewohnheit. Sollte ein Perspektivwechsel noch genügen, um daraus auszubrechen, böte die Ausstellung einen geeigneten Anfang.

Komposition und Konfrontation

«Es gibt für jedes Bild nur einen besten Platz» – Thomas Struth ist für seine Ausstellung in der Hilti Art Foundation keinen Kompromiss eingegangen. Im Erweiterungsbau des Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz zeigt er seine Begeisterung für die Kunst und für deren sorgfältige Präsentation.

Ist der Mensch der grosse Abwesende in den Arbeiten von Thomas Struth (*1954 in Geldern, Niederrhein) oder steht er in deren Zentrum? In der Serie der Museumsfotografien scheint die Antwort klar zu sein, zeigt sie doch Menschen in Betrachtung von Kunstwerken. Porträts liefern diese Bilder allerdings nicht, vielmehr untersuchen sie Präsentation und Repräsentation, Attitüden und Konfrontationen. Beispielsweise in «Museo del Prado 2», Madrid 2005: Zwei heutige Betrachterinnen begegnen zwei Gemälden Velázquez´ und damit verbinden sich zwei sehr unterschiedliche Welten. Diese Verbindungen treibt Thomas Struth nun in seiner ersten selbst kuratierten Ausstellung weiter. Unter dem Titel «Composition ´19» lässt er 13 seiner eigenen Werke aus der Vaduzer Hilti Art Foundation mit 17 Gemälden und Plastiken anderer Künstler aus ebendieser Sammlung in einen Dialog treten. Das ist insgesamt eine überschaubare Zahl an Werken, aber auch darin liegt eine Stärke der Ausstellung. Sie ist nicht überfrachtet in dem Bestreben möglichst viel zu zeigen, sondern inszeniert mit höchstem Augenwerk eine geistreiche Zwiesprache. So ist der Fotografie aus dem Prado ein weiblicher Torso von Wilhelm Lehmbruck an die Seite gestellt: Das grosse Spektrum der Selbstinszenierung trifft auf eine vergeistigte Idealgestalt. Gegenüber hängen zwei Aufnahmen Struths aus einem Schaltwerk in Berlin. Die bunten Apparaturen wirken, als seien sie dem Triadischen Ballett Oskar Schlemmers entsprungen, nur der etwas versteckte Hubwagen offenbart ihre gigantischen Dimensionen. Struth zeigt die Technik nicht um ihrer selbst willen, sondern widmet sich ihrer Ausstrahlung: Was erzählen die Dinge über Aufwand, Besessenheit, Visionen und Begeisterung? In dieses Konzept passen auch die drei Gemälde Konrad Klaphecks, das Bild von Fernand Léger oder die Plastik von Alexander Calder im nächsten Stockwerk. Sie korrespondieren mit Struths Fotografien aus dem Institut für Plasmaphysik, einer Frackingszene und einer südkoreanischen Stadtlandschaft – eine Zusammenstellung, die zwar Erkenntnisse liefert, aber ihnen nicht vordergründig unterworfen ist. Stattdessen bereitet sie zuallererst einmal Sehvergnügen. Das ist der Idealfall: Der lange kuratorische Arbeitsprozess – Struth hat sich über anderthalb Jahre hinweg immer wieder mit der Sammlung der Hilti Art Foundation auseinandergesetzt – verschränkt die Werke visuell und inhaltlich und erlaubt einen ebenso sinnlichen wie gedanklichen Zugang.

Schaudern und Spielen

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche – was für die Einen das Werk des belebenden, holden Frühlings ist, ist für die Anderen eine eklige Jahreszeit: Thomas Stüssi betrachtet das grosse Schmelzen mit ambivalenten Blicken.

Der Schnee geht. Zurück lässt er aufgeweichten Boden, eingedrückte Dächer, gebrochene Äste. Alles verliert seine Form. Nie ist ganz sicher, ist etwas schon kompostiert oder noch nicht? Lebt die Natur nicht mehr oder doch schon wieder?

Thomas Stüssi hat den Verfall fotografiert, die Hütte im Gegenlicht, die sich nur noch knapp zu halten scheint. Vielleicht stürzt sie schon morgen ein, vielleicht in einer Woche, vielleicht beim nächsten Frühlingssturm. Die Schneelasten waren zu schwer für das alte Holz. Aber selbst das steinerne Kapitell des Brunnens haben sie verschoben und die am Stamm verbliebenen Äste des gefallenen Baumes zur Seite gedrückt, gegeneinander verschränkt und zu ineinander stürzenden Linien verflochten. Alles erliegt der Schwerkraft. Sie ist unberechenbar und kann doch berechnet werden: Die Gravitationskonstante bestimmt ihre Stärke, basierend auf der gegenseitigen Anziehung von Massen. Aber erst Carl Friedrich Gauß hat sie in Einheiten des Sonnensystems ausgedrückt und damit ermöglicht, die Bewegungen der Planeten zu berechnen, ohne ihr Gewicht zu kennen.

Stüssi adaptiert die Gaußsche Gravitationskonstante und durchmisst damit das Bauernhaus, in dem er lebt. Alle 172 cm eine Messung, eine Zahl, ein Wert und damit ein Beweis für die passierte Ordnung: Neigungen unterschiedlichen Grades durchziehen das Haus von Ost nach West. Das Haus steht und ist doch nicht gerade. Das Bauholz hält und lebt weiter. Aber gar nicht so fern vom Haus hat die Naturkraft die Natur zersetzt: Mäuse haben unter dem Schnee Bahnen in die Grasfläche gewühlt. Jetzt, im Frühling, liegt das Labyrinth frei; ein Abbild dessen, was unter der Oberfläche passiert. Unablässig, unbemerkt, unheimlich und doch so nah. Schaudern breitet sich aus. Das Gegenrezept dazu: spielen. Aus den zerknickten Tannenzweigen werden Beinkühe. Die können sogar fliegen. Sie überwinden die Schwerkraft, die Trägheit, all das, was festhält und bindet. Sie überwinden die Zersetzung, die Verankerung, das grosse Schmelzen. Sequentiell angeordnet, lassen die Fotografien den Film im Kopf ablaufen: Montage, Start, Flug. Auf und davon.

Obacht Kultur, No. 33 | 2019/4

Im Zentrum des Tuns

Eine Platte, zwei oder vier Stützen – ein Tisch braucht wenig, kann aber viel.

Erst die Hausaufgaben, dann das Gemüse rüsten, nachher Nachtessen. Anschliessend vielleicht die Steuererklärung oder doch lieber ein Spiel? Ein Tisch kann Vieles sein: Familienzentrale, Pult, Büro, Ess-, Arbeits- und Ablagefläche. «Je grösser ein Tisch, desto mehr dient er nicht nur dem Essen,» sagt Ueli Frischknecht. Der Schreiner aus Trogen hat ein Serienmodell entworfen: Taktak. Er ist 240 cm lang: «Oft wünschen die Käuferinnen und Käufer eine kürzere Version, aber danach bereuen sie es. Sind sie erst einmal an den Tisch gewohnt, hätten sie es gern, wenn er mehr Platz böte.» Auch die Tiefe des Tisches folgt nicht irgendeinem Zufallsmass: «Die Frage ist, wie will man sich begegnen? Mit Taktak wollten wir die alten Biergartengarnituren ersetzen.» Also weniger tafeln, dafür dem Gegenüber näher sein.

Aussergewöhnlich viel Platz bietet der Tisch im Palais Bleu, der Genossenschaft im alten Spital in Trogen: «14 Personen können locker daran essen,» so Mitgenossenschafterin Karin Karinna Bühler. In der Spitalküche hat der Tisch seine Bestimmung gefunden. Dabei war das keineswegs der erste Aufstellungsort: Ursprünglich wurde er für eine Ausstellung im Zeughaus Teufen gebaut. Danach verwendete ihn Karin Karinna Bühler als Arbeitstisch im Atelier: «Aber dort war er nicht handlich. Er war zu gross für den Raum, also brachten wir ihn für eine Ausstellung in der Reihe Le-lieu ins Säli und danach in die Spitalküche. Dort steht er wie massgeschneidert. Besonders schön und praktisch ist es, neben dem Herd zu essen» – Tischkultur mit kurzen Wegen und guten Gesprächen.

Obacht Kultur, No. 33 | 2019/1

Heimeliges Accessoire oder lebensnotwendig?

Der Ofen ist der Nachfahre der offenen Feuerstellen unserer Urahnen, aber er erfüllt heute andere Bedürfnisse.

«Alle wollen das Feuer sehen.» Der Herisauer Ofenbauer Dominic Jud hat schon seit zwei oder drei Jahren keinen Ofen mehr ohne Glastür gebaut, Cheminées eingeschlossen. Dominic Jud erklärt den Unterschied: «Das Cheminée gibt schnelle Wärme, hat aber einen sehr geringen Wirkungsgrad. Im Ofen wird das Rauchgas geführt und der Feuerraum ist kleiner, dadurch ist der Wirkungsgrad grösser.» Gefragt sind Cheminées trotzdem, denn selbst wenn die Wärmquelle der Wohnung eine andere ist, der Blick ins Feuer ist beliebt.

Das war früher anders, so Vreni Härdi vom ausserrhodischen Amt für Denkmalpflege: «Öfen dienten als Wärmespender, das Feuer war weniger wichtig. Die Stube war der einzige warme Raum. Das entsprach einem Grundbedürfnis, keinem Wohlstandsgedanken.» Und dieses Grundbedürfnis gibt es schon sehr lange. Eigentlich schon immer, so Irene Hochreutener aus Teufen, Vorstandsmitglied Heimatschutz AR und Autorin der Schweizerischen Bauernhausforschung: «Der gemauerte Ofen ist das, was früher die befestigte Feuerstelle war, allerdings ermöglichte er nicht nur die warme, sondern vor allem auch die rauchfreie Stube. Ein Luxus, der für uns heute selbstverständlich ist.» Aber die heimelige Vorstellung einer Familie auf der Ofenbank mit dem zusammengerollten Kätzchen im Korb rückt Hochreutener gerade: «Man darf sich das aber nicht zu romantisch vorstellen, gearbeitet wurde sommers wie winters, auch in der Stube. Man denke beispielsweise an die Stickereizeit. Da waren warme Hände wichtig.» oder wie es Vreni Härdi formuliert: «Früher wärmte der Ofen den Körper, heute die Seele.»

Obacht Kultur, No. 33 | 2019/1

Ahoi Frauen!

Die Galerie Kirchgasse in Steckborn holt Ulrike Ottinger wieder an den Bodensee. Sie zeigt die Arbeit der Künstlerin, Fotografin, Filmemacherin und Autorin anhand ausgewählter Fotografien und eines Drehbuches.

Gold, Liebe, Abenteuer – Madame X lockt mit grossen Versprechungen, aber nicht alle sollen teilhaben. Die Piratenkönigin lädt nur Ausgewählte auf ihr Schiff: eine deutsche Försterin, eine europäische Künstlerin, eine amerikanische Hausfrau, eine Psychologin, ein Fotomodell, eine Buschpilotin, eine Südseeschönheit. Sie lichten die Anker und beginnen eine Reise zu erotischen, mörderischen und fantastischen Erlebnissen.

Auf unbestimmter Route kreuzen die Seeräuberinnen im südchinesischen Meer – beinahe zumindest, denn das Filmbudget reichte dann doch nur für den Bodensee. Das tut dem Film «Madame X. Eine absolute Herrscherin» allerdings keinen Abbruch, denn Ulrike Ottingers Erzähllust und Bildideen, ihre künstlerische Botschaft funktionieren ganz unabhängig von exotischen Schauplätzen. Und der Bodensee ist obendrein ihr Heimatrevier: Die avantgardistische, international geschätzte Filmemacherin Ottinger ist in Konstanz geboren und aufgewachsen. Der Bezugspunkt Bodensee ist also längst da, als sie 1977 aus Berlin zurückkommt, um hier zu drehen.

Ottinger selbst hat das Drehbuch für «Madame X. Eine absolute Herrscherin» geschrieben, sie führt Regie und steht hinter der Kamera, nicht nur der Filmkamera, sondern auch der Fotokamera. Die Künstlerin hat ihre Filmarbeiten selbst fotografisch begleitet. Das Ergebnis sind eigenständige Aufnahmen, die jetzt in einer kleinen Auswahl bei Kirchgasse in Steckborn zu sehen sind.

Das Spektrum reicht von Farbfotografien über eine grossformatige Collage bis hin zu Schwarzweissporträts der Protagonistinnen des Filmes. Die Farbaufnahmen mit ihrer leichten Unschärfe vermitteln einen lebendigen Eindruck einzelner Filmszenen. Sie dokumentieren die prachtvollen Kostüme wie auch die merkwürdige Ausstattung des Schiffes, das Ottinger als ausgemustertes Korsarenschiff aus Bregenz übernehmen konnte.

Während die Farbfotos wie Momentaufnahmen wirken, sind die schwarzweissen Aufnahmen durchkomponiert. Ottinger unterwandert hier die Riefenstahlsche Olympiaästhetik. Zwar sind die Kontraste hart, die Menschen schön und ihre Posen heroisch, aber die Kostüme bleiben Kostüme, auch wenn sie noch so martialisch aussehen, und im Ernst der Heldinnen schimmert stets ein Hauch Ironie.

Es ist kein Zufall, dass Ottinger ihren Film überwiegend mit Frauen besetzt hat – ein Mann kommt zwar vor, ist aber nicht eindeutig als solcher zu identifizieren. Ebenso wenig zufällig heisst das Schiff «Orlando», nach jener Romangestalt von Virginia Woolf, deren Geschlecht im Verlaufe des Buches wechselt. Ottinger reflektiert mit ihrer Arbeit die Situation der Frauen ebenso wie die damit verbundenen Ideologien: «In der Ideologie gehen die Präzision und das genaue Hinsehen verloren. Ich möchte genau hinsehen und daraus meine Themen ziehen.» Dazu gehört auch eine minutiöse inhaltliche und formale Vorbereitung: In der Ausstellung wird das Originaldrehbuch gezeigt. Es enthält Recherchematerial, Entwurfsskizzen, das Screenplay, die inhaltliche Herleitung der Charaktere, Kostümzeichnungen und vieles mehr. Beides – Drehbuch und Fotografien – erzählen auf kleinem Raum viel über die ebenso sorgfältige wie virtuose Arbeit der Filmemacherin Ottinger.

Explosion am Rorschacher Uferweg

Statt «rendez-vous Ostschweizer Kunstschaffender» jetzt Billboards am See: Der Verein KulturFrühling Rorschach löst die dreiwöchigen Ausstellungen im Kornhaus ab durch Plakatflächen auf dem Uferweg. Roman Signer gestaltet den Auftakt dieser neuen Reihe.

Was Cannes kann, kann Rorschach auch. In Cannes werden jeden Sommer Plachen mit grossformatigen Fotografien auf dreiseitige Metallständer montiert: Wer dort auf der Promenade flaniert und des Blickes aufs Meer oder auf die anderen Flanierenden überdrüssig geworden ist, ergötzt sich an ästhetischen Lifestyleaufnahmen.

Jetzt kommen auch Rorschachs Gäste und Einheimische in den Genuss schöner Bilder. Die Metallständer dafür sind sogar baugleich mit jenen in Cannes. Letzteres ist kein Zufall. Thomas und Elisabeth Krucker sind im Sommer oft an die Côte Azur gereist, von dort hat das kunstaffine Paar die Idee mitgebracht, auch die Rorschacher Uferpromenade mit Fotografien aufzuwerten.

Jahrelang haben Kruckers mit dem Verein KulturFrühling einen Raum im Kornhaus Rorschach für Ausstellungen genutzt. Zweimal im Jahr stellten sie dort regionale zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus. Damit spielten sie eine wichtige Rolle im hiesigen Kulturgeschehen, wo Räume knapp sind, in denen künstlerische Projekte mit offenem Ausgang entwickelt und präsentiert werden können. Im vergangenen Jahr nun war damit Schluss und gleichzeitig begann etwas Neues: Anlässlich der Ausstellung von Barbara Signer und Nathalie Price Hafslund, der 17. und letzten Präsentation im Kornhaus Rorschach, gewannen sie Roman Signer für ihr Billboardprojekt.

Thomas und Elisabeth Krucker haben die Plakatständer nicht produzieren lassen, um darauf schöne Lifestylefotos zu zeigen. Sie wollen die Kunst unter die Menschen bringen. Dass sie dafür auf ihre kuratierten Ausstellungen mit Originalkunstwerken verzichten und auf Reproduktionen des international etablierten Künstlers setzen, ist freilich ein Zugeständnis aus pragmatischen Gründen: Sind die Plachen mit den Fotos einmal montiert, müssen keine Ausstellungsaufsichten organisiert und Öffnungszeiten sichergestellt werden. Die Billboards sind rund um die Uhr zugänglich und das potentielle Publikum muss keine Schwelle überwinden, sondern erlebt die Kunst, oder zumindest deren Abbild en passant. Das funktioniert. Zumindest, wenn Roman Signer im Spiel ist.

Ob schlendernde Hundespaziergänger oder jugendliche BMX-Fahrerinnen, ob Rorschacherinnen oder Touristen, fast alle bleiben kurz stehen angesichts der zunächst rätselhaften Versuchsanordnung: Ein Mann – die Kunstkennerinnen und -kenner wissen um seine Identität, denn Roman Signer setzt sich immer selbst seinen künstlerischen Experimenten aus – sitzt in einem altertümlichen Kinderbett umgeben von mehreren Stahlzylindern. Sie sind mit Wasser gefüllt und enthalten einen Zünder. Ein weiteres Bild zeigt eine Explosion, ein anderes eine aufschiessende Wasserwand, die sich schliesslich zu einem feinen Nebel verflüchtigt, bis fast nichts mehr bleibt als ein paar umgekippte Zylinder und ein wenig Wasserdampf.

Die fünf Videostills entstanden während der letztjährigen Aktion Roman Signers vor dem Théâtre Nanterre-Amandiers in Paris und sie passen perfekt auf die Uferpromenade. Das Bett unter freiem Himmel, das umgebende Grün, das aufspritzende Wasser ergeben schöne Analogien zur Platanenallee in Rorschach und dem nahen See. Über diese formale Qualität hinaus funktioniert das Projekt auch auf einer anderen Ebene: Die Chronologie des Signerschen Ereignisses erschliesst sich nicht auf den ersten Blick, sondern die Installation verlangt ein kurzes Innehalten, um die Bilder in der richtigen Reihenfolge zu sehen. Solche Momente kann nur die Kunst schaffen, sie sorgt für die kleinen Unterbrüche im Alltag, selbst dann, wenn sie nur als Reproduktion daherkommt.

Tisch, Tafel, Treffpunkt

Die Kulturlandsgemeinde 2019 im Zeughaus Teufen widmet sich dem Gemeinsinn. Die Trogener Künstlerin Sonja Hugentobler hat dafür vor Ort ein grossformatiges Gemälde entwickelt: es stellt den Tisch ins Zentrum des Tuns.

Der Tisch. Ort der Verhandlung, Ort des Zusammentreffens, Ort der Konversation, der Arbeit, des Essens, des Spiels. Am Tisch sitzend schauen sich Menschen in die Augen, tauschen sich aus, lassen andere an ihren Gedanken und Ideen teilhaben, entwickeln Pläne und Beziehungen. Der Tisch ist aber keine hierarchiefreie Zone. Er hat zwei lange Seiten und zwei kurze, er ist rund oder oval. Er ermöglicht den Blick in den Raum oder aus dem Fenster, er steht in der Nähe einer Tür oder im Zentrum des Raumes. Für all diese Fälle gibt es Tischordnungen. Wer die Tischordnung macht, weiss um deren Schwierigkeiten: Wer neben wem? Wer zuoberst am Kopfende? Wer in Türnähe? Wer in der Mitte? Einander gegenüber? Wie entsteht am Tisch eine funktionierende Gemeinschaft?

Sonja Hugentobler zeigt den Tisch gedeckt, aber ohne Menschen. Hohe schmale Fenster öffnen sich im Hintergrund. Helle Nischen zu beiden Seiten des Raumes sorgen ebenfalls für eine lichte, atmosphärische Stimmung. Der durchscheinende, zarte Farbauftrag kontrastiert mit dem Bildaufbau: Die Zentralperspektive gibt einen strengen kompositorischen Rahmen vor. Nicht von ungefähr erinnert das Bild an eines der berühmtesten Werke der Kunstgeschichte. Sonja Hugentobler hat sich an Leonardo da Vincis Abendmahl orientiert, am weiss gedeckten Tisch, an dem klaren, schmucklosen Raum, den der Renaissancekünstler für sein Werk entworfen hat, an der Gesamtsituation der Tafel. Sie bildet das Zentrum für das letzte gemeinsame Essen von Jesus und den zwölf Aposteln am Vorabend der Kreuzigung. Das Wandbild wurde für den Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand gemalt. Sowohl dort im Refektorium als auch im Bild da Vincis sitzen die Menschen am Tisch. Über der weiss gedeckten Fläche sind nur ihre oberen Körperdrittel zu sehen – und ihre Hände. Deren Gesten, das Geben und Nehmen sind zentrale Handlungen beim gemeinsamen Mahl: Kommunikation findet nicht nur durch Sprache und Mimik statt, sondern auch durch Handreichungen und den sprichwörtlichen Fingerzeig.

Indem Sonja Hugentobler bewusst auf die markanten Figurendarstellungen und eine illustrative Umsetzung verzichtet, aber die Tafel weiterhin im Zentrum der Arbeit stehen lässt, öffnet sie die Tafelrunde für die Betrachterinnen und Betrachter ihres Bildes. Sie erweitert den Ausstellungssaal des Zeughauses Teufen mit seinen schmal gerahmten Fenstern, seiner Helligkeit und seiner klaren räumlichen Struktur in den Bildraum hinein. Beide Räume, der reale und der dargestellte, durchdringen sich und korrespondieren miteinander.

Die Künstlerin hat ihr Gemälde gegenüber dem Renaissanceoriginal so gestreckt, dass links und rechts des gedeckten Tisches eine grosszügigere freie Fläche besteht. Damit führt sie die Bewegung aus dem dreidimensionalen Raum ins Bild hinein, zur Tafel hin. Diese Annäherung funktioniert von beiden Bildrändern aus und steigert die Bedeutung des Tisches als zentrales Moment. Er ist der Treffpunkt, er ist die Metapher für die Zusammenkunft, die weit über das gemeinsame Mahl hinausreicht. Die Länge des Bildes und die damit verbundene Einladung, es aus der Bewegung heraus zu erfahren, es abzuschreiten und im Gehen zu erleben, ist auch mit der Einladung verbunden, über gemeinsame Haltungen nachzudenken, über die abendländische Bildtradition, über das kulinarische und kommunikative Angebot, das jede gedeckte Tafel darstellt, über den Wert gemeinsam verbrachter Zeit und ausgetauschter Gedanken.

Sonja Hugentobler wurde 1961 in Chur geboren und lebt und arbeitet seit 2006 als freischaffende Künstlerin im Palais Bleu in Trogen.

Malerei in der Störzone

Ruhe gibt es nicht, aber Rhythmen. Judy Millars Malerei entsteht aus der extensiven körperlichen Aktion heraus. Die Künstlerin trägt Farbe auf, um sie in grossen Gesten abzutragen. Der Gefahr der Routine begegnet sie mit immer neuen formalen und materiellen Fragestellungen.

»Malerei ist eine riesige menschliche Echokammer«, so Judy Millar (*1957 in Auckland). Die Künstlerin hat diese Echokammer zunächst gefiltert erlebt: Von der westeuropäischen und nordamerikanischen Kunst drang nur bis nach Neuseeland, was bereits heroisch und ideologisch verklärt oder zumindest etabliert war. Wenig verwunderlich, dass die Künstlerin nach ihrem Akademieabschluss einen Neueinstieg wählte und bereits ihre ersten freien Arbeiten auf dem «Undoing», dem Entfernen von Material aufbaute. Sie ordnete Abdeck- und Klebebänder zu Rasterstrukturen, um anschliessend mit einem scharfen Japanmesser Stücke davon wieder wegzuschneiden. Das aufgerissene Papier trägt die Spuren des Prozesses und vereint damit konstruktive Anlage und dekonstruktive Geste. Diese Blätter aus den frühen 1980er Jahren sind nun im Kunstmuseum St.Gallen zum ersten Mal zu sehen. Überhaupt ist die ganze Ausstellung die erste Museumsretrospektive der Künstlerin, obgleich sie sich seit bald vier Jahrzehnten mit ihren Werken am malerischen Diskurs beteiligt. Bei dieser Ausgangslage ist die konventionelle Hängung der richtige Schritt: Werkgruppen bilden in »The Future and the Past Perfect« räumliche Einheiten und zeigen in der Abfolge Stringenz und Entwicklung der künstlerischen Arbeit Millars.

Im Zentrum stehen einerseits die Komposition eines Bildraumes aus der Reduktion heraus und andererseits die Dynamik des Wegnehmens. Was wie satte Pinselstriche aussieht, sind weggenommene Farben: Die Künstlerin legt in ihren Bildern Farbschichten an, die sie mit Rakeln oder Stoffballen wieder entfernt. Farbmaterie wird mit maximaler Heftigkeit hin- und hergeschoben. Die dadurch aufgestaute Farbmaterie überlagert sich, schwingt in Schleifen und Schlaufen nach oben und unten, Bahnen weggewischter Farbe fressen sich in tiefer gelegene Bildebenen, mitunter blitzt die weisse Leinwand auf.

Millar lotet den maximalen Bewegungsradius aus: »Je länger die Linie ist, desto mehr Raum kann ich daraus entwickeln«. Das Auge kann dieser Geste nahezu immer folgen, so dass im Anschauen ein »Remaking« der Arbeit möglich wird.

Judy Millar ist eine jener Künstlerinnen, die ihre Arbeiten dem Alltag aussetzen, sie transformieren in Siebdruck, sie ins Riesenhafte treiben, reflektierende Verglasungen wählen, um die Umgebung zu integrieren, sie vom rechteckigen, flachen Format lösen: statt Sicherheit zu wählen, erprobt sie Malerei in der Störzone.

Im globalen Sprachstrom

Vaduz: Reklameslogans haben längst die Alltagssprache erobert. Redewendungen wiederum werden in Werbesprüche verwandelt, inklusive grammatikalischer Fehler. Politische Floskeln verselbständigen sich. Sprachkürzel ersetzen Ausführlichkeit und Vielfalt. Die Sprache wandelt sich, die Übergänge werden nahtloser – eine Entwicklung, die Nora Turato (*1991 in Zagreb) täglich verfolgt, sich aneignet und mitgestaltet. Die in Amsterdam lebende Künstlerin zapft per Smartphone den unablässig fliessenden und stetig anschwellenden Sprachstrom an. Sie verschmilzt die Textsorten zu einem neuen, alles umfassenden Script, das sie publiziert und vorträgt.

Das Kunstmuseum Liechtenstein verbindet die verschiedenen Aspekte von Turatos Arbeit in einer sich über alle vier Räume des Obergeschosses erstreckenden Ausstellung, die in dieser Grösse aber auch ihre Schwäche zeigt. So verlieren die wandfüllenden Satzfragmente in der systematisierten Handschrift einerseits an Intensität durch ihre Dimension und andererseits durch die Überlagerung und Aneinanderreihung. Auch der Einbezug der Museumssammlung kippt mal ins Anekdotische mal ins Didaktische. Die zwei eigens angefertigten Holztische bleiben in ihrer Materialität Fremdkörper in der Ausstellung – da hilft auch die Dopplung nicht.

Die stärksten Elemente der Schau sind zwei minimalistische Objekte, die sich auf moderne und modernistische Architektur beziehen und als Bezugspunkte für Turatos Performances funktionieren. Das eine zitiert Glas-Metall-Konstruktionen wie sie in Busbahnhöfen oder Flughäfen zum Einsatz kommen, um dem Warten eine Struktur zu geben, es aber doch nicht zu einladend werden zu lassen. Das andere Objekt hat seine formalen Ursprünge in der 1926 konzipierten Frankfurter Küche, die heutzutage zur Kochinsel mutiert ist. Allerdings fehlen die Herdplatten und der Wasseranschluss. Stattdessen sorgt eine funktionierende Smartphone-Ladestation für den Anschluss zur virtuellen Welt.

Wozu Kochen, wenn man twittern kann? Immer neue Wortmengen ergiessen sich in den globalen Textfluss. Auch in ihren Performances – an der Biennale Venedig 2015 und der letztjährigen Manifesta mit grosser Aufmerksamkeit bedacht – kanalisiert Turato die Sprache zwar, zeigt aber auch die Unendlichkeit der möglichen Textproduktion. Da ist es gut, dass der Spüle des Küchenobjektes der Ausgussfilter fehlt, so kann sich der Wörterstrom noch schneller ins Nichts ergiessen.