Tisch, Tafel, Treffpunkt
by Kristin Schmidt
Die Kulturlandsgemeinde 2019 im Zeughaus Teufen widmet sich dem Gemeinsinn. Die Trogener Künstlerin Sonja Hugentobler hat dafür vor Ort ein grossformatiges Gemälde entwickelt: es stellt den Tisch ins Zentrum des Tuns.
Der Tisch. Ort der Verhandlung, Ort des Zusammentreffens, Ort der Konversation, der Arbeit, des Essens, des Spiels. Am Tisch sitzend schauen sich Menschen in die Augen, tauschen sich aus, lassen andere an ihren Gedanken und Ideen teilhaben, entwickeln Pläne und Beziehungen. Der Tisch ist aber keine hierarchiefreie Zone. Er hat zwei lange Seiten und zwei kurze, er ist rund oder oval. Er ermöglicht den Blick in den Raum oder aus dem Fenster, er steht in der Nähe einer Tür oder im Zentrum des Raumes. Für all diese Fälle gibt es Tischordnungen. Wer die Tischordnung macht, weiss um deren Schwierigkeiten: Wer neben wem? Wer zuoberst am Kopfende? Wer in Türnähe? Wer in der Mitte? Einander gegenüber? Wie entsteht am Tisch eine funktionierende Gemeinschaft?
Sonja Hugentobler zeigt den Tisch gedeckt, aber ohne Menschen. Hohe schmale Fenster öffnen sich im Hintergrund. Helle Nischen zu beiden Seiten des Raumes sorgen ebenfalls für eine lichte, atmosphärische Stimmung. Der durchscheinende, zarte Farbauftrag kontrastiert mit dem Bildaufbau: Die Zentralperspektive gibt einen strengen kompositorischen Rahmen vor. Nicht von ungefähr erinnert das Bild an eines der berühmtesten Werke der Kunstgeschichte. Sonja Hugentobler hat sich an Leonardo da Vincis Abendmahl orientiert, am weiss gedeckten Tisch, an dem klaren, schmucklosen Raum, den der Renaissancekünstler für sein Werk entworfen hat, an der Gesamtsituation der Tafel. Sie bildet das Zentrum für das letzte gemeinsame Essen von Jesus und den zwölf Aposteln am Vorabend der Kreuzigung. Das Wandbild wurde für den Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand gemalt. Sowohl dort im Refektorium als auch im Bild da Vincis sitzen die Menschen am Tisch. Über der weiss gedeckten Fläche sind nur ihre oberen Körperdrittel zu sehen – und ihre Hände. Deren Gesten, das Geben und Nehmen sind zentrale Handlungen beim gemeinsamen Mahl: Kommunikation findet nicht nur durch Sprache und Mimik statt, sondern auch durch Handreichungen und den sprichwörtlichen Fingerzeig.
Indem Sonja Hugentobler bewusst auf die markanten Figurendarstellungen und eine illustrative Umsetzung verzichtet, aber die Tafel weiterhin im Zentrum der Arbeit stehen lässt, öffnet sie die Tafelrunde für die Betrachterinnen und Betrachter ihres Bildes. Sie erweitert den Ausstellungssaal des Zeughauses Teufen mit seinen schmal gerahmten Fenstern, seiner Helligkeit und seiner klaren räumlichen Struktur in den Bildraum hinein. Beide Räume, der reale und der dargestellte, durchdringen sich und korrespondieren miteinander.
Die Künstlerin hat ihr Gemälde gegenüber dem Renaissanceoriginal so gestreckt, dass links und rechts des gedeckten Tisches eine grosszügigere freie Fläche besteht. Damit führt sie die Bewegung aus dem dreidimensionalen Raum ins Bild hinein, zur Tafel hin. Diese Annäherung funktioniert von beiden Bildrändern aus und steigert die Bedeutung des Tisches als zentrales Moment. Er ist der Treffpunkt, er ist die Metapher für die Zusammenkunft, die weit über das gemeinsame Mahl hinausreicht. Die Länge des Bildes und die damit verbundene Einladung, es aus der Bewegung heraus zu erfahren, es abzuschreiten und im Gehen zu erleben, ist auch mit der Einladung verbunden, über gemeinsame Haltungen nachzudenken, über die abendländische Bildtradition, über das kulinarische und kommunikative Angebot, das jede gedeckte Tafel darstellt, über den Wert gemeinsam verbrachter Zeit und ausgetauschter Gedanken.
Sonja Hugentobler wurde 1961 in Chur geboren und lebt und arbeitet seit 2006 als freischaffende Künstlerin im Palais Bleu in Trogen.