Die Ordnung der Dinge
by Kristin Schmidt
François P. Boué arbeitet einen Sommer lang als Gastkünstler im Sitterwerk. Der New Yorker untersucht vergängliche oder nicht realisierte Architektur. Dabei legt der feinsinnige Beobachter einen Fokus auf die Schweiz.
François Boués Schreibtisch im Gastatelier des Sitterwerks: Ein kleiner Tisch, nicht einmal einen Quadratmeter gross, und dennoch fällt er ins Auge. Hier liegt jedes Ding auf besondere Weise an seinem Platz. Der Stift, der Schreibblock, die Speicherkarte, der Klapprechner. Vier kleine Kieselsteine auf der rechten oberen Schreibtischecke wirken ebenso sorgsam plaziert wie die Videokamera.
Wer François Boué beobachtet und sich im grossen Atelierraum umsieht, merkt rasch, hier arbeitet nicht einer, der aufräumen muss oder pedantisch für Ordnung sorgt, sondern einer, dem die Dinge wichtig sind. Nimmt Boué etwas in die Hand, dann behandelt er es achtsam. Auf ganz selbstverständliche, lebendige Art zollt er den Dingen, die ihn umgeben und mit denen er sich umgibt, Aufmerksamkeit. Das gilt für seine Arbeitsmaterialien genauso wie für seine künstlerischen Themen. Unscheinbares hat es ihm angetan, Vorübergehendes oder Unfertiges. Vielleicht, weil sich gerade hier die wahren Entdeckungen machen lassen.
Da ist beispielsweise die Wand mit Aufnahmen des Padiglione d’Arte Contemporanea von Ignazio Gardella. François Boué nähert sich dem Bauwerk, indem er es wieder und wieder ablichtet, die Fotografien in verschiedener Grösse unterschiedlich gruppiert. Er lenkt den Blick auf Details und spürt dadurch dem Gesamtcharakter des Gebäudes, der Qualität der Architektur nach.
Schrittweises Herantasten und wiederholtes Untersuchen sind wichtige Aspekte der Arbeit des seit 18 Jahren in New York lebenden Künstlers: «Manchmal gehe ich immer wieder an einen Ort. Ich begehe die Situation. Ich will näherkommen. Es ist wie beim Filmen mit verschiedenen Einstellungen.»
Doch mitunter existiert das Objekt seines Interesses nicht, oder nicht mehr als gebaute Architektur. Denn gerade die ephemeren Dinge faszinieren ihn. So studierte er etwa die Literatur zum Wettbewerbsprojekt «Urschweiz» von Eduard Zimmermann und Nikolaus Hartmann, einem zu Beginn des 20. Jahrhunderts geplanten Nationaldenkmal in Schwyz, oder zur Cementhalle, die Maillart 1939 für die Landesausstellung schuf. Mit Skizzen, Zeichnungen, Fotokopien und dreidimensionalen Miniaturnachbauten aus Pappe erweckt Boué die alten Projekte zum Leben.
Überhaupt die Pappe: Selten ist diesem Material so viel ästhetischer Wert abgewonnen worden. Selbst, wenn der Künstler einfach nur einen hellen Karton vor einem etwas grösseren, etwas dunkleren plaziert, ist dies eine Setzung, die ins Auge fällt. Dies liegt einerseits an der Präzision, mit er zu Werke geht, und andererseits an seiner bewussten und doch unbefangenen Art. Dies gilt für das schwarze Papierquadrat an der Wand genauso wie für die kleinen Klebebandkreuzchen, die jene Fotografien an der Wand halten, die für Boué «Denkbilder» sind. Oder für die Zeichnungen mit weissem Stift auf schwarzem Papier: François Boué zeichnet sie im Dunklen, und so erinnern sie in ihrer Reduktion zwar an technische Zeichnungen, bleiben jedoch stets auf subtile Weise lebendig und offen.
Seit zwei Monaten ist Boué nun schon im Sitterwerk, und viel ist bereits entstanden. Dass auf Schweizerischem ein besonderer Fokus liegt, hat aber nicht nur mit seinem aktuellen Arbeitsplatz zu tun: «Die Schweiz liegt immer auf dem Weg von Amerika nach Europa. Schon als ich sieben war, kam ich regelmässig mit meinen Eltern her.» Boué, Kind italienisch-französischer Eltern und in Deutschland geboren und aufgewachsen, kann mit diesem Atelieraufenthalt nun also vertiefen, was ihn lange schon begleitet. Und ob es frühe Flachdachhäuser in Davos, Betoneinbauten im Zürcher Bahnhof, Maillart-Bauten oder der geplatzte Traum vom Nationaldenkmal ist: Boué ist ein feinsinniger Beobachter, der selbst hiesigen Architekturfreunden noch so manchen lohnenswerten Blick vermitteln kann.