Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Weiss ist nicht gleich weiss

Die aktuelle Ausstellung in der Galerie Paul Hafner zeigt Werke von Tobias Pils. Der österreichische Künstler lässt neu in seinen Gemälden Motivisches anklingen und ist sich dennoch treu geblieben.

Die Malerei von Tobias Pils ist aus der Zeichnung geboren. Noch vor wenigen Jahren arbeitete der österreichische Künstler mit Tusche und Bleistift auf Papier. Mit dem Wechsel auf die Leinwand kam dann zunächst Farbe als Material hinzu, aber der Bleistift blieb. In den aktuellsten Werken nun, ausgestellt in der Galerie Paul Hafner, spielt die Bleistiftlinie kaum mehr eine Rolle – und doch ist sich Tobias Pils treu geblieben.

Der Künstler denkt sehr stark in Räumen. Ob mit Bleistiftlinien oder Pinselstrichen konstruiert – die Bilder werden in Schichtungen entwickelt. Die Ebenen verschränken sich, lassen Durchblicke zu oder halten den Blick im Vordergrund. Ein wichtiges Element ist dabei stets die Fläche. Sie kann als grosse schwarze Form alles darunter Liegende verdecken oder alles offen lassen; dann nämlich, wenn der grundierten Leinwand ein wichtiger Platz im Bild zugewiesen ist.

Immer finden sich Liniengewebe, Netze oder Raster in einem spannungsvollen Gegensatz zu schwarzen, grauen oder weissen Flächen. Diese sind jedoch bei weitem nicht monochrom. Im Schwarz lassen sich Grautöne entdecken. Das Weiss der Grundierung wird mit einem noch weisseren Weiss übermalt. Das Grau lebt von Farbnuancen.

Die Zwischentöne sind ein Grund, warum sich Tobias Pils der Malerei zugewandt hat. Ein anderer ist der Charakter des Pinselstriches selbst. Es geht dabei nicht um den Duktus, sondern um die Form, die Art der erzeugten Linie. Wenn Pils beispielsweise weisse Striche auf die weisse Grundierung setzt, so wahrt er bewusst den Anschein des Überarbeitens. Fast sieht es aus, als habe er mit Korrekturflüssigkeit versucht, frühere Schichten des Bildes zu tilgen. Und so wie auf dem weissen Briefpapier die Korrekturfarbe verräterische Spuren hinterlässt, ja geradezu aufmerksam macht auf den übertünchten Fehler, lenkt Pils mit der rasch und nur scheinbar ohne Präzision gezogenen Linie den Blick bewusst auf ausgewählte Stellen. Dies sind jedoch nicht unbedingt die Punkte, an denen der Blick sonst haften würde. Er liesse sich vielmehr von den Motiven bannen, die neu in den Gemälden auftauchen.

Aber sind es wirklich Motive? Sind jene Kreise etwa Bälle oder sind es Trauben, oder doch nur abstrakte Ornamente? Überhaupt arbeitet der Künstler virtuos mit Ornamenthaftem, es wird nie dekorativ. Regelmässigkeiten bleiben scheinbar zufällig und selbst Symmetrien werden um ein winziges Moment verschoben und sind somit keine mehr.

Bei Tobias Pils scheint Bekanntes auf – und wird doch wieder als Täuschung entlarvt. Hier wirkt auch des Künstlers Verzicht auf die Farbe, denn wäre jene stachelige Form grün, wäre sie ein Kaktus, ein Gelb oder Rot machte eine Explosion aus ihr, ein Blau eine Fontäne. Doch das bleibt Spekulation. Der Betrachter selbst ist es, der die Farbe hinzudenken kann.

Das Schwarzweissfernsehen ist längst Geschichte, doch wer es noch kennt, weiss, wie leicht sich Farbe vorstellen lässt, ja wie sie aufgrund der Seherfahrung automatisch dazu addiert wird – auch wenn sich dann bei der Umstellung aufs Farbfernsehen zeigte, dass die Augen der Lieblingsmoderatorin blau und nicht grün waren. Solche Enttäuschung bleibt dem Betrachter bei Pils erspart. Sie können nach Belieben im Kopf koloriert werden. Bewusst lässt der Künstler vieles offen, und bietet Projektionsflächen für individuelle Entdeckungen an.

Tanz um Tisch und Stuhl

Beatrice Im Obersteg zeigt in der Grabenhalle ihr aktuelles Stück «endlos». Es ist bereits das fünfte Tanztheater, das gemeinsam mit dem Perkussionisten Markus Lauterburg entstanden ist.

Eines ist einsam, zwei sind ein Paar, bei dreien ist eines zu viel, bei vieren nicht, und fünf sind eine Menge. So und immer weiter liesse sich die Geschichte spinnen. Erzählt wird von Beatrice Im Obersteg mit ein paar Holzklötzchen zu Beginn ihres aktuellen Stückes «endlos».

Endlos sind die möglichen Konstellationen. Und was im Kleinen als Spiel auf einem Tisch beginnt, setzt sich im Grossen fort. Im Oberstegs Requisiten sind neben Hunderten kleiner Holzklötze einzig ein Tisch und zwei Stühle. Dies reicht aus, um verschiedenste Beziehungsgeflechte und ihre Auswirkungen in getanzte Bilder zu übersetzen und beinahe nebenbei noch harmonische Farb- und Materialstimmungen zu erzeugen.

Die 1970 in St. Gallen geborene Tänzerin und Choreographin lässt die Möbel agieren. Ganz gleich, ob Tisch oder Stuhl, kann es einengen, zwingen oder stützen, kann es Fessel, Bürde oder Podest sein. Der Interpretationen sind unzählige und es bereichert den Blick, dass die Möbel weder geschlechter- noch personenspezifisch daherkommen.

Die Entwicklung von wirkungsvollen Bildern ist die eine Stärke von Beatrice Im Obersteg. Da wird selbst das viel gebrauchte «zwischen den Stühlen sitzen» nicht platt, sondern zum vielschichtigen Beziehungsspiel. Eine andere Stärke ist Im Oberstegs ganz besondere Körpersprache. Sie wechselt zwischen expressiver und minimalistischer Bewegung. Ob ausholendes Kreisen oder einem Metronom gleichendes Pendeln – Im Obersteg bewegt sich mit höchster Präzision und gleichzeitig verblüffender Leichtigkeit. Selbst dann, wenn sie den Tisch mit scheinbar grösster Anstrengung über die Bühne in der Grabenhalle zieht, als sei es das Schiff der Repinschen Wolgatreidler, wirkt dies anmutig. Ja sogar noch, wenn sie einen Tisch erklimmt, sieht das wie Tanz aus, nicht wie Turnen.

Mittlerweile bereits bewährt ist die Zusammenarbeit Im Oberstegs mit dem Musiker und Komponisten Markus Lauterburg. Sie währt seit 2006. Auch «endlos» lebt ganz wesentlich vom Zusammenklang von Tanz und Musik. Der 1974 in Bern geborene Perkussionist liefert weit mehr als eine musikalische Folie. Die Töne beeinflussen den Tanz und dieser die Musik. Immer wieder verwandelt Lauterburg sein Rhythmus- in ein Melodieinstrument.

Beide Gattungen werden aufs engste miteinander verwoben, und auch der Tanz selbst klingt, etwa wenn Im Obersteg die Klötzchen klackern lässt. Diese wiederum sind weit mehr als Spielzeug oder Geräuschkulisse, tragen sie doch nicht unwesentlich dazu bei, den Raum optisch zu strukturieren. Mit einfachsten Mitteln gelingt es Im Obersteg und Lauterburg mit «endlos», ein die Sinne in vielerlei Hinsicht anregendes Stück zu entwickeln.

Starke getanzte Bilder

Seit dem Jahr 2000 organisiert die IG-Tanz die «Querschritte». Die Plattform für zeitgenössisches Tanzschaffen präsentiert in der Lokremise fünf sehr unterschiedliche choreographische Arbeiten.

Mittlerweile ist es zu einer Tradition geworden: Im Herbst lädt die IG-Tanz Ostschweiz zu den «Querschritten» ein. Wie immer gibt es dabei sehr Unterschiedliches, Anregendes und Gutes zu sehen; wie immer gibt es kein gemeinsames Thema, sondern es sind fünf unabhängige Eigenproduktionen zu sehen. Die Tänzerinnen und Tänzer präsentieren Kurzstücke und Arbeitsausschnitte, die sich durchaus noch zu abendfüllenden Choreographien entwickeln können.

Den Anfang macht die gebürtige Bernerin Daria Gusberti mit «Off.on/stage», einem Stück, das sich auf zwei Ebenen abspielt. Da ist zum einen die real existierende, durch die physische Präsenz der Tänzerin vermittelte Welt, und zum anderen ist da die Gedankenwelt, ist das Immaterielle, sind sehr persönliche Berichte, übermittelt durch das gesprochene Wort. Erzählt werden Fragmente eines Lebens oder vielmehr mehrerer Leben. Aber wer ist anwesend, wer abwesend, wen spielt Gusberti? Die Tänzerin lässt alles offen, wechselt die Identitäten und visualisiert beinahe nebenbei in Bewegungen und Worten eine Grammatik des Tanzes.

Ein jeder Teilnehmer der «Querschritte» hat seine besondere Stärke; so wie es bei Daria Gusberti die Sprache zum Tanz ist, sind es bei Wilfried Seethaler, geboren in Salzburg, die gesunde Portion Selbstironie und der Witz, die in seinem Stück «Steinerweichen» mitschwingen. Seethaler widmet sich der Begegnung von Mensch und Berg. Er rennt an, fällt, schaut, schätzt Richtung, Entfernung, Dimension und zeigt eindrücklich eine schwierige Annäherung: Was macht der Mensch in den Bergen? Was macht der Berg mit dem Menschen?

Viel weniger konkret wird es bei Tanja Büchel, aufgewachsen im appenzellischen Wald, wohnhaft in Winterthur. Auf einem hohen Podest, in einem schmalen Lichtkegel entwickelt sie minimalistische, aber nichtsdestoweniger eindrucksvolle Körperbilder – und zeigt, wie wenig es braucht, um eine überzeugende tänzerische Aussage zu formulieren. Dieser Eindruck verwischt sich allerdings etwas im zweiten Teil ihrer Choreographie. Sie wie auch Gusberti und Seethaler könnten noch stärker auf die Kraft der reduzierten Sprache vertrauen. Nicht alles, was gesagt oder eben tänzerisch formuliert werden kann, muss auch auf der Bühne gezeigt werden, um ein stimmiges Stück zu entwickeln.

Wie dies im positiven Sinne funktioniert, zeigt Stefanie Grubenmann: Umgeben von einigen Dutzend mit Wasser gefüllten Gläsern, beginnt die Tänzerin und Performancekünstlerin mit rhythmischen, sich wiederholenden Gesten und Geräuschen. Beinahe zwanghaft, dann ekstatisch bis zur Erschöpfung, erinnern sie an ritualisierte Handlungen und sind tatsächlich das Vorspiel zu einem beschwörenden Duett von Mensch und wassergefülltem Glas.

Zum Abschluss des Abends steigert sich das Tempo: «Die Sitzung» der FAA-Zone Tanzkompanie Winterthur (Andrea Benz-Bandschapp, Alex Hobé und Anja Zweifel) thematisiert in wechselndem Rhythmus und mit gleichbleibender Dynamik die Beziehungsgeflechte, Konfrontationen und Abhängigkeiten im Arbeitsalltag. Zu dritt, zu zweit, alleine – es wird taxiert, gerangelt und gearbeitet. Mechanisch ausgeführte Bewegungen kontrastieren mit fliessenden Übergängen, dem Kampf am Tisch, dem abgesehen von weissen Masken einzigen Requisit, folgen raumgreifende Schrittfolgen.

So heterogen die Tanzstücke auch sind, eines verbindet sie: Es werden starke Bilder erzeugt, und zwar nicht nur auf der Bühne, sondern auch in den Köpfen der Zuschauer. Sie bieten eine Projektionsfläche für Erinnertes und Erlebtes und wirken so noch lange nach.

Gezeichnete Vielfalt

Die Ausstellung «8 × Zeichnung» zeigt eine konzentrierte Auswahl an aktuellen Arbeiten, die das Spektrum der zeichnerischen Ausdrucksmöglichkeiten verdeutlichen.

Es wird wieder gezeichnet, und das Gezeichnete wird wieder gezeigt. Einige Jahrzehnte lang war diese künstlerische Gattung beinahe zur Randerscheinung verkommen, Künstler zeichneten zwar noch, aber Video, Objekt und Malerei dominierten eindeutig das Gesamtbild. Die Zeichnung war als Skizze, als Gedankennotation nützlich, wurde aber selten als eigenständiges Medium eingesetzt.

Seit einigen Jahren nun ist die Zeichnung verstärkt präsent, sowohl in grossen Ausstellungen wie auf den internationalen Kunstmessen. Auch in St. Gallen gab es in der jüngeren Vergangenheit so einiges an guten Zeichnungen zu sehen, so sei beispielsweise erinnert an Bethan Huws Arbeiten auf Papier im Kunstmuseum St. Gallen oder an Wesley Willis und Ingo Giezendanner in der Kunsthalle, oder im Nachbarkanton an die Gruppenausstellung «Dessine-moi un mouton!» in der Kartause Ittingen. Und gerade erst zu Ende gegangen ist die «Die Welt im Hirn. Eine Expedition ins Universum der Notizen und Skizzen» in der Propstei St. Peterzell.

«8 × Zeichnung» ist in der Reihe Kultur im Bahnhof der Klubschule Migros St. Gallen zu sehen. Mit dabei sind die St. Galler Walter Angehrn, Elvira Disler, Lika Nüssli, Lucie Schenker und Michèle Thaler, der Zürcher Leo Brunschwiler, Katharina Henking aus Winterthur und Daniela Rütimann aus Luzern. Richard Butz hat diese Auswahl nach ganz persönlichen Kriterien getroffen und dabei gleichzeitig ein grosses Spektrum an zeichnerischen Ausdrucksmöglichkeiten ausgesucht. Den Einstieg liefern Daniela Rütimann und Lika Nüssli mit grossformatigen Blättern, auf denen es spriesst, wogt und menschelt: riesige Blumen, winzige Elfen, Wasserpflanzen mit Schuhblüten, übergrosse Echsen, dazwischen Paare, Einzelfiguren und Schrift. Wer genau hinsieht, entdeckt innerhalb der Darstellungen, dass sich hier offensichtlich zwei verschiedene Stile zueinanderfinden. Tatsächlich arbeiten Nüssli und Rütimann stets zusammen auf einem Blatt. Sie erzählen sich gegenseitig ihre Geschichte weiter, die wiederum für jeden Betrachter anders verläuft, je nachdem, von welchen Bilddetails er sich gefangen nehmen lässt. Im Vergleich zur Bildfülle bei Nüssli und Rütimann wirken Katharina Henkings Zeichnungen geradezu leer und still, und doch stecken auch sie voller Geschichten. Henking spielt mit Ornamenten, Dimensionen und Figuren, deutet an, lässt vieles vage. Auslassungen fordern den Betrachter unaufdringlich auf, selbst weiterzudenken.

Während diese drei Künstlerinnen narrativ arbeiten, verfolgen die Werke von Lucie Schenker, Leo Brunschwiler oder Walter Angehrn einen konzeptionellen Ansatz, der seriell untersucht wird. Gleichzeitig steht hier die Frage im Raum, was ist überhaupt Zeichnung und was wäre der Malerei zuzuordnen. Schenker beispielsweise zeichnet Variationen von gestrichelten Rastern mit Bleistift auf pastellfarben grundierte Leinwand – ein wirkungsvoller Kontrast zwischen mathematischer Präzision und von Hand gezogener Linie. Brunschwiler arbeitet sich mit Öl auf Transparentfolie an einem Baum ab und Angehrn setzt Fläche gegen Linie mit Bleistift, Pigment, Dispersion und Öl auf Papier. Die Grenzen zwischen den Gattungen sind bei allen dreien fliessend und werden von den Künstlern bewusst gesucht oder überschritten.

Michèle Thaler hingegen zeigt neben kleinen Tuscheformaten grossformatige Zeichnungen, die sogar den dreidimensionalen Raum besetzen. Indem sie die Leerstellen einer an Samenkapseln erinnernden Struktur ausschneidet, wirkt sie in den Raum vor und hinter dem Bild hinein.

Die klassisch anmutenden Kugelschreiberporträts und Stillleben von Elvira Disler runden die Vielfalt der Ausstellung ab.

Himmel als See

Marianne Rinderknecht ist zum drittenmal mit ihren Arbeiten in der Galerie Hafner präsent. Darunter ist diesmal ein grosses Wandgemälde, mit dem die St. Galler Künstlerin neue Wege beschreitet.

Blüten, Ranken, Sprosse, Blätter – mit diesem vegetabilen Vokabular und seinen formalen Abwandlungen hat Marianne Rinderknecht ein stattliches Œuvre entwickelt. Doch spätestens seit der rosafarbenen Kartonwand in Katharinen ist klar, dass die St. Galler Künstlerin gern die bekannten Wege verlässt, ausprobiert und zu spannenden Neuschöpfungen findet. Das zeigt sich jetzt wieder in der aktuellen Ausstellung bei Paul Hafner.

Bereits für ihre erste Ausstellung in dieser Galerie hatte Rinderknecht eigens ein riesiges Wandgemälde geschaffen. Nun ist neben Tafelbildern wieder ein Wandbild zu sehen, und doch ist alles anders.

Eine riesige hellblaue Fläche erstreckt sich über zwei Galeriewände – ganz ohne Pflanzenmotive, dafür mit gesprayten weissen Farbkreisen an einer Stelle. Es herrscht der völlige Verzicht auf Gegenständliches, und doch wird Vertrautes evoziert; so beginnen mit der Betrachtung unwillkürlich die Deutungsversuche: Ein See? Ein Stück Himmel? Doch wäre ein See gemeint, wären die wie Kondensstreifen wirkenden Kreise fehl am Platz, wäre Himmel gemeint, wäre die Kontur der Fläche rätselhaft.

Marianne Rinderknecht unterwandert alle Wahrnehmungsmuster. Zugleich spielt sie mit den Grenzen zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Während die blaue Fläche zwar abstrakt ist und doch etwas Gegenständliches darzustellen scheint, ist es bei dem daneben ausgestellten Gemälde genau umgekehrt. Es entführt den Betrachter in die von Rinderknechts Arbeiten vertraute Welt der Botanik. Blumen spriessen in grellleuchtenden Farben, dazwischen Blätter und Ranken.

Doch je länger man das Werk betrachtet, desto mehr Irritationen stellen sich ein. Zwischen einzelnen Bildelementen fehlen Verbindungsstücke. Andere wirken wie horizontal beschnitten. Im Kontrast zu diesen exakt konturierten Formen stehen wieder die gesprayten Schleifen und Schlaufen. Sie fügen sich zu Mustern, die in ihrer Form und Anordnung kaum noch Anleihen in der Natur nehmen. Überdies spielt die Künstlerin mit den Bildebenen – mal sind die Muster im Vordergrund, dann wieder werden sie von den Pflanzenelementen überschnitten. Rinderknecht widmet sich mit ihren aktuellen Werken einem neuen Thema: Während bislang das Sujet und das Spiel mit Wahrnehmungsmustern im Vordergrund stand, wird nun die Malerei, das Medium selbst, untersucht und kompositorisch ausgereizt.

Das gilt auch für das zweite grossformatige Tafelbild in der Ausstellung. Versatzstücke aus der Pflanzenwelt spielen nur eine untergeordnete Rolle. Wie barocke Ornamente begrenzten sie eine weisse und eine braune Fläche im Bild, doch zunächst fällt der Blick auf rote, gesprayte Dreiecke und zwei Zierformen in Pink und Violett. Auch hier drängen sich gegenständliche Bezüge auf, doch alles bleibt vage und wird von der tatsächlichen Form der gemalten Elemente überlagert. Viel länger als ihre früheren Gemälde fesseln die aktuellen Werke die Blicke, lenken sie und belohnen die Aufmerksamkeit mit gutgesetzten Details und überraschenden Motivkombinationen und entziehen sich doch jeder Deutung

Etwas näher am bereits Bekannten bleibt Marianne Rinderknecht mit einer Serie von sechs kleinerformatigen Bildern, die vor himmelblauem Hintergrund mit weiss gespraytem Lichtfleck weisse, halbtransparente Schleifenmuster zeigen, akzentuiert von roten Punkten. Spitzendeckchen, Blütenblätter, Blutstropfen, Perlenschnüre, Seifenblasen – der Assoziationen sind viele.

Es wird auch weiterhin spannend bleiben, Rinderknechts Werk zu verfolgen. Der neueingeschlagene Weg bietet sicherlich noch einige Möglichkeiten zur künstlerischen Auseinandersetzung – und vielleicht bleibt auch ihr Ausflug in den dreidimensionalen Raum nicht nur eine einzelne Episode in ihrem Werk.

Kunst aus Sardinien

Galerist Francesco Bonanno zeigt mit dem siebten «Interscambio culturale» in der Macelleria d’arte eine persönliche Auswahl mit unterschiedlichsten Arbeiten von zehn sardischen Künstlerinnen und Künstlern.

Sommerliches Badewetter vermag fast jeden ins oder zumindest ans Wasser zu locken. Ob See, Weiher, Schwimmbad oder Planschbecken – Hauptsache nass. Dass es aber auch mal im Trocknen geht, ist derzeit in der Macelleria d’arte zu sehen; aalt sich doch dort hinter dem grossen Schaufenster eine Schöne im Leuchtkasten zwischen glitzernden Glassplittern. Eine Badehaube hat sie auf und ein leeres Rotweinglas in der Hand. Ihr Lachen ist schon sichtlich vom Alkohol geprägt.

Wer ist die Dame? Ein Partygirl? Wohl kaum mit so einer Badehaube. Eine ausgelassene Hausfrau? Auch nicht sehr wahrscheinlich. Eine geniesserische Pensionistin? Zu jung. Irgendwie lässt sie sich in keine Schublade einordnen. Gezielt unterwandert Francesca Pili mit ihrer Terracottaskulptur die Klischees und setzt ein Bild voller Lebensfreude dagegen. Ganz anders wirkt dagegen ihre ausgestellte Gliederstoffpuppe mit austauschbaren Masken mit verweintem Make-up. Der Körper ist zum Objekt geworden, die Maske kein Gesicht, und die Hysterie ist aufgesetzt.

Pili ist eine der zehn Künstlerinnen und Künstler, die im Rahmen des 7. «interscambio culturale» nach St. Gallen eingeladen hat. Diesmal ging Francesco Bonannos Reise nach Sardinien. Doch der Herkunftsort ist auch schon die grösste Gemeinsamkeit der Eingeladenen. Die Ausstellung zeigt ein sehr heterogenes Bild. Neben Pilis Auseinandersetzungen mit der Weiblichkeit und den Geschlechterstereotypen fällt beispielsweise Chiara Demelios Serie «Beautiful Garden» ins Auge. Die farbenfrohen Gemälde sind auf den ersten Blick harmlose Blumenporträts, auf den zweiten entfalten sie eine hohe suggestive Kraft. Rose, Passionsblume und Orchidee offenbaren sinnliches Potenzial und erinnern nicht zuletzt daran, dass Stempel, Staubblätter und Griffel Fortpflanzungsorgane sind.

An der Stirnwand der Galerie zieht eine Porträtserie von Ermengildo Atzori die Blicke an. Aus dunklem Hintergrund tauchen Gesichter hervor in erdigen, gelben Tönen, sie wirken wie Inseln im Schwarz, unterstützt wird dieser Eindruck durch die körnige Oberfläche. Tatsächlich verwendet Atzori Erden und Metalle, die durch Oxidationsprozesse eine beinahe reliefhafte Struktur entwickeln. Aber auch Kunststoffe gehören zu seinen Werkstoffen wie die präsentierten Plastiken zeigen. Überhaupt ist das Spektrum der Materialien und Gattungen gross in der Ausstellung. Da sind etwa Roberto Serras Metallbilder, Domenico D’Orsognos malerisch überarbeitete und nochmals abgelichtete Fotografien oder die auf Video aufgezeichnete Musik-Text-Performance von Isella Orchis und Cristina Maccioni.

Ebenfalls ein Video zeigt Francesco Meloni, doch hier funktioniert es in Kombination mit Malerei. Grossstadtimpressionen begleiten die Transformation einer Frau, bis sie eins wird mit dem Wasser – hier schliesst sich der Kreis der Ausstellung. Nicht unerwähnt bleiben sollen die Arbeiten aus dem Bereich der angewandten Kunst von Gian Giuseppe Pisuttu und Anna Maria Baldinu. Sie deuten die traditionelle Tracht der Sarden neu und verjüngen sie mit sorgfältig inszenierten Details. Es entstehen aufregende Silhouetten, breite Gürtel mit vergitterten Motiven der sardischen Königsfamilie und ins schier Unendliche verlängerte Kopfhauben. Sie schaffen einen direkten Bezug zur Textilstadt St. Gallen.

Die Welt im Hirn

Notizen und Skizzen in der Propstein St.Peterzell

Odyssee im Stadtraum

Welchen Platz hat und braucht Kunst im öffentlichen Raum?

Endlose Weite. Spärliche Vegetation, Felsen, Sand. Eine Affenhorde frisst, schläft, streitet. In dieser Einöde steht eines Morgens ein schwarzer Monolith. Er bildet den größtvorstellbaren formalen Kontrast zu allem, was ihn umgibt. Hier die schwarze, makellose Fläche, dort Staub und Steine. Hier die klare Gestalt des Quaders, dort die von Wind und Wasser erodierten Formen. Inszenierung kontra Landschaft. Eine Offenbarung im urzeitliehen Weltgeschehen, ein Kontrast, der Aufsehen erregt, in diesem Falle bei den Affen. Was folgt, ist Filmgeschichte: Vom Monolith in Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey» geht eine Kraft aus, die sich auf die Primaten überträgt und sie befähigt, sich eines Werkzeuges zu bedienen.

Einen spektakulären filmischen Zeitsprung von vier Millionen Jahren später erscheint der schwarze Monolith auf dem Mond, ein drittes Mal schließlich auf dem Jupiter. Überall fällt er auf und löst Einschneidendes aus: den erstmaligen Griff nach einem Werkzeug, vier Millionen Jahre später eine neue Suche nach Erkenntnis, gekrönt von einer Wiedergeburt. Was hat das mit Kunst im öffentlichen Raum zu tun?

Der schwarze Monolith ist ein Fremdkörper, er provoziert und fordert auf, die bisherigen Denk- oder sogar Handlungsmuster zu hinterfragen. All das kann und soll Kunst im öffentlichen Raum auch. Sie soll den Raum in verschiedener Hinsicht auf-, be- oder umwerten. Von ihr wird eine soziale Wirkung verlangt. Sie kann funktional ausgelegt sein und Räumen eine neue Richtung geben. Sie kann die Benutzer des Raumes leiten, neue Raumperspektiven und Sichtachsen öffnen, zu Bewegung oder zu Ruhe führen. Sie kann das alles mit einem thematischen Bezug zum Ort verbinden oder repräsentativen Charakter haben. Sie kann als zusätzliche Qualität auch dekorativ sein.

Kunst im öffentlichen Raum also als das ästhetische Heilmittel für die verbaute Stadt mit Imageschaden und sozialen Problemzonen? Und was überhaupt ist öffentlicher Raum? Ist es der Außenraum? Ist es der für jeden zugängliche Raum? Der Raum, der alle angeht und somit ein gemeinsames Gut ist? Oder ist es der Raum in staatlicher Hand? Es wäre einfach, davon auszugehen, öffentlicher Raum sei der nicht-private Raum. Doch beispielsweise auf die in letzter Zeit mehr und mehr Bedeutung erlangenden «Gated Communities», umzäunte, videoüberwachte und gesicherte Wohnanlagen, trifft diese Definition nicht mehr zu. Über Jahrhunderte hinweg waren Straßen und Plätze öffentliche Räume mit sozialer, politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Hier fand die Kommunikation der Gemeinschaft statt. Mittlerweile sind die Massenmedien der Platz der öffentlichen Kommunikation, und der öffentliche, für jeden zugängliche Raum dient der privaten Unterhaltung und wird zunehmend privatisiert. Das beginnt bei den Bahnhöfen und führt bis hin zu von Sicherheitsunternehmen kontrollierten Einkaufszonen oder der Überwachung von Straßen und Plätzen durch Videokameras privater Firmen. Der Staat wiederum definiert bestimmte stark frequentierte öffentliche Orte als «gefährlich» und behält sich vor, Platzverweise auszusprechen. Private Unternehmer möblieren den öffentlichen Raum – freilich im Rahmen der gesetzlichen Regelungen, aber immer im Sinne des eigenen Interesses. Überhaupt ist der öffentliche Raum von sogenannter Sekundärarchitektur geprägt. Dies beginnt bei Wartehäuschen, Sitzbänken und Signalanlagen und endet bei Abfallbehältern und Beleuchtung. Unter der Annahme, dass die Gestalt des öffentlichen Raumes Symbol ist für gesellschaftliche Normen und Werte, für eine gemeinsame Identität, geben Innenstädte ein recht zweifelhaftes Bild ab. Kunst muss also funktionalen wie gesellschaftlichen Ansprüchen genügen, und sich obendrein in einem heterogenen Miteinander von kommerzieller, sicherheitstechnischer, sozialer und zweckbestimmter Gestaltung behaupten, oder sie bleibt nicht mehr als dekoratives Accessoire, das binnen kurzer Zeit nicht mehr wahrgenommen wird. Die Beispiele dafür sind zahllos: Skulpturen, die niemandem wehtun, und kaum anders wirken als ein Pflanzkübel im Passantengetümmel oder der unvermeidliche Kugelbrunnen in der Fußgängerzone.

Diese Objekte beziehen ihr Identifikationspotenzial daraus, gefällig zu wirken, so lange bis man sich an sie gewöhnt hat, und dann geraten sie in Vergessenheit. Die Alternative sind Kunstwerke, die sich konsequent in den Weg stellen, die sich nicht übersehen lassen. Werke, die sowohl inhaltlich wie ästhetisch in einem Höchstmaß durchgearbeitet sind, die eigens für den Platz konzipiert wurden, an dem sie sich befinden. Werke, deren Qualität sich nicht im Formalen erschöpft, sondern die darüber hinaus das Denken fördern. Dass derart starke Werke von den Benutzern des öffentlichen Raumes eine gewisse Kraft verlangen, liegt auf der Hand. Zu oft reicht diese aber nicht aus. Besonders prominent zeigte sich dies anhand Richard Serras «Tilted Arc», 1981. Der Künstler platzierte eine durch leichten Schwung freistehende, übermannshohe Stahlplatte auf dem Federal Plaza in New York: eine monumentale Arbeit inmitten von Bürohochhäusern, die sich in den Weg stellte, dem Platz eine neue Richtung gab, ihn dominierte und gleichzeitig Teil von ihm wurde. Die Stahlplatte behauptete sich sowohl durch ihre ästhetische Qualität wie durch ihren Anspruch, den Raum neu zu ordnen. Sie nötigte die Anlieger, sie jeden Tag aufs Neue wahrzunehmen und städtische Strukturen, Stadtplanung und Zeitgenossenschaft zu reflektieren. Dieses Störungspotenzial überforderte die New Yorker Behörden. Zwar sprach sich bei der öffentlichen Anhörung 1985 die Mehrheit der Anwesenden für den Verbleib des Werkes aus, aber die General Services Administration erwog einen Standortwechsel, den Serra nicht akzeptieren konnte. Sein Werk war für diesen Platz konzipiert, Integration und Widerspruch funktionierten nur standortbezogen. 1989 wurde das Auftragswerk vom Auftraggeber selbst, von der Stadt New York verschrottet.

Wie gut, dass Hans Schabus‘ Bauzaun in Salzburg von vornherein nur temporär angelegt war. Im Rahmen des Festivals Kontra.com, das im bewussten Kontrast zu den Mozartfestspielen 2006 in Salzburg stattfand, verbarrikadierte der Künstler den Blick auf den Mirabellgarten mit einer Holzwand. Die einzelnen, sechs Meter hohen Bretter entsprachen in Höhe und Breite den Notierungen von Johann Strauss‘ «Demolirer Polka». Die Sichtachse war durchbrochen, die Skulpturen des Gartens blickten gegen eine Wand, Salzburger und Touristen waren aufgefordert neue Blicke zu suchen. Dass sich Widerspruch regte, verwundert nicht. Hier war Provokation leicht zu erreichen, und die Reaktion musste nur temporär ausgehalten werden. Nachhaltiger wirkte da Christophs Büchels Festivalbeitrag «Aktion Reales Salzburg (ARS)» unter dem Motto «Salzburg bleibt frei». An einem eigens eingerichteten Stand ließ der Künstler Unterschriften sammeln. Auf einem Formular konnten Forderungen unterschrieben werden wie: «Der Gemeinderat der Stadt Salzburg soll beschließen, dass die Salzburger Altstadt – für die Dauer eines fünfjährigen Moratoriums – frei von Gegenwartskunst im öffentlichen Raum bleibt. […] Besinnen wir uns im Mozartjahr 2006 wieder auf die Qualität und Werte der Kunst- und Kulturstadt Salzburg! […] Schluss mit der Verschandelung unseres Weltkulturerbes!»

Die nötigen 2000 Unterschriften kamen zusammen, die Stadt Salzburg musste ein Bürgerbegehren zur gegenwartskunstfreien Innenstadt durchführen. Christoph Büchel setzte eine Diskussion in Gang, die so manchen ins Schlingern gebracht hat. Unterschreiben oder nicht unterschreiben, war hier die Frage. Mit der Unterschrift nähmen die konservativen Gegner zeitgenössischer Kunst einerseits an derselben teil, andererseits ließe sich gerade diese Gegnerschaft endlich einmal wirkungsvoll zum Ausdruck bringen. Außerdem bezichtigten sie die ARS, den Begriff Kunst im ausgeschriebenen Text für zeitgenössische Werke zu unrecht zu verwenden, obwohl die Gegenwartskunst im Sinne der Intention vorausschauend als «sogenannte» Kunst, Nicht-Kunst oder Kunst in Anführungszeichen bezeichnet wurde. Dem Künstler wurde Ironie vorgeworfen und Verschwendung öffentlicher Gelder, obgleich es den Gegnern genüge hätte tun müssen, wenn das projektbezogene Geld für etwas ausgegeben wird, was sich eben gerade nicht im öffentlichen Raum materialisiert.

Christoph Büchel hat die Rezipienten ins Dilemma gestürzt, und das obwohl ihnen weder die Sicht noch der Weg verstellt wurde. Kunst im öffentlichen Raum ohne Kunst im öffentlichen Raum, mit einem sicheren Blick für das Konfliktpotenzial zwischen Öffentlichkeit und Kunst.

Als die Kunst im öffentlichen Raum noch Kunst am Bau hieß, war sie bereits als Aufforderung an die Künstler gedacht, sich aus dem Kunstbetrieb herauszubewegen und die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit zu suchen, da sich erst dann ihre Relevanz zeige. Relevanz wurde allerdings mit Akzeptanz verwechselt, wurden doch Werke erwartet, mit denen sich die Öffentlichkeit identifizieren konnte, die positiv ausstrahlten. Dass Kunst am Bau so nicht funktioniert, weil Künstler so nicht funktionieren, zeigte sich bald. Gesellschaftlich relevante Kunst sucht keinen Stellplatz, sondern ein gesellschaftliches Forum. Mit dem Verzicht auf Architekturbezogenheit und die Öffnung in den städtischen Raum wurde dem vor über 30 Jahren Rechnung getragen.

Doch die Öffentlichkeit hat sich in diesen wenigen Jahrzehnten gewandelt, die Kunst notwendigerweise auch, und sie fordert nach wie vor Einsatz. Es war das einfachste für die Stadt Venedig, Gregor Schneiders Biennalebeitrag 2005, einen schwarzen Kubus in den Maßen und der Gestalt der Kaaba in Mekka, nicht zu realisieren mit dem Argument, dass es ästhetische wie sicherheitstechnische Bedenken gäbe. Nicht einmal die ausführliche Dokumentation des Schriftverkehrs zu dem Werk durfte im Katalog zur Ausstellung publiziert werden. Berlin war als alternativer Ort für den «Cube Venice» vorgesehen, hier sagte man jedoch ebenfalls ab: aus politischen Bedenken und weil der schwarze Kubus ursprünglich für Venedig konzipiert war. Der Künstler selbst hätte nun diese Sache auf sich beruhen lassen können, denn bereits die Diskussion um das Werk ist als Hinweis auf den gescheiterten Dialog der Religionen und die gegenwärtige lslamophobie aussagekräftig genug. Doch Schneider bevorzugte eine inhaltliche Umdeutung und ließ den Kubus im Zusammenhang mit der Ausstellung «Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch» als «Cube Hamburg» vor der Hamburger Kunsthalle realisieren. Primär wurde er nun als Referenz an das Werk des grossen Suprematisten interpretiert und büßte damit einiges von seiner ursprünglichen Brisanz ein – Kunstgeschichte als Sedativum. Da der Kubus trotz des neuen, unverfänglichen Werkkontextes noch immer als Verweis auf die religiöse Pilgerstätte gelesen werden kann, wurden die muslimischen Gemeinden Hamburgs vorab zum Gespräch eingeladen. «Cube Hamburg» wurde in der Folge als «Mahnmal der Toleranz» gefeiert. Venedig und Berlin haben gezeigt, dass Kunst nicht nur das Engagement der Künstler und Kuratoren braucht, sondern auch das der Öffentlichkeit und ihrer Vertreter.

Kunst im öffentlichen Raum will den Dialog. Nicht wie Stanley Kubricks schwarzer Monolith auf dem Mond: Er schaltete die sich nahenden Astronauten durch ein akustisches Signal aus. Die Künstler dagegen bieten uns die Chance das eigene Lebensumfeld wieder bewusst wahrzunehmen, die Chance zur Reflexion und Auseinandersetzung.

Publiziert in: Erlangen – Kunst im Stadtbild, hrsg. Bernd Nürmberger, Nürnberg 2008, S. 14-16

Schweiz in der Schachtel

Das Architekturforum widmet seine aktuelle Ausstellung dem Thema Landschaftsarchitektur Schweiz.

Was ist gute Landschaftsarchitektur? Welchen Anforderungen muss zeitgenössische Landschaftsarchitektur genügen? Welche Besonderheiten weist Schweizer Landschaftsarchitektur auf? Das sind komplexe Fragen, die Antworten sind es ebenso. Und dennoch ist die Sache so kompliziert nicht, wenn sie mit inhaltlich und visuell überzeugendem Konzept untersucht wird, wie die von Claudia Moll kuratierte Ausstellung mit dem Titel »Spezifisch – Landschaftsarchitektur aus der Schweiz» – zeigt.

Die Präsentation ist derzeit im Ostschweizerischen Architekturforum zu sehen und unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von einer der mitunter etwas trockenen, weil nur aus Planmaterial bestehenden Architekturausstellungen: alle Projekte auf gleichformatigen Blättern vorgestellt, eine Mischung aus Plänen, Bildern und etwas Text. Doch spätestens beim zweiten Rundblick durch den Raum fallen acht mit zarten schwarzweissen Bildern bedruckte Blätter auf und damit die erste Besonderheit der Ausstellung.

Die Bilder – darunter eine Mühle, ein Tatzenabdruck und ein Schlauchboot – repräsentieren die Kapitel der Ausstellung: Berührung, Bewegung, Laub, Rot, Spur, Rau, Überschwemmung, Stille. Wie inspiriert die Illustrationen der Zürcher Journalistin und freien Autorin Kaa Linder sind, mag dahingestellt bleiben, aber sie sorgen für gut sichtbare Unterbrechungen im Parcours.

Fast alle vorgestellten Projekte sind den einzelnen Oberbegriffen zugeordnet, zum Teil auch mehreren Themen gleichzeitig. Mitunter wirkt die Kategorisierung etwas willkürlich, doch das beeinträchtigt die Qualität der Ausstellung nicht. Es ist ohnehin so, dass die Themen die Projekte weniger interpretieren als vielmehr einen Anstoss geben, sie genauer anzusehen, auf bestimmte Fragestellungen und Ansprüche hin zu prüfen und vielleicht sogar Lust auf eine Ortsbegehung machen. Jedes Projekt ist mit einem kurzen Text, knappen Standort- und Urheberinformationen, einem Statement des jeweiligen Architekturbüros und Fotografien vorgestellt. Wobei eine Fotografie jeweils auf dem Kopf steht und somit auf zwei weitere gutdurchdachte Details der Ausstellung verweist: Jedes Projektdatenblatt entspricht den 1:25 000er-Landestopographiekarten der Schweiz – sowohl in seinen Dimensionen, als auch in der Faltung.

Somit wird einerseits klar, dass Landschaftsarchitektur etwas mit Landschaft, aber auch mit dem Land zu tun hat. Denn in der Schweiz gibt es ganz besondere, also laut Ausstellungstitel spezifische Konzepte, bedingt etwa durch die Lage in den und nahe der Alpen und den damit zusammenhängenden Mythen, Bilder- und Gedankenwelten, durch ein lange gewachsenes Umweltbewusstsein oder auch durch die räumliche Enge. Andererseits ermöglicht es die einheitliche Grösse und Faltung der 40 Projekt- sowie der acht Kapitelblätter und der einführenden Texte zur Ausstellung, alles in einer praktischen Box unterzubringen, was Kapitel und Zuordnungen sofort erkennen lässt; eine Ausstellung in und aus der Schachtel sozusagen.

Eine Ausnahme bilden die 13 Ostschweizer Projekte. Als die Regionalgruppe des Bundes der Schweizer Landschaftsarchitekten sich zur Übernahme der Schau entschied, entstand der Wunsch, das Schaffen im Schweizer Osten stärker zu beleuchten. Und so wurden nachträglich ausgewählte Projekte der Region mit in die Ausstellung aufgenommen. Sie sind dadurch zwar weder in der Box vertreten noch bestimmten Kategorien zugeordnet, aber dafür gewissermassen exklusiv in der St. Galler Station von «Spezifisch» zu sehen. Und: Am 31. Mai gibt es zusätzlich eine «Landschaftsarchitektour» zu ausgewählten Gärten der Ostschweiz.

Bilder von Büchern

Die Herisauerin Vera Marke präsentiert mit ihrer Bilder-Installation «Komm, iss mit mir» ihren persönlichen Lesestoff in der Galerie Paul Hafner.

Bücher sind da, um gelesen zu werden. Oder angeschaut, wenn es sich um Kataloge und Bildbände handelt, oder um die Buchrückenimitationen, die zuweilen Wohnwände in Bibliotheken verwandeln. Und es gibt eine dritte Art, Bücher anzusehen: Vera Marke zeigt sie in der Galerie Paul Hafner.

Ausgestellt sind 165 kleine Ölgemälde, identisch in der Grösse und in gewisser Weise auch von ihrem Sujet her, denn jedes Bild zeigt genau ein Buch. Sorgsam ist es mittig im Format plaziert; zu sehen ist der vordere Buchdeckel und ein Teil vom Schnitt. Die Malweise wirkt flüchtig, Details sind nur angedeutet, die Buchstaben zu einfachen Linien verkürzt.

Welches Buch jeweils abgebildet ist, ist so nur schwer erkennbar. Höchstens einige markant gestaltete Reihen oder Verlagslayouts sind identifizierbar, wie etwa das unverkennbare Reclam- und das Diogenes-Design, die Suhrkamp-Bibliothek, das Du-Mont-Logo oder die Nachschlagewerke von Langenscheidt und Duden. Wer es genau wissen will, dem hilft die ausliegende Werkliste, denn jedes Gemälde ist bezeichnet mit der ISBN-Nummer des jeweiligen Bandes, so er eine hat. Das ist gerade bei alten Publikationen nicht der Fall – auch solche finden sich in den Gemälden.

Aber welches ist nun der grosse Zusammenhang dieses Büchersammelsuriums? Ist es eine Bibliothek, ein Bücherladensortiment? Eine zufällige Auswahl? Es ist Vera Markes persönlicher Lesestoff. Die Herisauer Künstlerin, Jahrgang 1972, hat im vergangenen Jahr begonnen, jedes Buch, dass durch ihre Hände ging, zu malen: ob Wörterbuch, Lexikon, Reiseführer, Schmöker, ob der Bibliothek entliehen, von Freunden geborgt, ob geerbt oder gekauft.

So ergibt sich einerseits ein sehr persönliches Bild, denn nicht nur die Nachttischlektüre ist verewigt, sondern beispielsweise auch die Begleiter der Reiselust, oder die Vorliebe für bestimmte Künstler- oder Kunstrichtungen und nach welchen Rezepten gekocht wird.

Allerdings teilt sich das Bild der Person der Künstlerin nicht auf den ersten Blick und ohne weiteres mit, denn zum einen ist in den Gemälden keine Wertung zu erkennen, welches Buch möglicherweise wichtiger war als andere, und zum anderen wollen die ISBN-Nummern erst einmal zugeordnet sein: Es bleibt dem Betrachter überlassen, ob er die Bildreihen mühsam durchzählen möchte, oder sich doch lieber dem Spass des Vermutens, des Enträtselns überlässt.

Ohnehin lohnt sich, abgesehen vom Blick auf das Einzelwerk, auf das einzelne Buch, eine Gesamtübersicht. Dies ist Vera Marke durchaus bewusst, und so hat sie minimalistische Bänke entworfen, die zum Innehalten einladen. Der Betrachter sieht sich so von allen Seiten umgeben von Büchern, von Bildern – er kann das Auge wandern lassen über die schier endlose Reihe. Erst in diesem Rundblick wird die homogene Farbigkeit der Bilder bewusst. Oder die Egalisierung der Buchformate: Ob Taschenbuch oder Kunstkatalog – alles kommt in der gleichen Grösse daher.

Vera Marke objektiviert, sie räumt auf, sie wechselt die Perspektive. Dort liegt auch ein Hintersinn dieser Arbeit: Indem die Künstlerin jedes Buch vor dem Zurückstellen ins Regal oder dem Zurückgeben an den Ausleiher noch einmal zur Hand nimmt und malt, lässt sie es nochmals Revue passieren, verleiht ihm einen neuen Status: Das Buch wird zum Bild.

Und der Ausstellungstitel? «Komm, iss mit mir» – eine vieldeutige Einladung? Ein Buchtitel? Eine Anspielung auf das gelöffelte Wissen? Wieder Freude am Vermuten.