Entgegen der Gewohnheit

by Kristin Schmidt

Getarnt zwischen dem Bekannten kommt das Komplexe daher. Hinter der Verheissung verbirgt sich die Falle. Das Schöne kann jederzeit zum Verstörenden mutieren. «Camouflage» in der St. Galler Lokremise verschreibt sich dem Prinzip der Tarnung ganz ohne Versteckspielchen, dafür mit weitreichenden Bedeutungsebenen.

Punkt, Punkt, Komma und Strich ergeben ein Mondgesicht. Punkt, Strich, Kurve und Zickzack ergeben die ganze zivilisatorische Welt, ihren Überfluss, ihre Künstlichkeit, ihre Austauschbarkeit. Zin Taylor (*1978 Calgery) zeichnet mit einem kleinen Repertoire an schwarzen Linien alles, ausser das Einzigartige. Er zeichnet Zelte, Früchte, Zierrat, aber keine Landmarken. So ist seine zweiteilige Wandarbeit in der Lokremise St. Gallen zwar ein Porträt der Ostschweizer Stadt, entstanden während eines einwöchigen Aufenthaltes vor Ort, vor allem aber ist sie ein Abbild der Beiläufigkeit und Banalität: Ballon, Banane, Birkenstock – alles gibt es überall. Das Besondere ist tief verborgen unter den Schichten des Gleichen.

Es lohnt sich also hinter die Dinge zu blicken, zwischen den Zeilen zu lesen und unter die Oberfläche zu tauchen. Dies ist die gemeinsame Ausgangslage für alle vier Positionen der Ausstellung «Camouflage». Sie bezieht sich damit auf surrealistische Darstellungsformen und Arbeitsverfahren wie beispielsweise die ecriture automatique. So reiht Kasia Fudakowski (*1985 London) schon im Titel ihrer Arbeit «Continuouslessness» Buchstabe an Buchstabe, ohne zwingend bereits auf Sinn zu zielen. Mit Paraventelementen setzt sie die Reihung im dreidimensionalen Raum fort. Keines kann für sich alleine stehen, gemeinsam fügen sie sich zum psychologischen Diagramm einer Beziehung – surrealistisch verrätselt und doch ganz im Heute.

Grace Schwindt (*1979 Offenbach) ist als einzige Künstlerin der Ausstellung mit bereits bestehenden Arbeiten in der Ausstellung vertreten, aber auch ihr «Curtain» ist so perfekt an die Kunstzone der Lokremise angepasst, dass er wirkt, wie dafür gemacht. Die bunten Seidenstreifen bilden eine attraktive visuelle Barriere und schaffen gleichzeitig einen intimen Raum innerhalb der grossen Kubatur. Damit rahmen sie eine zehnteilige Keramik mit märchenhaften Formen und Figuren. Viel profaner kommt «Sabotage» von Catherine Biocca (*1984 in Rom) daher mit Juwelenimitaten in Kleidergestellen und Staubschutzhüllen. Wer hier wen sabotiert oder vielmehr sabotieren sollte, erschliesst sich durch den per Videoinstallation gesetzten Bezug auf Etienne de la Boétie und seine Schrift «Von der freiwilligen Knechtschaft»: Die erste Ursache der freiwilligen Knechtschaft ist die Gewohnheit. Sollte ein Perspektivwechsel noch genügen, um daraus auszubrechen, böte die Ausstellung einen geeigneten Anfang.