Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Wasser und Weibliches

Der Verein KulturFrühling Rorschach lädt zum «Rendezvous 2» ins Rorschacher Kornhaus ein. Drei Ostschweizer Künstlerinnen und ein Künstler zeigen neue Arbeiten mit Bezug zur Stadt am See.

Was wäre Rorschach, läge es nicht am See? Keine sehr aussergewöhnliche Stadt. Rorschach liegt aber am See und lebt von seiner Weite und den ständig wechselnden Stimmungen. Das grosse Wasser prägt die kleine Stadt, ihre Bewohner und ihre Gäste. Vier davon stellen derzeit im Rorschacher Kornhaus aus.

Auf Einladung des Vereins KulturFrühling Rorschach präsentieren Harlis Hadjidj-Schweizer, Yoko-Michelle Mroczek, Hans Schweizer und Birgit Widmer im Kornhaus aktuelle Werke mit mehr oder weniger deutlichem Bezug zu Rorschach oder zumindest zum Wasser.

Letzteres hat bekanntlich viele Facetten. In den Gemälden Hans Schweizers ist es vor allem Fläche. Nur die aus der Vogelschau gezeigten Jollen und Segler legen den Schluss nahe, dass Wasser sie umgibt. Ansonsten verrät kein Kräuseln, keine Welle, keine Schaumkrone das flüssige Element.

Flaute ringsum und auf den Booten selbst: Kein Grosssegel bläht sich, kein Stander flattert im Wind, die dargestellten Personen verharren. Gesteigert wird der statische Eindruck durch die Monochromie der Bilder. Sie sind ganz in Braun- oder Türkistönen gehalten. Schweizer zelebriert die Stille und den Kontrast von Sujet und Medium. Der handlungsfreie Raum bietet mehr Platz für die malerische Aktion, der Duktus verselbständigt sich.

Ganz anders wirkt dies bei Harlis Hadjidj-Schweizer. Malerei und Motiv, Farbe und Form sind in ihren Bildern homogen ineinander verwoben. Die Hafenansicht von Algier ist ganz ohne Linien, rein aus zweifarbigen Flächen aufgebaut, Positiv- und Negativform gehen ein spannendes Wechselspiel ein. Das Bild wirkt wie ein Nachbild des Auges. Das Ungefähre eines solchen Nachbildes entspricht der Reduktion der gestalterischen Mittel ebenso wie der sinnfällig umgesetzten inhaltlichen Ebene.

Hadjidj-Schweizer findet ihre Motive auf alten Fotografien und Postkarten und thematisiert die Ungewissheit der Erinnerung, sie wird als vage und veränderlich erlebt, gern wird Gewesenes und Gesehenes in der Rückschau verfremdet. Auch hier liegt, um Rorschach wieder ins Spiel zu bringen, der Schwerpunkt der ausgestellten Werke auf wassernahen Motiven.

Gleiches gilt für Birgit Widmers kleine Skulpturenserie «mermaid». Sie besticht durch die Detailfreude und die gekonnte Umsetzung in zwei besonderen Medien: Lindenholzschnitzerei, die nicht bis ins letzte Detail geglättet ist, sondern den Bearbeitungsprozess erkennen lässt, und darauf basierender Aluminiumguss. Die Geschichte der unglücklichen Liebe der Meerjungfrau zu ihrem Prinz ist bekannt, und doch gelingt es Widmer, ihr neue Facetten abzugewinnen.

Nur drei Szenen reichen, um das ganze Drama, das Begehren, Hoffen, die Enttäuschung darzustellen. Wunderschön, wie die Fraugewordene im Anzug einem Fischleib entsteigt, wie sich eine Allee im Wind biegt oder ein kleines Kunstzitat ins Prinzenschlafzimmer gesetzt wird. Wasser also auch hier, nicht jedoch in den Werken Yoko-Michelle Mroczeks.

Die seit einem Jahr in St. Gallen lebende Künstlerin thematisiert den Blick auf die Frau sowohl aus gesellschaftlicher wie aus ihrer speziell fernöstlichen Sicht. Schon in Peter Greenaways «Bettlektüre» war der Körper ebenso vergängliche wie ästhetische Folie für Kalligraphie, hier ist er es wieder. Auf anderen Bildern wird die sprichwörtliche Birnenform des Körpers ins Wortwörtliche übersetzt. Was hat das mit Rorschach zu tun? Vielleicht mehr mit dem Rorschachtest? Erinnern jene Fuchsbeine mit Rock an Degas‘ «Kleine Tänzerin» oder eher an das Lied vom Männlein im Walde? Oder doch irgendwie an die Stadt am Bodensee?

Zwei Stockwerke voller Dialoge

Galerist Christian Röllin zeigt zum zweitenmal eine Zusammenschau zehn verschiedener Künstlerinnen und Künstler. In der «Collection Selection II» trifft sich Bekanntes mit Neuem, Älteres mit Aktuellem.

Was haben ein 81jähriger Fotoreporter und ein junger finnischer Fotograf gemeinsam? Was eine knapp über 30jährige polnische Zeichnerin mit einer bald 60jährigen norwegischen Malerin oder dem holländischen Monochromisten? Sie machen alle Kunst. Aber das allein ist noch nicht bemerkenswert, Kunst ist bekanntlich ein weites Feld. Es sind vielmehr die feinen, kaum sichtbaren Details, die plötzlich Parallelen zeigen: kleine ästhetische Überschneidungen, ein Farbton, der über sich hinausweist, oder ein Sujet, das in der Zusammenschau einen ganz anderen Klang bekommt.

Möglich wird dies durch die von Christian Röllin kuratierte Zusammenschau «Collection Selection II». Insgesamt zehn Galeriekünstler sind mit einzelnen Werken oder kleinen Serien in der Ausstellung zu sehen.

Es sind Arbeiten und Künstler darunter, die bisher nicht in St. Gallen zu sehen waren, wie etwa Werke von Klaus Merkel, den Röllin bereits in seiner Zürcher Galerie präsentierte. Der deutsche Künstler malt Bilder aus Bildern. Er untersucht die (Re-)Produktionsbedingungen von Bildern: «Sämtliche Bilder und nicht nur die aktuellen sind von Grund auf Abstraktionen. So sind in jedem neuen Gemälde immer die abstrakten Elemente anderer, vorheriger Bilder verarbeitet.» Die Bilder im Bild sind als kleine Rechtecke aneinandergefügt.

Merkels anderes Markenzeichen ist ein lebendiger Farbklang aus roten, grünen, schwarzen und weissen Tönen, der in immer neuen Kombinationen und Variationen ein vielseitiges und dennoch homogenes Gesamtbild ergibt.

Damit korrespondieren die Tafeln mit den Gemälden Jos van Merendonks. Der auf grüne Kompositionen spezialisierte Holländer ist dank Röllin in St. Gallen längst kein Unbekannter mehr. Auch Ingmar Alges Gemälde waren mehrfach in St. Gallen zu sehen, und so lässt sich die Entwicklung des Vorarlberger Künstlers auf sehr direkte Weise mitverfolgen. Besonders jenes Gemälde mit einer sitzenden Rückenfigur mit Kopftuch zeigt Alges Gespür für aktuelle Themen, die er sehr diskret und undogmatisch in Bilder übersetzt. Ähnlich wie Marco Poloni, von dem eine Fotoserie zu sehen ist, die wenig Konkretes verrät über Ort, Zeit und Protagonisten, die aber umso mehr erzählt über die Gesellschaft, in der wir leben, und die Befindlichkeit des einzelnen.

Christian Röllins Ausstellungsräume mögen auf den ersten Blick nicht der ideale Ort für eine Galerie sein, aber gerade dieses spezielle Raumkonzept über zwei Stockwerke mit vielen Winkeln und Nischen und unterschiedlichen Wandoberflächen erlaubt eine vielseitige und den Werken gerechte Präsentation.

Was übereinander auf den zwei Etagen hängt, ist oft auch gleichzeitig zu sehen. Seitenarme bieten sich für winzige Kabinettausstellungen an. Eine schmale, dunkle Stirnwand lässt das dort präsentierte Werk wie eine Ikone wirken. Für Robert Lebecks Fotografien hingegen, die ebenfalls noch nie in St. Gallen zu sehen waren, steht eine Vitrine bereit.

Ob kleine Werke wie die Stick- und Collagenbilder von Ulla Jokisalo, ob das Leuchtkastenobjekt von Alex Hanimann oder Grossformatiges wie Malgorzata Jankowskas Zeichnung – für jedes gibt es den idealen Platz. So kann ein Gemälde Tim Ayres‘ auf einer ganzen Wand seine magentafarbene Pracht entfalten und die landschaftsartige Struktur der Lasuren scheint sich auf dem rauhen Putz fortzusetzen.

Christian Röllin erfüllt sich mit dieser Ausstellung den Wunsch, zusammen zu sehen, was bisher nur an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten ausgestellt war. Die dabei möglichen spannenden Dialoge der Werke erstaunen selbst den gestandenen Galeristen.

Die Ordnung der Dinge

François P. Boué arbeitet einen Sommer lang als Gastkünstler im Sitterwerk. Der New Yorker untersucht vergängliche oder nicht realisierte Architektur. Dabei legt der feinsinnige Beobachter einen Fokus auf die Schweiz.

François Boués Schreibtisch im Gastatelier des Sitterwerks: Ein kleiner Tisch, nicht einmal einen Quadratmeter gross, und dennoch fällt er ins Auge. Hier liegt jedes Ding auf besondere Weise an seinem Platz. Der Stift, der Schreibblock, die Speicherkarte, der Klapprechner. Vier kleine Kieselsteine auf der rechten oberen Schreibtischecke wirken ebenso sorgsam plaziert wie die Videokamera.

Wer François Boué beobachtet und sich im grossen Atelierraum umsieht, merkt rasch, hier arbeitet nicht einer, der aufräumen muss oder pedantisch für Ordnung sorgt, sondern einer, dem die Dinge wichtig sind. Nimmt Boué etwas in die Hand, dann behandelt er es achtsam. Auf ganz selbstverständliche, lebendige Art zollt er den Dingen, die ihn umgeben und mit denen er sich umgibt, Aufmerksamkeit. Das gilt für seine Arbeitsmaterialien genauso wie für seine künstlerischen Themen. Unscheinbares hat es ihm angetan, Vorübergehendes oder Unfertiges. Vielleicht, weil sich gerade hier die wahren Entdeckungen machen lassen.

Da ist beispielsweise die Wand mit Aufnahmen des Padiglione d’Arte Contemporanea von Ignazio Gardella. François Boué nähert sich dem Bauwerk, indem er es wieder und wieder ablichtet, die Fotografien in verschiedener Grösse unterschiedlich gruppiert. Er lenkt den Blick auf Details und spürt dadurch dem Gesamtcharakter des Gebäudes, der Qualität der Architektur nach.

Schrittweises Herantasten und wiederholtes Untersuchen sind wichtige Aspekte der Arbeit des seit 18 Jahren in New York lebenden Künstlers: «Manchmal gehe ich immer wieder an einen Ort. Ich begehe die Situation. Ich will näherkommen. Es ist wie beim Filmen mit verschiedenen Einstellungen.»

Doch mitunter existiert das Objekt seines Interesses nicht, oder nicht mehr als gebaute Architektur. Denn gerade die ephemeren Dinge faszinieren ihn. So studierte er etwa die Literatur zum Wettbewerbsprojekt «Urschweiz» von Eduard Zimmermann und Nikolaus Hartmann, einem zu Beginn des 20. Jahrhunderts geplanten Nationaldenkmal in Schwyz, oder zur Cementhalle, die Maillart 1939 für die Landesausstellung schuf. Mit Skizzen, Zeichnungen, Fotokopien und dreidimensionalen Miniaturnachbauten aus Pappe erweckt Boué die alten Projekte zum Leben.

Überhaupt die Pappe: Selten ist diesem Material so viel ästhetischer Wert abgewonnen worden. Selbst, wenn der Künstler einfach nur einen hellen Karton vor einem etwas grösseren, etwas dunkleren plaziert, ist dies eine Setzung, die ins Auge fällt. Dies liegt einerseits an der Präzision, mit er zu Werke geht, und andererseits an seiner bewussten und doch unbefangenen Art. Dies gilt für das schwarze Papierquadrat an der Wand genauso wie für die kleinen Klebebandkreuzchen, die jene Fotografien an der Wand halten, die für Boué «Denkbilder» sind. Oder für die Zeichnungen mit weissem Stift auf schwarzem Papier: François Boué zeichnet sie im Dunklen, und so erinnern sie in ihrer Reduktion zwar an technische Zeichnungen, bleiben jedoch stets auf subtile Weise lebendig und offen.

Seit zwei Monaten ist Boué nun schon im Sitterwerk, und viel ist bereits entstanden. Dass auf Schweizerischem ein besonderer Fokus liegt, hat aber nicht nur mit seinem aktuellen Arbeitsplatz zu tun: «Die Schweiz liegt immer auf dem Weg von Amerika nach Europa. Schon als ich sieben war, kam ich regelmässig mit meinen Eltern her.» Boué, Kind italienisch-französischer Eltern und in Deutschland geboren und aufgewachsen, kann mit diesem Atelieraufenthalt nun also vertiefen, was ihn lange schon begleitet. Und ob es frühe Flachdachhäuser in Davos, Betoneinbauten im Zürcher Bahnhof, Maillart-Bauten oder der geplatzte Traum vom Nationaldenkmal ist: Boué ist ein feinsinniger Beobachter, der selbst hiesigen Architekturfreunden noch so manchen lohnenswerten Blick vermitteln kann.

Kunst aus Marmor im Schober

In einer Scheune in Amden sind Sommer für Sommer ortsspezifische Installationen von international bekannten Künstlern zu sehen. Die aktuelle Ausstellung zeigt Werke der St. Gallerin Katalin Deér.

Jede Kunstpräsentation ist eine Gratwanderung. Eine Versuch, dem Werk in inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht gerecht zu werden. Ein Idealfall sind Werke, die eigens für eine Ausstellung geschaffen wurden. Wie das funktioniert, ist in einer Scheune in Amden zu erleben. Seit über zehn Jahren lädt Kurator Roman Kurzmeyer internationale Künstlerinnen und Künstler ein, in und für diesen Raum zu arbeiten.

Die Idee: sich mit der kultur- und kunstgeschichtlich bedeutsamen Landschaft auseinanderzusetzen und daraus eigenes zu entwickeln.

Mit diesen Hintergedanken im Kopf mag die Stuckmarmorplatte in der Scheune wie ein riesiger Fremdkörper wirken. Katalin Deér hat die massive Platte auf dem Bretterboden plaziert. Dort liegt sie und gibt Rätsel auf. Wie kam sie hierher? Welchen Bezug hat sie zum Gebäude, zur Landschaft? Doch bevor der Betrachter dies ergründet, will er vor allem eines: die Platte berühren, über ihre samtene Oberfläche fahren, den Unebenheiten, den Silhouetten der Farbfelder nachspüren; ein überaus sinnliches Vergnügen.

Hier in der Stille der alten Scheune lässt es sich endlos zelebrieren. Und langsam drängt mehr ins Bewusstsein: die Streiflichter der Bretterzwischenräume, das Türkis des tiefer gelegenen Walensees, das Alter der Scheune und die Vergänglichkeit der Intervention, ihre Verletzbarkeit.

Die Platte entstand vor Ort in einem aufwendigen handwerklichen Verfahren. Sie wurde gespachtelt, geschliffen, geölt und gewachst. Sie ist Malerei ebenso wie Plastik, sie ist Bild und Materie. Sie ist ein ebenso visuelles wie haptisches Erlebnis. Katalin Deér zeigt sich hier in ihrem Element als Bildhauerin. Ihr Gespür für den Raum und den Charakter des Gebäudes kommt ebenso zum Tragen wie ihre Achtung vor Material und Technik und ihre Lust am künstlerischen Prozess.

In den letzten Jahren widmete sich Katalin Deér vermehrt der Fotografie und ihrem plastischen Potenzial. Im Untergeschoss der Scheune ist eine grossformatige, glänzende Fotografie auf dem Holzboden ausgebreitet. Passgenau liegt sie auf dem strohbedeckten Podest und wird Objekt.

Die Aufnahme zeigt zwei Holzstühle in einem Schaufenster. Die Anordnung trifft sich mit dem Umraum und der Platte darüber. Die Oberfläche reflektiert genau wie die Stuckmarmorplatte und wie der See das Licht. Die funktionale Form der Stühle weckt den Sinn für die Ästhetik der zweckgerichteten Architektur.

Katalin Deér hat sich dem Ort behutsam genähert. Sie inszeniert einen Kontrast zwischen Raum und Werk, der sich bei intensivem Schauen, wie es nur in dieser ländlichen Ruhe möglich ist, mehr und mehr auflöst.

Arbeitstitel

Was tun? Auf nach Liechtenstein! Für Schweizer, als offizielle Weltmeister im Bahnfahren mag es nicht gerade nahe liegen, einen Ausflug ins kleine Nachbarland zu machen. Liechtenstein hat doch noch nicht einmal einen Bahnhof im Hauptort Vaduz. Wofür also die kleine, aber aufwändige Auslandsreise? Was tun, in Vaduz? Ins Kunstmuseum Liechtenstein gehen! Hier wird mit «Che fare?» einen Sommer lang die Arte Povera gefeiert und ein bisschen auch das Museum selber. Das Museum wird 10 Jahre alt, die Arte Povera ist ein paar Jahrzehnte älter, hat aber an Relevanz für die aktuelle Zeit nichts eingebüsst. Vor über vierzig Jahren begannen einige Künstler in Norditalien die Poesie einfacher, alltäglicher Gegenstände zu entdecken und verwandelten sie in sinnlich-schöne, bedeutungsvolle Werke. So unauffällig die Ausgangsmaterialien der Arte Povera, so gross, so gewichtig ihre Themen: Zeit, Erdgeschichte, Alchemie und allem voran Energie. Sie liegt allem zugrunde, sie durchströmt die Welt und das Leben, sie verändert, fliesst, bewegt. Sie steckt im Kopfsalat, der sich zwischen Steine spreizt, sie steckt in der riesigen blauen Fellspinne, die mit ihren sechs Beinen eigentlich gar keine Spinne ist, sie faucht dem Betrachter als Stichflamme aus einer Blüte entgegen, sie lässt eine Flöte gefrieren, lässt Ziffern und Buchstaben leuchten oder Blei schweben. Das Spektrum der Formensprache ist riesig, dasjenige der Materialien und Farben ebenso: Vom kunterbunten Kleiderhaufen über blitzblanke Spiegel bis zu gelbem Schwefelpulver, von Stahlwollekissen über Kuhhäute bis Kunstrasen, von Papier über Leinwand bis Gips und Marmor reicht die Spannbreite, sogar echtes Brusthaar, Bienenwachs und Tabakblätter werden in höchst ästhetische Kunstwerke transformiert.

Was tun? Wie solch eine Vielfalt präsentieren und den Arbeiten trotzdem gerecht werden? Schliesslich wollten die Arte Povera-Künstler jene Barrieren zwischen Kunst und Betrachter niederreissen, die Museen zwangsläufig aufbauen. Alles, so unterschiedlich es daher kommt, ist in Liechtenstein dicht auf dicht präsentiert. Das ist ein Wagnis, gerade bei so fragilen Werken, doch es hat sich gelohnt, es funktioniert. Distanz wird von vornherein vermieden. Der Besucher ist mittendrin, er wird von der Kraft der Werke eingefangen, er wird immer wieder zu Seitenblicken aufgefordert und immer wieder von Neuem berührt.

Arbeitstitel

Was gehört zu einem gelungenen Ausflug dazu? Schönes Wetter, natürlich. Und ausserdem? Natur, möglichst intakt, Idylle, feines Essen, gern etwas Besonders, Kultur oder sogar Kunst, vielleicht noch eine Dampferfahrt? Zu viele Wünsche auf einmal und für einen Tag? Mitnichten. Das gute Wetter muss man freilich abpassen, aber die Nordseite des Walensees hat ein Klima fast wie am Mittelmeer, und sie hat auch alles andere. Aber der Reihe nach: Mit dem Bus geht’s bis zur Station Lehni und von dort in gemütlichen zwanzig Minuten zu Fuss durch Wald und Feld bis zu einer unscheinbaren Scheune. Sie steht Tag und Nacht offen, es gibt weder Eintrittskarten noch Aufsichten – nur ein Emailleschild mit der Aufschrift «Museum» von Christine Streuli. Hier ist ein Kunstort, ein unerwarteter aus Stein und Holz, mit festgetretenem Lehmboden und Heugeruch. Seit 1999 lädt Kurator Roman Kurzmeyer internationale Künstlerinnen und Künstler ein, hier zu arbeiten. Aktuell hat die St. Galler Bildhauerin Katalin Deer ein Werk eigens für diesen Schober geschaffen: Im Obergeschoss liegt eine massive, dicke Stuckmarmorplatte. Ein grösserer Kontrast ist kaum denkbar. Der strohbedeckte Bretterboden und die hochglanzpolierte Platte. Und wie kam sie durch die viel kleinere Tür? Geheimnisvoll liegt sie im spärlichen Licht. Es fällt durch die Bretterzwischenräume auf die Platte, wird reflektiert und lässt die Farben schillern, erweckt die amorphen Flächen zum Leben. Im Erdgeschoss ein anderer Kontrast: Ein grossformatiges Hochglanzfoto liegt auf den Holzbohlen: eine Aufnahme zweier Stühle, die durch ein reflektierendes Schaufenster hindurch gesehen sind. Sie sind fremd hier und doch auf rätselhafte Weise selbstverständlich. Katalin Deer zeigt einmal mehr ihr besonderes Gespür für Orte, für Architektur und deren Geschichte, für Details und Stimmungen.

Und wer noch Zeit hat für einen Abstecher, der geht zum Haus Schwanden hinauf. Die Schottin Anya Gallaccio hat hier 1999 in Nachbarschaft zum zeitweiligen Wohnhaus des deutschen Malers Baumeister eine Linie aus Apfelbäumen gepflanzt. Wer aber die Äpfel lieber im Kuchen hat, der wendet sich in Richtung Walensee hinunter und kehrt, bevor er in Betlis aufs Schiff steigt, noch im Paradiesli ein. Viel wurde schon geschrieben über die treffliche Übereinstimmung von Namen und Sein, hier kommt nun das Leibliche auf seine Kosten, nachdem das Geistige zuvor verwöhnt wurde.

Vaduz : Che fare? Arte Povera

Was tun? Das Kunstmuseum Liechtenstein ist einer jener perfekten White Cubes, in dem nahezu jedes Werk sublim und damit unerreichbar wirkt. Wie also hier eine Ausstellung zur Arte Povera präsentieren, die aus allernächster Nähe sinnliche und sinnvolle Erfahrungen bieten will?
Das Museum widmet sich der Kernzeit der Bewegung, die eigentlich keine Bewegung war. Es gibt kein Manifest, keine gültige Künstlerliste, keine Zeitbegrenzung. In Vaduz konzentriert man sich auf die Jahre von 1967 bis 1972 und geht von der eigenen Arte-Povera-Sammlung aus – die grösste in öffentlicher Hand nördlich der Alpen. Hinzugekommen sind zahlreiche Leihgaben, darunter auch bisher wenig bekannte Werke. Die grossen Themen der Arte Povera waren: Zeit, Erdgeschichte, Energie und Alchemie. Eines geht ins andere über. Ebenso wenig wie die einzelnen Werke, lässt die Ausstel­lung eine Betrachtung auf Distanz zu. Dicht, direkt auf dem Boden, an der Wand sind die Arbeiten präsentiert. Stets drängen sich Seitenblicke auf, wird das Auge weitergezogen. Schlüsselwerke wie Kounellis‘ feuerspeiende Margarite, Pascalis ultramarinblaue Fellspinne oder Pisto­lettos Tee trinkende Maria fesseln die Aufmerksamkeit, bevor sie von anderen starken Farben, Tönen, Bildern eingefangen wird. Eine Ausstellung voll sinnlicher und geistiger Reize.

Amden : Katalin Deér

Katalin Deér beobachtet Architektur. Sie nimmt Strukturen wahr und Veränderungen, sie untersucht den Charakter eines Gebäudes und seine Präsenz. Die Fotografie ist der Bildhauerin dabei wichtiges Mittel und doch nur ein Detail ihrer künstlerischen Sprache. Immer wieder fallen ihre präzisen, unkonventionellen und durchdachten Lösungen ins Auge. So auch in Amden. Seit 1999 lädt Kurator Roman Kurzmeyer internationale Künstler/innen ein, hier in einer alten Scheune inmitten einer Wiese eine Arbeit zu realisieren. Sie ist als Kunstort bereits bemerkenswert mit ihrem Lehmboden, den durchlässigen Bretterwänden und fensterlosen Öffnungen. Diese spezifischen Bedingungen regen zu besonderen Experimenten an. Katalin Deér zeigt in diesem schlichten Gehäuse eine massive, hochglanzpolierte Stuckmarmorplatte. Hier trifft sich die Lust am überschäumenden materiellen Ereignis mit der auf reine Funktionalität reduzierten Einfachheit. Die Platte wirkt fremd und wird doch vom Raum ganz selbstverständlich aufgenommen. Das diffuse Licht bringt ihre Farben zum Leuchten, erweckt die amorphen Flächen zum Leben. Katalin Deér nimmt den Ort ernst, entdeckt seine Qualität und macht sie sichtbar.

Bunkerbilder, Backsteinmuster

In der neuen Ausstellung in der Galerie Paul Hafner sind Gemälde von Sébastien Mettraux sowie Zeichnungen und Modelle von Valentin Magaro zu sehen. Auf unterschiedliche Weise thematisieren sie Bildräume.

Bunker faszinieren. Sie wirken geheimnisvoll, weil meist verborgen. Sie versprechen ein Überleben im Kriegsfalle auf engstem Raum, ausgestattet nur mit dem Nötigsten, gewappnet gegen Druckwellen und allerlei sonstige Gefährdungen.

Angesichts der spärlich oder gar nicht möblierten, fensterlosen Räume in den Gemälden von Sébastien Mettraux stellt sich rasch die Assoziation zu Bunkern ein. Wände, Böden, Decken, Pfeiler, Unterzüge, alles ist grau in grau gehalten. Nur die Rohrleitungen bringen Farbe ins Spiel, ebenso die gelagerten Container und Boxen.

Ausserdem – und hier beginnt die scheinbar so offensichtliche Deutung zu wanken – die Spiegelungen auf dem Fussboden. Ein blitzblanker Bunkerboden? Rasch wird deutlich, dass es dem 1984 geborenen Künstler gar nicht darum geht, unterirdische Schutzanlagen zu porträtieren. Vielmehr nutzt er die besondere Raumsituation, um kompositorische und perspektivische Untersuchungen zu starten. Er fügt Flächen in minimal variierten Graustufen zueinander und erzeugt Tiefenräumlichkeit. Er lässt Linien stürzen, löst rechte Winkel auf und bringt somit Dynamik in die statischen Räume.

Der Akkuratesse der Architektur setzt Mettraux die beinahe zarten, ephemer wirkenden Reflexionen entgegen. Schatten oder nebeneinander gestellte Gitterbetten münden in Raster- oder Flächenüberlagerungen. Die Atmosphäre des Raumes ist bei Mettraux viel weniger Thema als vielmehr die räumliche Struktur und die Konstruktionsarbeit auf der Leinwand.

Auf den ersten Blick scheinen sie wenig gemein zu haben mit den ebenfalls in der Galerie ausgestellten Werken von Valentin Magaro. Zwar ist auch von dem Winterthurer Künstler ein Bild zu sehen mit einem spannungsvollen Innenraum – der jedoch noch viel weniger zu deuten ist. Die Linien fallen endlos in die Tiefe, Schreine und Säulen sind keiner Funktion zuordenbar. Der Hintergrund driftet ins Unendliche ab. Dominant sind ausserdem die rätselhaften Gestalten: eine Frau, die scheibenartige Seifenblasen in die Luft pustet, Heuschreckenfrauen, die an Science-Fiction-Figuren und in ihrer Reihung an die Musikvideo-Ästhetik der 1990er-Jahre erinnern.

Von all dem hat sich Magaro inzwischen gelöst – dieses Gemälde ist bereits sechs Jahre alt. Die aktuellen Werke des Künstlers wirken deutlich subtiler, auch wenn sie zum Teil nah an der Realität bleiben. Besonders ins Auge fällt etwa eine dreiteilige Zeichnungsserie einer Frau in sexueller Pose. Die Dargestellte ist einzig durch ein Strichnetz visualisiert, nicht einmal Konturen sind nötig. Die bis auf den Millimeter genau gesetzten Linien bilden in ihrer geometrischen Präzision ein kalkuliertes Gegenteil zur Vitalität des Sujets.

Besonders bemerkenswert bei Valentin Magaro: In einer Zeit, in der es gang und gäbe ist, dass sich Künstler aus dem immer grösser werdenden Fundus der medialen Bildwelten bedienen, schöpft der Künstler sein gesamtes Motivrepertoire entweder aus der eigenen Phantasie oder arbeitet nach dem lebenden Modell. Dass dennoch immer wieder Bekanntes aufzutauchen scheint, liegt am kollektiven Bilderschatz. Oder wie es Magaro nennt: der permanenten Beeinflussung. In dieser Vielfalt sieht sich der Künstler als Regisseur, der Ordnung ins Chaos bringt oder zumindest eine Choreographie entwickelt. Versatzstücke, Fragmente werden spielerisch kombiniert, und so wird hier wie bei Mettraux letztlich Konstruktionsarbeit verrichtet. Sogar bis in den dreidimensionalen Raum hinein. Magaros Modelle aus Papier mit ihren backsteinhaften Liniennetzen, fensterlos und blockhaft, wirken in dieser Doppelausstellung wie eine Brücke zwischen beiden Positionen.

Wolkeneisberg auf dem Wasser

Stefan Rohner zeigt zum Auftakt der Serie «Rendez-vous Ostschweizer Kunstschaffender» aktuelle Arbeiten im Kornhaus Rorschach. Der St. Galler Künstler untersucht dabei das ästhetische Potenzial von PET-Abfall.

rorschach. Sanft schaukelnd treibt eine transparente Wolke auf dem Wasser. Sie geht nicht unter, sie löst sich nicht auf, sie steigt nicht empor. Sie ist einfach da, bewegt durch Wellen und Wind, begleitet von sphärischen Klängen.

Stefan Rohners jüngste Videoarbeit ist ebenso poetisch wie einfach, ebenso real wie rätselhaft. Der Ausgangsstoff ist wenig exotisch: transparente, zusammengeklebte PET-Verpackungen.

Was primär als Abfallproblem wahrgenommen wird, hat durchaus ästhetische Reize: PET lässt sich in nahezu jede Form bringen, ist leicht, farblos und lichtdurchlässig. Die Transparenz der schwimmenden Skulptur trifft sich mit jener des Wassers. Transformiert in eine Videoaufnahme kann sie der Betrachter sogar unter dem Wasser beobachten. Langsam wurde sie mit der Kamera von allen Seiten aufgenommen, aus der Ferne betrachtet und herangezoomt, bis ins Innerste hinein fokussiert und schliesslich geloopt.

Aktuell treibt das PET-Objekt im Rorschacher Kornhaus im Rahmen einer Ausstellung des Vereins Kultur-Frühling Rorschach – gegenüber der Projektionsfläche öffnen Fenster den Blick zum wenige Meter entfernten Bodensee. Damit noch nicht genug, die Leinwand selber gehörte Stefan Rohners Onkel, der als Schiffsfotograf auf der Hamburg-Amerika-Linie die Reisen dokumentierte und auf eben jener Leinwand seine Vortragsbilder zeigte. Gar nicht so unwahrscheinlich also, dass hier bereits richtige Eisberge projiziert wurden, bevor nun Rohners eisberggleiche Skulptur hier zu sehen ist.

Es sind zahlreiche derartige Bezüge, die sich aus den Arbeiten ergeben. Und so ist denn auch der Haufen aus weissen Luftballons in weissen Plastiksäcken viel mehr als eine Kumulation eben dieser Dinge. Mühelos verwandelt er sich zu einem knisternden Berg aus Schneebällen, der in seiner Präsenz selbst neben der grossformatigen, tönenden Projektion besteht. Überhaupt ist das Spiel mit den Medien, die Überblendung der Ebenen ein Thema im Werk Stefan Rohners.

So existiert eigentlich jedes Werk in mehreren Phasen, beginnend mit seiner Herstellung, die dem St. Galler Künstler nicht als reiner Akt des Machens gilt, sondern als Schöpfungsprozess wichtig ist. Nur so lässt sich das Material erfahren und transformieren. Dann gibt es die Phase der Installation und Aufnahme, wenn etwa der Mantel in einem Raum in Szene gesetzt und fotografiert wird oder die PET-Wolke im See baden darf. Schliesslich jedoch die fertige Arbeit, die wiederum das Objekt auf adäquate Weise präsentiert. Eine Spezialität von Rohner sind in Skulpturen verwandelte Monitorarbeiten. Und so flimmert auch im Kornhaus ein Video aus einer Röhre mit Silberfolie heraus. Alles in allem ist hier auf kleinem Raum ein homogenes ästhetisches Konzept in grosser medialer Vielfalt zu sehen.