Malerei in der Störzone
by Kristin Schmidt
Ruhe gibt es nicht, aber Rhythmen. Judy Millars Malerei entsteht aus der extensiven körperlichen Aktion heraus. Die Künstlerin trägt Farbe auf, um sie in grossen Gesten abzutragen. Der Gefahr der Routine begegnet sie mit immer neuen formalen und materiellen Fragestellungen.
»Malerei ist eine riesige menschliche Echokammer«, so Judy Millar (*1957 in Auckland). Die Künstlerin hat diese Echokammer zunächst gefiltert erlebt: Von der westeuropäischen und nordamerikanischen Kunst drang nur bis nach Neuseeland, was bereits heroisch und ideologisch verklärt oder zumindest etabliert war. Wenig verwunderlich, dass die Künstlerin nach ihrem Akademieabschluss einen Neueinstieg wählte und bereits ihre ersten freien Arbeiten auf dem «Undoing», dem Entfernen von Material aufbaute. Sie ordnete Abdeck- und Klebebänder zu Rasterstrukturen, um anschliessend mit einem scharfen Japanmesser Stücke davon wieder wegzuschneiden. Das aufgerissene Papier trägt die Spuren des Prozesses und vereint damit konstruktive Anlage und dekonstruktive Geste. Diese Blätter aus den frühen 1980er Jahren sind nun im Kunstmuseum St.Gallen zum ersten Mal zu sehen. Überhaupt ist die ganze Ausstellung die erste Museumsretrospektive der Künstlerin, obgleich sie sich seit bald vier Jahrzehnten mit ihren Werken am malerischen Diskurs beteiligt. Bei dieser Ausgangslage ist die konventionelle Hängung der richtige Schritt: Werkgruppen bilden in »The Future and the Past Perfect« räumliche Einheiten und zeigen in der Abfolge Stringenz und Entwicklung der künstlerischen Arbeit Millars.
Im Zentrum stehen einerseits die Komposition eines Bildraumes aus der Reduktion heraus und andererseits die Dynamik des Wegnehmens. Was wie satte Pinselstriche aussieht, sind weggenommene Farben: Die Künstlerin legt in ihren Bildern Farbschichten an, die sie mit Rakeln oder Stoffballen wieder entfernt. Farbmaterie wird mit maximaler Heftigkeit hin- und hergeschoben. Die dadurch aufgestaute Farbmaterie überlagert sich, schwingt in Schleifen und Schlaufen nach oben und unten, Bahnen weggewischter Farbe fressen sich in tiefer gelegene Bildebenen, mitunter blitzt die weisse Leinwand auf.
Millar lotet den maximalen Bewegungsradius aus: »Je länger die Linie ist, desto mehr Raum kann ich daraus entwickeln«. Das Auge kann dieser Geste nahezu immer folgen, so dass im Anschauen ein »Remaking« der Arbeit möglich wird.
Judy Millar ist eine jener Künstlerinnen, die ihre Arbeiten dem Alltag aussetzen, sie transformieren in Siebdruck, sie ins Riesenhafte treiben, reflektierende Verglasungen wählen, um die Umgebung zu integrieren, sie vom rechteckigen, flachen Format lösen: statt Sicherheit zu wählen, erprobt sie Malerei in der Störzone.