Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Die Zerstörung der Zerstörung

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt die Gruppenausstellung „Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart“

Ein Mann bricht aus – raus aus der täglichen Routine, den herkömmlichen Beziehungsgeflechten. Er vermauert seine Wohnungstür und schlägt ein Loch in die Wand des Mietshauses. In dieser Höhle haust er abseits aller geltenden zivilisatorischen Regeln. «Themroc» mit Michel Piccoli in der Hauptrolle spielt die Idee des Aussteigers in einem gewagten Szenario durch. Statt der Flucht in exotische Ferne, auf einsame Inseln oder in halluzinatorische Geisteswelten bleibt der Protagonist in seiner bisherigen Lebenswelt und wirft dort alle Zwänge ab.

Es ist kein Zufall, dass die Zerstörung des Mietshauses das deutlichste, das sichtbarste Zeichen für diese Absage an die tradierten und allgemein etablierten Lebensformen ist. Mit dem Mietshaus verbinden sich unzählige Geschichten, Zwänge, Klischees, aber auch Hoffnungen, Utopien. Immer wieder traten Architekten an, um es zu revolutionieren, menschlicher oder besonders bewohnenswert zu machen. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Zersiedlung der ländlichen Gebiete oder der Übervölkerung der Städte ist das Mietshaus wieder im Fokus. Doch was ist geworden aus den Utopien eines LeCorbusier oder Mies van der Rohe? Was aus den Planstädten und Plattensiedlungen? In welchen Umständen lebt die Mehrzahl der Menschen weltweit?

Mit diesen Fragen setzen sich nicht nur Stadtplaner und Architekten auseinander. Seit einigen Jahrzehnten sind sie immer wieder auch und besonders für Künstler von grossem Interesse. Einer von ihnen war der Amerikaner Gordon Matta-Clark. Er verstarb 1978 mit nur 35 Jahren und hatte bereits Werke von grosser Ausdruckskraft und nachhaltiger Wirkung entwickelt. So zerschnitt er etwa mit der Motorsäge Fassaden, Decken und Böden von bestehenden Gebäuden und schuf damit angewandte Architekturkritik: Seine Arbeiten treten für eine Anarchitecture ein, ein anarchistisches Unterwandern des architektonischen Kanons, wie auch für das Non-Ument, das dem Prozesshaften den Vorzug gibt gegenüber dem Bestehenden. Matta-Clark reflektiert das Temporäre von Architektur. Ein Beispiel dafür ist «Conical Intersect»: In ein zum Abriss vorgesehenes Haus neben dem im Bau befindlichen Centre Pompidou schnitt Matta-Clark ein Loch, durch das man nicht nur hindurch sehen konnte, sondern das auch das Innere des Hauses, seine Geschichte und Struktur öffentlich machte. Die Zerstörung als kreativer Akt geht der eigentlichen Zerstörung voraus, die in diesem Fall durchaus nicht unumstritten war, mussten doch für das Pariser Kulturzentrum Teile des alten Marais-Viertels weichen.

Jedes Bauen verändert die räumlichen Zusammenhänge und kann damit sowohl bereichernd als auch zerstörerisch wirken, letztgenanntes wirkt sich dabei nicht nur auf die Gebäude oder die städtischen Strukturen selbst aus, sondern hat mitunter weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. Künstlern, die ihr Augenmerk darauf lenken, ist die Ausstellung «Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart» gewidmet, die nach der Generali Foundation in Wien nun im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen ist.

Gordon Matta-Clark ist mit sechs wichtigen filmischen Arbeiten in der Ausstellung präsent. Er gehört mit Robert Smithson, Iza Genzken, Dan Graham und Yona Friedmann zu den bereits als klassisch zu bezeichnenden Positionen. Smithson ist unter anderem mit seiner wunderbaren Arbeit «Hotel Palenque» vertreten, einem Diavortrag, der ein im Bau befindliches, aber doch schon wieder verfallenes Hotel in Mexiko auf ebenso eingehende wie amüsante Weise untersucht. Von Yona Friedmann sind drei seiner fragilen Stadtmodelle aus Abfallmaterialien zu sehen. Friedmann stellt die Frage nach dem Vorhandensein und Verfügbarkeit der Ressourcen. Er thematisiert unsere illusionistischen Ansichten über deren Verteilung und die unzulängliche globale Kommunikation darüber. Ein Aspekt dieser Verteilung zeigt sich in der Arbeit «Bantar Gebang» von Jeroen de Rijke und Willem de Rooij. Zehn Minuten lang wird der Betrachter Zeuge des Sonnenaufgangs über einem Slum auf einer indischen Müllhalde. Selbst wenn man diesem Film mit seiner subtilen Farbigkeit und seinem wohltuenden Verweilen bei einer Kameraeinstellung eine ästhetische Komponente abgewinnen kann, ist die Szenerie bedrückend. Etwaige Diskussionen um die ideale Wohnform für den zeitgenössischen Stadtbewohner, oder gar um Flach- oder Spitzdächer erscheinen müssig, solange nicht einmal die elementarsten Bedürfnisse des Menschen befriedigt sind und obendrein der Umgang mit den Ressourcen noch immer derart problematisch ist. De Rijke und de Rooij gehören zu den jüngeren Positionen in der Ausstellung, daneben sind Giuseppe Gabellone, Cyprien Gaillard, Florian Pumhösl und Rob Voerman zu nennen. Letzterer ist mit grossformatigen Zeichnungen sowie einem seiner heterotopischen Bauten vertreten – einer Mischung aus Behausung, Höhle und Urhütte. Stephen Willats schliesslich analysiert in «Wie ich meine Fluchtwege organisiere» die Schrebergartenwelt als Gegenentwurf zum Mietshaus: Idylle kontra Normierung.

Augenreisen

Landschaft als Realität – aber auch als Phantasie und Projektion: Dies zeichnet die Malerei der Niederländer aus. Das Kunstmuseum St. Gallen lädt zur Zeitreise ein, mit Blättern aus der eigenen Sammlung und aus einer hochkarätigen Schweizer Privatsammlung.

Jeder Blick ist eine Reise, jeder Schritt eine Wanderung. Die niederländischen Landschaften des 16. und 17. Jahrhunderts eröffnen dem Betrachter ein unermessliches Spektrum an Ausblicken, Ansichten und Schauplätzen, jenseits der Klischees von Windmühlen, Alleen und Grachten. Die gibt es freilich auch, ebenso die Marinedarstellungen und die typischen Stadtansichten mit Giebelhäusern. Doch die Ausstellung «Phantasien – Topografien» im St. Galler Kunstmuseum zeigt, dass dies nur ein Teilaspekt der holländischen Landschaft ist.

Bereits der Titel verweist auf das Spannungsfeld von Erdachtem und Gesehenem. Hinzu kommt Überliefertes durch Grafik-Editionen, Künstlerberichte und Sammlungen. Die Holländer hatten schon früh regen Kontakt nach Italien. Künstler und Sammler jenseits der Alpen zeigten ausserordentliches Interesse an den naturnahen, sorgfältig beobachteten Darstellungen holländischer Renaissancemeister.

Im 16. und 17. Jahrhundert kehrt sich dies um, und Italien wird zum Sehnsuchtsziel der Nordländer. So überrascht es nicht, zahlreiche italienische Motive zu finden. Nicht zu vergessen die Gebirge. So wird von Pieter Breughel d. Ä. berichtet, er habe, auf der Rückreise von Italien die Berge und Felsen der Alpen verschluckt und sie auf Leinwände und Malbretter wieder ausgespien. Er wird zum grossen Erneuerer der niederländischen Landschaftsdarstellung mit seinem Fokus auf die Lebenswirklichkeit. In der Ausstellung kündet davon etwa Breughels Blatt einer Landschaft mit rastenden Soldaten.

Andere grosse Namen fehlen ebenfalls nicht; so ist Rembrandt mit einer Serie von Ansichten des Amsterdamer Umlandes vertreten, Hans Bol mit seinen Dorflandschaften, von Jan van de Velde ist ein Monatszyklus zu sehen, von seinem Bruder Essaias ländliche Motive. Letzterer ist in der Sammlung mit zwei wichtigen Frühwerken vertreten, die hier in völlig neuem Licht erscheinen, da deutlich wird, wie die in der Grafik erprobten Kompositionen in die Malerei übertragen werden.

Gemälde aus der Sammlung des Kunstmuseums stellen nur einen kleinen Teil der Präsentation dar. Den Hauptanteil machen Arbeiten auf Papier aus einer Schweizer Privatsammlung aus, die sich durchaus messen kann mit dem, was in den Grafikkabinetten grosser europäischer Museen aufbewahrt wird.

Dies gilt zum einen für die Künstler: So zählt die Sammlung hervorragende Blätter aus dem äusserst schmalen gezeichneten und druckgrafischen Werk von Jacob van Ruisdael zum Bestand. Zum anderen ist die Qualität bemerkenswert. Es handelt sich ausnahmslos um frühe Abzüge, erkennbar am satten Schwarz und den feinen Lineaturen.

Die Zeichnungen wiederum sind weit mehr als Handskizzen, es handelt sich oft um bildhaft ausgeführte Werke, die für den damaligen Sammler bestimmt waren. So bei Jan van Goyen und Pieter Molyn, zwei Repräsentanten der sogenannten tonalen Phase. Letztere beruht auf der Erkenntnis, dass Licht und Atmosphäre die Eigenfarbe der Dinge zurückdrängen zugunsten einer homogenen Erscheinungsfarbe.

Die ungefähr 250 Werke laden zu Augenreisen ein, die Kenner wie Flaneure in ihren Bann ziehen. Letztere werden ihr Schritttempo mässigen, um in eins ums andere Blatt eintauchen zu können. Es lohnt sich drum, Zeit mit in die von Matthias Wolgemuth kuratierte Ausstellung zu bringen.

Geflickte Fotografien

Die Galerie Friebe an der Unterstrasse präsentiert in einer kleinen Retrospektive Werke aus dem bisherigen Schaffen von Annegret Soltau. Die deutsche Künstlerin stellt ihre Fotovernähungen und Fotoradierungen aus.

Nadel und Faden werden als Arbeitsinstrumente überwiegend von Frauen benutzt. Das ist bis heute so und gilt sogar für die bildende Kunst. Ein Beispiel dafür zeigt die aktuelle Ausstellung in der Galerie Friebe. Zu sehen sind Werke der deutschen Künstlerin Annegret Soltau. Nadel und Faden dienen ihr allerdings nicht dazu, Textiles aneinanderzufügen. Vielmehr hat sie sich einen Namen mit ihren Fotovernähungen gemacht.

Fotografisches Material, überwiegend autobiographischer Natur, wird dabei mit Nadel und Faden transformiert. Den Anfang machten in den 1970er-Jahren Schwarzweissaufnahmen des eigenen Antlitzes, die Soltau mit Garnnetzen überzogen hat. Das Gesicht wird geschmückt, verschleiert oder akzentuiert. Und zuweilen verschwindet es auch oder präsentiert sich nur noch in den ausgeführten Stichen auf der Rückseite der Näharbeit. Ganz abgesehen vom autobiographischen Bezug der Arbeit stellt Annegret Soltau damit Fragen zur weiblichen Identität zwischen Aussenwirkung, überlieferten Idealen und Frauenbildern im Spannungsfeld des eigentlichen Selbst und der Sicht der anderen.

Kurz darauf entstand die Serie «Schwanger». Hier werden Fotos des eigenen Körpers mit schwarzen Fäden geflickt. Bereits diesen frühen Arbeiten haftet etwas Beklemmendes an, doch Annegret Soltau steigert in der Folge die Drastik ihrer Bildschöpfungen um ein Vielfaches. Sie setzt Gesichter neu zusammen, indem sie Selbstporträts, Bilder ihrer Kinder und Tierköpfe addiert. Hier wird das Lachen zur Fratze, das Kinderauge zum Monsterblick. Ganz bewusst unterläuft die Künstlerin das Niedliche des Ausgangsmaterials. Wenn jedoch hie und da von den schockierenden Wirkungen ihrer Werke die Rede ist, bezieht sich das wohl am ehesten auf Serien wie «Generativ» oder «Transgenerativ», die in der St. Galler Ausstellung wie alle anderen Fotovernähungen in der Kleinversion zu sehen sind. Es existieren jeweils auch grosse Formate.

Die provokative Wirkung der beiden letztgenannten Serien auf manche Rezipienten dürfte eine kalkulierte sein. Annegret Soltau nimmt Aktaufnahmen von Tochter, Mutter und sich selbst oder dem Sohn auseinander, vermischt und vernäht sie mit groben Stichen, die mehr Verletzung sind als Reparatur. Die Ergebnisse sind zwischen Wechselbalg und Chimäre angesiedelt und ironisieren recht deutlich die zeitgenössischen Vorstellungen von Schönheit und Perfektion.

Noch expliziter wird die Künstlerin in «N. Y.-Faces», indem sie Aufnahmen einer Zahnoperation mit Satzfetzen aus Zeitungsartikeln zu den Angriffen auf New Yorks World Trade Center mischt. Da trifft die Spritze aufs Zahnfleisch, und gleichzeitig ist von «Vergeltung» und «Entsetzen» die Rede. Subtil ist das nicht, aber es wirkt.

Im grössten Raum der Galerie sind Soltaus Fotoradierungen zu sehen. Auf der Basis der tradierten Technik der Radierung hat die Künstlerin ein völlig neues Herangehen entwickelt. Mit der Nadel überarbeitet sie Fotonegative und erstellt immer wieder Abzüge der einzelnen Zustände. Auf diese Weise macht sie einerseits einen Prozess sichtbar, andererseits unterlegt sie dem Sujet selbst einen filmischen Ablauf. Aus der hockenden Frau wird Schritt für Schritt ein vogelhaftes Wesen, bis sie immer mehr in der Geste verschwindet und schliesslich im Schwarz untertaucht. Durch die Hängung entgegen der Leserichtung kommt sie jedoch in einer zweiten Serie wieder hervor aus dem schwarzen Quadrat, den Gesten, der Linienabwicklung. Sie inszenierte damit erstmalig einen neuen Ablauf hin zum Körper.

Insgesamt darf diese Ausstellung als kleine Retrospektive bezeichnet werden, versammelt sie doch die wichtigsten Werke Annegret Soltaus aus allen Schaffensphasen und in allen verwendeten Techniken.

Wahrheit statt Wirklichkeit

Hans Jörg Bachmanns Landschaftsskizzen und Gemälde der südspanischen Provinz Almería

König Ludwig I. von Bayern war ein glühender Verehrer der hellenischen Kultur, ihrer Kunst und Geistesgeschichte. Dies spiegelt sich in seinem persönlichen Engagement für Griechenland ebenso wie in seinem Interesse an einer künstlerischen Dokumentation: Kurz nachdem sein Sohn Otto König von Griechenland geworden war und er selbst die Wahl für seinen Sohn annahm, sandte er den besten Landschaftsmaler seines Landes in jene ferne Gegenden mit dem Auftrag, sie zu porträtieren. Carl Rottmann hatte bereits 1833 einen Freskozyklus mit 28 Wandbildern zu Italien vollendet. Und nun also Griechenland.

Die Serie von 23 Gemälden auf grossen transportablen Mörtelplatten mutete allerdings ganz anders an, als alles, was der damalige Betrachter von Griechenland kannte oder zu sehen erwartete. Die Begeisterung für die Antike und damit für die grossen Stätten des Altertums war gerade erst auf ihrem Höhepunkt angelangt. Doch Hellas, Korinth, Marathon, Olympia oder Delos waren in Rottmanns Zyklus kaum als Orte mit berühmten Tempeln und Städten erkennbar. Statt dessen: Karges Land unter grossem Himmel. Hügel, Berge und Küstenlinien, aber kaum Vegetation und Architektur. Verwüstung und Einsamkeit. Selbst die damals immer noch übliche Ausstattung der Landschaftsgemälde mit Staffage beschränkt sich auf ein Minimum. Dennoch wurde der Griechenlandzyklus bereits zu seiner Entstehungszeit mit überaus positivem Urteil bedacht. Woran liegt das?

Ganz abgesehen von der hohen malerischen Qualität der Werke gelingt es Rottmann dem Betrachter nicht nur ein Bild der topografischen Gegebenheiten zu zeigen, sondern die Bilder berichten zudem von der Hitze unter der südlichen Sonne, von Staub, Trockenheit, von der Grösse der Landschaft, von dem gleissenden Licht über ihrer Weite, von den warmen Farben, deren Intensität mit den Tageszeiten wechselt – alles in allem ein Kontrastprogramm, zu dem, was der Adressat des Zyklus´ zu sehen gewohnt war. Ähnlich mag es dem Betrachter der Almería-Bilder Hans Jörg Bachmanns gehen. Während der Sommer die Ostschweiz mit üppigem Grün über dicht besiedelten Gegenden verwöhnt, zeigt sich in den Gemälden die spanische Provinz als weites, vegetationsloses Land, das – wenn überhaupt – nur spärlichste Spuren menschlichen Einwirkens aufzuweisen scheint. Zumindest letzterer Eindruck täuscht. Die Gegend ist stark von menschlichem Wirken geprägt, die Steinbrüche und der Erzabbau haben ihr ein völlig neues Antlitz verliehen, haben sie doch ganze Höhenzüge verformt, versetzt oder getilgt. Die Landschaft wurde verändert, verwandelt, verletzt. Dies mag auf den ersten Blick kein verlockendes Sujet für einen Künstler sein, doch gerade darin liegt der Reiz Almerías für Hans Jörg Bachmann. Der Landschaft dort fehlt alles Liebliche, all das, was Reisende suchen: Kleinteiligkeit, Abwechslung, üppige Natur.

Statt dessen: Karges Land unter grossem Himmel.
Besonders augenfällig wird dies in den grossformatigen Gemälden. Fast vollständig in Schwarzweiss gehalten, evozieren sie den Eindruck endloser Weite wie ihn Schnee- oder Wüstenlandschaften ausstrahlen. Unter gleissendem Licht präsentiert sich das Land wie ein Monument. Die grossen Gesteinsformationen schieben sich gegen den Himmel, dramatische Kontraste beherrschen die Leinwand. An markanten Stellen öffnen sich die geschlossenen Formen zum Hintergrund hin und lassen Fernblicke, Ausblicke, ja sogar die Küste und das Meer erahnen. So beinhalten die Bilder immer auch die Weite, die so typisch ist für diesen Landstrich.

Obgleich monochrome Flächen dominieren, wirken die Bilder überaus lebhaft. Hans Jörg Bachmann streicht die Flächen nicht einfach zu, sondern arbeitet mit differenziertem Pinselstrich. Verhaltene Gesten sitzen neben grosszügigen Schwüngen, pointiert gesetzte Striche neben Zeugnissen des Zufalls, etwa wenn flüssige Farbe über das Bild läuft oder feine Tropfen haften bleiben. Die Silhouette der geologischen Formationen wird von zarten Pinselspuren überlagert. Mitunter sind Spuren von rot oder gelb zu erkennen. Die Landschaft bildet das formale Gerüst für den malerischen Ausdruck, den Anlass, aber nicht allein den Inhalt. Hans Jörg Bachmann geht es um die Malerei. Deutlich wird dies auch in den kleinformatigen Bildern. Weniger als um Gemälde handelt es sich Skizzen, die jedoch von grosser malerischer Qualität und besonderem Ausdruck sind. Letzteres liegt nicht zuletzt in ihrem sonoren Farbklang begründet. Da trifft weisser Himmel auf rote Erde und violettfarbiges Meer oder dunkelrotes Gestein auf orangeroten Sand. Der Künstler experimentiert mit den Farben und ihren Kontrastwirkungen. Auf einigen Werken verleihen schwarze Konturen den farbigen Flächen zusätzliche Leuchtkraft. Dann wiederum beherrscht ein sorgsam komponierter Farbton die Szenerie. Auch der Farbauftrag ist von Variantenreichtum geprägt: Aquarellartig lasierend oder reliefartig durch reichlich gesetzte Farbmaterie. Mal wird bewusst die Spur stehen gelassen, dann wieder erzeugt Hans Jörg Bachmann homogene Farboberflächen. Immer jedoch sind die Bilder getragen von einer grossen Spontaneität. Der Künstler lässt sich treiben im Fluss des Malens und tilgt die Spuren nicht. Die Bilder sind gemalt, statt ausgearbeitet, in einem Pinselzug «heruntergeschrieben», deshalb versammeln sie Energie und Bewegung in sich. Gleiches gilt für die gelbe Serie. Hier geht Hans Jörg Bachmann noch einige Schritte weiter, darunter auch einen in Richtung des «Herunterschreibens», denn nun wird ein Bezug zur fernöstlichen Kalligraphie offensichtlich. Schwarze Linien ziehen sich über den monochrom gelben Bildgrund der quadratischen Formate. Die Pinselstriche fügen sich zu Hügelketten, Gesteinsvorsprüngen, Felskanten und -vorsprüngen. Doch wo aufgrund der Topografie massive Formationen und somit eine Gewichtung im Sinne von Schwere und Last zu erwarten wäre, beginnt alles zu fliessen. Die Linien im Vordergrund stürzen nach unten, sie ziehen die Landschaft mit sich, als öffnete sich vorn ein Abgrund. Hans Jörg Bachmann findet ein treffendes Bild für die vom Menschen umgestaltete, verformte und verwundete Landschaft. Indem er das Augenmerk nicht auf die von Menschenhand angelegte Infrastruktur, auf die Wege und Strassen, Installationen und Bauten legt, sondern vielmehr das veränderte Gesamtbild der Landschaft in den Mittelpunkt seines Interesses rückt, gelingt es ihm, den ihren Charakter zu erfassen. Hier stellt sich die Frage, wie es sich genau mit dem Landschaftsbezug der Gemälde verhält. Porträtieren sie die Gegend? Wäre es dem Betrachter möglich, vor Ort die Landschaftsausschnitte wiederzuentdecken?

Hans Jörg Bachmann arbeitet seit langem als Fotograf. Er porträtiert Landschaften, seien sie städtisch oder ländlich. Wie die Gemälde zeigen die Fotografien Bachmanns besonderes Gespür für die Atmosphäre, eines Ortes. Doch wo die Fotografien, einen Landschaftsausschnitt so wiedergeben, dass es dem Betrachter theoretisch möglich wäre, ihn zu suchen und wiederzuentdecken, verzichtet Bachmann in seiner Malerei bewusst auf diese Möglichkeit. Vor Ort füllt der Künstler Skizzenbücher mit Kugelschreiber-, Tusche- und Bleistiftzeichnungen. Sie wirken schnell hingeworfen, die Linien fliessen weich und lebendig über das Papier. Jeder einzelne Strich sitzt. Korrekturen sind weder möglich noch nötig. Und je weniger Linien gesetzt werden, desto spannender ist der Gesamteindruck des jeweiligen Blattes. Diese Skizzenbücher sind es, die Hans Jörg Bachmann von Almería mit nach St. Gallen bringt. Doch dieser Bilderfundus ist nicht zu verstehen als Vorlage für die gemalten Landschaften. Es ist eher so, dass sich Bachmann auf diese Weise in Spanien so mit den örtlichen Gegebenheiten auseinander setzt, dass sich das Gesehene in die Erinnerung einbrennt. Es fügt sich zu einem Gesamteindruck, aus dem dann wiederum im heimischen Atelier die Malerei entsteht. Sie fliesst direkt aus dem Erinnerten, aus dem Kopf durch die Hand mit dem Pinsel auf den Karton oder die Leinwand. Nicht zuletzt deshalb haftet ihr die beschriebene Spontaneität an. Dadurch, dass sich Hans Jörg Bachmann von der Vorlage befreit und aus der Erinnerung schöpft, ist seine Malerei offen für die vielfältigen Experimente mit Farbklang und Farbmaterie.

Johann Wolfgang Goethe urteilte über den Griechenlandzyklus Carl Rottmanns: «Die Bilder haben höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit». Im positivem Sinne gilt dies genauso für die Almería-Serien Hans Jörg Bachmanns: Gerade dadurch, dass der Künstler nicht die topografisch korrekte Wirklichkeit sucht, sich nicht in Details und Lokalfarben verliert, bleibt der Typus der Landschaft erhalten, der Typus der Landschaft, der vielmehr als ein einzelner Weg oder Strauch von der Wahrheit der Landschaft, von ihrem Charakter und ihrer Geschichte spricht.

Werdenbergs Zurückgekehrte

Pipilotti Rist und Niki Schawalder im Schloss Werdenberg

Interview mit Christian Boltanski

Ein unvoreingenommener Betrachter Ihrer Werke wäre sicherlich verwundert zu hören, dass Sie von sich selbst sagen: «Ich bin ein Maler». Was bedeutet es für Sie, ein Maler zu sein? Was ist Malerei für Sie? Es gibt zwei Arten von Künstlern. Die einen arbeiten mit dem Raum und die anderen arbeiten mit der Zeit, zu letzteren gehören beispielsweise Musiker und Regisseure. Ich jedoch arbeite mit dem Raum. In meinen Ausstellungen können Besucher zwei Minuten im ersten Raum bleiben oder 15 Minuten, das kann ich nicht beeinflussen. Selbst wenn ich mit dem Medium Video arbeite, ist das so. Es gibt Videos, die in der Zeit oder solche, die in der räumlichen Ebene funktionieren. Erzählungen beispielsweise laufen in der Zeit ab, aber bei meinen Videos muss man nicht sitzen bleiben, man kann kommen und wieder gehen in jedem Moment des Videos. Der Unterschied ist also nicht das Medium, sondern der Gebrauch von Zeit oder Raum. Und ich möchte mit meinen Werken Gefühle erzeugen und Fragen stellen, ohne Worte zu verwenden oder Worte wie Bilder einzusetzen. Maler arbeiten mit Bildern.

Wie definieren Sie sich als Künstler, was treibt Sie an? Ich sehe meine Arbeit als die eines Philosophen. Jedes Werk stellt eine Frage. Die Werke entstehen nicht um ihrer selbst willen, sondern sie sind der Weg, Fragen zu stellen. Die Philosophie wirft Fragen auf, die klassischen Fragen zu Natur, Leben und Tod. Diese Fragen sind für alle Künstler die gleichen und es gibt sie von Anfang an.

Wir Künstler verwenden zwar verschiedene Ausdrücke, behandeln aber dieselben Themen, so wie Die Leiden des jungen Werther von Goethe oder die Fragments d’un discours amoureux von Barthes das gleiche Buch in verschiedenen Sprachen ist. Es geht in meinen Werken nicht um Schönheit oder Ästhetik, sondern um diese ganz grundlegenden Fragen. Ich stelle sie mir selbst, und ich stelle sie den Betrachtern meiner Werke.

Sie waren 12 Jahre alt, als Sie entschieden, die Schule nicht weiter zu besuchen und zu Hause zu bleiben. Und Sie haben nie Kunst studiert. Wie haben Sie mit der Kunst begonnen? Ich wollte nicht weiter zur Schule gehen. Ich blieb daheim, machte kleine Objekte und zeichnete. Meinen Eltern gefielen diese Zeichnungen. Ich stamme aus einer intellektuellen, bürgerlichen Familie, und so wurde es umstandslos akzeptiert, dass ich Künstler werden und nicht länger zur Schule gehen wollte. In anderen Familien wäre ich vielleicht gezwungen worden, in eine Fabrik zu gehen und zu arbeiten, dann würde ich jetzt wahrscheinlich in einer Nervenklinik sitzen.

Sehr bald habe ich begonnen, an sehr grossformatigen Gemälden zu arbeiten. Ich war stets sehr aktiv und ich habe nie an dem gezweifelt, was ich tat. Es gibt diese Redewendung: Du brauchst kein Licht, wenn Gott Dich führt. Ich habe lange Zeit als Professor an der Kunst- akademie gelehrt, aber eigentlich gibt es in der Kunst weder etwas zu lernen, noch zu lehren. Du musst warten und hoffen. Künstler sein ist kein Beruf, in diesem Sinne habe ich auch nie gearbeitet. Alles, was ich getan habe, habe ich getan, weil es genau so notwendigerweise getan werden musste. Es gibt plötzlich Tage, es sind ihrer nicht viele, da verstehst du etwas. Du verstehst es besser als an anderen Tagen, und dann folgt eine kreative Zeit.

Es kommt also nicht darauf an, die Dinge vorwärts zu treiben, sondern offen zu sein für die Dinge, die um einen herum passieren? Richtig, an manchen Tagen kann das Wasser hier in diesem Glas einen zu einer wichtigen Sache führen, dann entsteht ein Kunstwerk. Man muss nur wach sein und versuchen zu verstehen.

Aber ist es nicht auch eine Frage des Alters, ob man als Künstler die Geduld aufweist, dass die Dinge zu einem kommen? Da bin ich mir nicht sicher. Wir hatten damals als junge Künstler aber auch nicht die Idee der Professionalität und waren nicht umgeben von einem professionalisierten Kunstmarkt. Wir hassten das Geld, wir bemalten Wände und zerstörten unsere Werke wieder, wir waren Utopisten. Mit kleinen Jobs hielt man sich über Wasser. Ich habe zum Beispiel nie ein Werk verkauft und war doch relativ früh bekannt. Ich habe schon 1972 an der von Harald Szeemann kuratierten Documenta teilgenommen. Da habe ich sehr viel gelernt. Er hat beispielsweise einen Aussenseiterkünstler wie Adolf Wölfli neben Konzeptkünstlern gezeigt.

Wie hat sich Ihre eigene Kindheit in Ihr Werk eingeschrieben? Als ich merkte, dass meine Kindheit vorüber ist, habe ich versucht, sie zu bewahren. Aber die Kindheit ist stets das erste, was von einem verschwindet. Je grösser und älter wir werden, desto mehr verlieren wir etwas. Einmal erzählte mir ein Bekannter eine Geschichte: Eine schwangere Frau hat bereits eine kleine Tochter, und das Mädchen sagt: «Sobald das Baby da ist, möchte ich mit ihm sprechen. » Und als das Kind auf der Welt war, wollte sie mit ihm allein sein. Die Eltern waren etwas besorgt und hörten dann aber wie das Mädchen zu dem Neugeborenen sagte: «Erzähle mir von Gott». So hat sie versucht, etwas zu bewahren oder zurückzuholen, was verloren gegangen ist. Wir wissen, dass wir etwas verloren haben, aber es ist nicht mehr fassbar. Wenn du ein Künstler bist, versuchst du, etwas von deiner Kindheit zu bewahren.

In Ihren Werken wird man jedoch nichts von Ihrer eigenen, Ihrer persönlichen Kindheit finden. Die Fiktion überlagert die Wirklichkeit. Ein Künstler spricht stets über die Wahrheit, über etwas, das der andere kennt. Aber Betrachter der Werke hatten natürlich niemals dieselbe Kindheit. So wissen Sie, was gemeint ist, wenn ich von Kopfschmerzen spreche, und doch sind es ganz andere Schmerzen für Sie oder für mich. Jeder lebt in seinem eigenen Dorf und sieht, wenn ein Dorf gemeint ist, sein eigenes. Meine Arbeit stimuliert ihre Erinnerungen. Davon leben auch die Bücher Prousts. Wir alle waren als Kind neidisch oder warteten sehnsüchtig auf unsere Mutter. Es gibt diese Gemeinsamkeiten zwischen uns allen, und doch ruft der Duft von Kaffee in jedem von uns andere Erinnerungen wach.

Spielt dies auch eine Rolle in Ihrem Werk «Les suisses morts», die toten Schweizer? Die Schweizer haben keinen historischen Grund zu sterben. Sie verkörpern in meinem Werk die Universalität. Das ist anders als beispielsweise bei Deutschen oder Juden. Schweizer zu sein und zu sterben ist so normal. Es gibt kein Drama, dass man mit ihnen verbinden kann. Und natürlich spielt auch der Vanitasgedanke eine Rolle, die Schweizer sind ein stilles, reiches Volk, und auch sie sterben, dass trifft uns viel mehr.

Es gibt diesen Ausspruch von Johann Gottlieb Fichte «Arm oder reich, der Tod macht alle gleich». Ja, diese Redewendungen gibt es in allen Sprachen. Ich habe ca. 8000 Fotografien von Schweizern gesammelt, die natürlich noch am Leben waren, als die Fotografien gemacht wurden.

Sammeln Sie die Fotografien eigens für bestimmte Werke, oder haben Sie ein Reservoir angelegt, aus dem Sie dann für Ihre Werke schöpfen? Meist ging die Idee voraus und dann habe ich begonnen zu sammeln. Aber dann gab es natürlich einen gewissen Fundus und ich habe oft dieselben Fotos wieder verwendet, aber nun arbeite ich gar nicht mehr mit Fotografien. Ich habe auch nie ein Foto selbst aufgenommen, denn die Fotografien sollten stets Teil der Realität sein. Es ist ja so, dass durch den Tod ein Subjekt zum Objekt wird – ganz gleich, ob es ein toter Körper ist, ein Kleidungsstück oder ein Foto, es wird ein Objekt mit einem Bezug zu einem Subjekt. So steht das Fotografieren auch immer in Bezug zum Sterben.

Auf italienischen Friedhöfen fallen mir immer besonders die Gräber ins Auge, bei denen ein Foto des Verstorbenen zu finden ist. Aber die Namen sind ebenso wichtig. Ich habe sowohl Bücher mit Fotografien Verstorbener als auch mit Namen gemacht. Auch mit dem Namen verbindet sich die Person. Jeder Mensch ist so einzigartig und so verletzlich. Schon nach zwei Generationen sind wir verschwunden. Aber wenn wir einen Namen sagen, ist deutlich, dass es da jemanden gab, der wichtig war. Das Gleiche gilt auch für meine Arbeit mit den Herzschlägen. Ob Kleidung, Foto, Name oder Herzschlag – da war jemand, der wichtig war.

Ist Ihre Arbeit gegen den Tod gerichtet? Nein, überhaupt nicht. Ich schätzte z.B. Giacometti sehr, er hat wieder und wieder versucht, ein Bild seines Bruders zu modellieren, um ihn auf eine gewisse Weise zu bewahren. Und zugleich wusste er, dass er damit nie erfolgreich sein würde. Ich kann versuchen, jemanden zu bewahren, aber es wird nie wirklich dieser Mensch sein. Wir können gegen das Verschwinden ankämpfen, aber wir können es nicht verhindern. Das ist eine der grossen Fragen der Menschheit. Heutzutage versuchen wir zu vergessen, dass wir sterben. Es gibt keine letzten Worte mehr. Wir weigern uns, über den Tod zu sprechen, über das Älterwerden. Aber ich denke, es wäre wichtig, sich dem nicht zu verweigern.

Dies hat, denke ich, auch mit unserer veränderten Religiosität zu tun, wo das Leben nach dem Tod kein selbstverständlicher Gedanke mehr ist. Sie haben immer wieder auch mit Formen gearbeitet, die an Altäre erinnern. Welche Bedeutung hat dieses religiöse Zeichen in Ihrem Werk?

Ich bin kein religiöser Mensch, oder zumindest keiner, der einer bestimmten Religion anhängt. Ich versuche aber zu verstehen, was es heisst, religiös oder spirituell zu sein. Und ich glaube, niemand kann uns ersetzen, aber es wird immer weitergehen. Wir stehen in einer Linie mit Menschen vor und nach uns. Wenn ich Altarformen verwende, so weil wir Menschen den Drang haben, Formen zu organisieren und damit etwas bestimmtes auszudrücken. Jeder kennt diese Altarform und versteht sie. So kann jeder ein solches Werk auf seine Weise mit seinem Hintergrund beleben. Ich bin kein konzeptueller Künstler und ich möchte, dass die Betrachter auch ohne kunsthistorisches Wissen meine Werke empfinden und erspüren können. Deshalb stelle ich auch gern ausserhalb von Museen aus, in Garagen oder Kirchen etwa. Es ist dort viel leichter, die Menschen zu berühren.

Dass Sie nicht mehr mit Fotografien arbeiten – hat das mit der durch die Digitalisierung extrem gestiegenen Verfügbarkeit der Bilder zu tun? Ich nutze den Rechner durchaus auch. Denn durch diese Digitalisierung ist eine viel engere zeitliche Vernetzung möglich geworden. Ich kann ein Bild oder ein Video zeitgleich an zwei entfernten Orten der Welt sehen. So habe ich jetzt ein Werk entwickelt, wo in einer Höhle in Tasmanien als einem sehr weit entfernten Land ständig ein Kamerablick in mein Studio gezeigt wird. Gleichzeitig wird das Ganze auf DVD aufgezeichnet.

Sie arbeiten viel mit Kerzen, mit Glühbirnen, mit Licht und dem Schatten. Auch damit entwickeln Sie eine ganz besondere Atmosphäre, die den Betrachter umfängt und berührt. Es ist mir wichtig, dass der Betrachter nicht vor dem Werk bleibt, sondern vom Kunstwerk umgeben ist, sozusagen in dem Kunstwerk ist. So ist auch diese Ausstellung schlussendlich ein einziges grosses Werk aus verschiedenen Elementen.

Interview mit Christian Boltanski für das Kunstmuseum Lichtenstein, anlässlich der Ausstellung Christian Boltanski. La vie possible vom 15. Mai bis 16. September 2009

Fragmente aus vielen Leben

Das Frauenmuseum im vorarlbergischen Hittisau präsentiert mit «Frauennachlässe. Fragmente aus vielen Leben» eine Ausstellung in Kooperation mit der Universität Wien.

Schreiben Frauen anders? Schreiben sie gut? Dominieren Tagebücher, Liebensbriefe und Kochrezepte? Diese Fragen stellen sich nicht erst, seit es Gender-Diskussionen gibt: «Ihr Brief an mich hat mich wirklich überrascht. Einen so ungekünstelten, flüssigen Stil, den Schwung der Rede und die strenge Logik hätte ich bei einem Frauenzimmer im Bregenzerwald nicht gesucht», schrieb im 19. Jahrhundert der Empfänger eines Briefes der Vorarlbergerin Anna Katharina Felder.

War die Schreiberin eine Ausnahmeerscheinung? Alltäglich waren solche Zeugnisse aus Frauenhand sicherlich nicht in Zeiten, als höhere Bildung vor allem dem männlichen Teil der Gesellschaft zugänglich war. Und doch, es gibt sie schon bedeutend länger als den gleichberechtigten Zugang zu Schulen: tiefsinnige, intelligente und also lesenswerte Texte weiblicher Autoren. Lange Zeit waren sie allerdings einzig Eingeweihten oder Fachleuten bekannt, weil nur im Verborgenen privater Archive zu finden.

Es ist das Verdienst geschlechterspezifischer Archive, dieses Schriftgut seit einigen Jahren und Jahrzehnten zu suchen, zu bewahren und öffentlich zu machen. So feierte das Ostschweizer Archiv für Frauen- und Geschlechtergeschichte jüngst sein zehnjähriges Jubiläum. Und auch im Nachbarland ist man diesbezüglich aktiv: Seit 1991 wird am Institut für Geschichte der Universität Wien die Sammlung Frauennachlässe aufgebaut. Ein Teil davon ist nun in eine Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau unter dem Titel «Frauennachlässe. Fragmente aus vielen Leben» eingeflossen. Das Spektrum der Exponate reicht von privaten und offiziellen Briefen wie etwa Kriegspost, Liebesschwüren und Glückwunschsendungen über Impfbestätigungen und Geschäftsbücher bis hin zum Gnadengesuch der Karoline Redler oder einem Schweizer Flüchtlingsausweis für eine KZ-Inhaftierte. Selbstverständlich fehlen auch Tagebücher und Kochrezepte nicht, aber Vermerke wie «Zwiebeln und Zitronen sind an allem gut, wenn mans hat und sonst isst mans doch eher» tragen eher zur Würze der Ausstellung bei als dass sie das Bild der schriftlichen Zeugnisse dominieren. So erfährt man beispielsweise, dass Tagebücher zur Dokumentation eines moralisch einwandfreien Lebenswandels anhalten und Frauen darüber hinaus auf privates Schreiben fixieren sollten.

Das Material ist der Ausstellung ist so durchdacht inszeniert wie der Ort selbst. Das Frauenmuseum ist eines jener architektonischen, zeitgenössischen Kleinodien in Holz, von denen es im Vorarlberg einige gibt – selten aber sind sie öffentlich zugänglich. Die zahlreichen Architekturpreise für das Gebäude sprechen für sich.

Selbst wenn die Architektur sehenswert ist, läuft eine Archivausstellung Gefahr zur unübersichtlichen Zettelsammlung zu verkommen. Da tut es gut, dass nicht jeder verfügbare Quadratzentimeter des mit unbehandelter Weisstanne ausgekleideten Saales genutzt wird, sondern mit Mut zur freien Fläche agiert wird. Und auch mit Gegenwartskunst: So sind in Hittisau drei Positionen zeitgenössischer Künstlerinnen zu sehen, die sich auf ihre Weise mit den Themen der Ausstellung beschäftigen, mit Erinnern, Vergessen, mit eigener und fremder Identität und der eigenen Vergänglichkeit. Die Vorarlbergerin Ines Agostinelli nutzt drei Fotografien aus dem Familienfundus als Ausgangspunkt einer fünfteiligen Installation, die den Betrachter mit fremden privaten Erinnerungen konfrontiert und ihm Projektionsflächen eröffnet.

Noch stärker ins Private geht die Liechtensteinische Künstlerin Sunhild Wollwage mit ihrer Wandinstallation «Ab- und Zufall». Seit zweieinhalb Jahren dokumentiert sie jeden Tag mittels ihrer Kompostabfälle, ihrer Blutdruck- und Pulswerte sowie eines Rings aus um den Finger gewickelten Haaren. Hier paart sich ein ausserordentlich intimer Blick mit einem überaus strukturierten, analytischen Vorgehen.

Architektur, Kunst und Archivalien: Ein Besuch des Frauenmuseums und der aktuellen Ausstellung lohnt sich also auch für jene, die der geschlechterspezifischen Ausrichtung eines Museums skeptisch gegenüberstehen.

Voran ins weisse Nichts

Ein kleiner schwarzer Fleck, pardon, eine kleine schwarze Gestalt eilt übers Papier, Spuren hinterlassend, voran ins weisse Nichts. Doch eilt sie wirklich?

Der Betrachter der Grafik aus der Hand von Nedko Solakov wird vom Künstler eines Besseren belehrt: «Nein, der eilt nicht, er läuft eben so.» Doch woher? Und wohin? Das erfahren wir nicht.

Und so denkt vielleicht der eine an Monty Pythons «Ministry for Silly Walks» oder die andere daran, wie es sich anfühlt, im Tiefschnee zu spazieren. In dieser Vielfalt der möglichen Assoziationen liegt ein Reiz der Solakov’schen Zeichnungen: im Andeuten, Auslassen, Rätsel aufgeben, kurz in der Offenheit, die dem Betrachter eigene Projektionen erlaubt.

Der andere Reiz liegt in ihrem ästhetischen Minimalismus. Ein weisses Blatt, Tusche, ein Zeichengerät, und schon lässt sich so ziemlich alles erzählen. Der Bulgare Nedko Solakov ist bekannt für seine Geschichten. Er realisiert sie in aufwendigen Installationen ebenso wie in minimalen Interventionen – wie in seinen Kommentaren zur aktuellen Sammlungspräsentation «11:1 (+3)» des Kunstmuseums St. Gallen (noch bis 16.8.).

Zu seiner gross angelegten Einzelausstellung dieses Frühjahr im Kunstmuseum hat Solakov die vorliegende Grafik exklusiv für den Kunstverein gestaltet.

«Vielleicht sollte man öfter weggehen»

Schon im Frühjahr des vergangenen Jahres wurde es bekannt, nun ist es soweit: Philipp Egli beendet seine Zeit als Leiter der Tanzkompanie am Theater St.Gallen. Ein Gespräch über Raumgriffe, Fussballfelder und definitive Provisorien.

Vieles hat sich getan seit Philipp Egli 2001 aus Zürich nach St.Gallen kam als neuer Leiter der Tanzkompanie des Theaters, manches ist noch immer pendent. Egli brachte mit seiner Kompanie den neuen, zeitgenössischen Tanz ans Theater, etablierte aus der Raumnot heraus neue Aufführungsorte und sah zugleich Jahr für Jahr verstreichen, ohne eine geeignete räumliche Alternative geboten zu bekommen, wie es beispielsweise die Lokremise gewesen wäre. Da kam der Ruf an die Zürcher Hochschule der Künste im rechten Moment.

Saiten: Sie haben am St.Galler Theater viel bewegt und verändert. Wie blicken Sie auf diese Phase zurück?

Philipp Egli: Ich bekomme momentan viel Dank für meine Arbeit. Scheinbar wurde verfolgt, wo und woran ich arbeite. Vielleicht sollte man öfter weggehen, denn es tut natürlich gut, diese Wertschätzung von vielen Seiten zu spüren. Andererseits hätten wir sicher noch bessere Besucherzahlen gehabt, wenn alle, die meinen Weggang jetzt bedauern, auch zu den Inszenierungen gekommen wären. Wahrscheinlich war es mein Vater, der mir gezeigt hat, worauf es elementar gesehen ankommt: Bei uns im Dorf gab es kein Fussballfeld, sondern nur eine unebene Grube ohne Tore. Die einen wollten der Dorfjugend einen Fussballplatz bauen lassen, die andern – darunter mein Vater – wollten selbst zu Spaten und Schaufel greifen. Selbstverantwortung ist wichtig.

Sie haben in Zürich gearbeitet, in Biel, Lausanne und Brüssel. Welche Qualitäten oder Einschränkungen gab es in St.Gallen im Vergleich zu anderen Städten?

Ich glaube, ich war ein mit typischen Vorurteilen gegenüber St.Gallen behafteter Zürcher. Doch allein schon der Mut seitens des Theaters, sich zu zeitgenössischem Tanz zu bekennen, war überraschend und progressiv. Sicher hatte der eine oder andere im Verwaltungsrat Bedenken, doch nun stehen wir gut da als eine dem Heutigen verpflichtete Tanzkompanie, auch im Vergleich zu anderen Städten dieser Grösse.

Sie haben mit der Kompanie im Rahmen der «Raumgriffe» immer wieder den angestammten
Platz im Theater verlassen.

Die Raumgriffe entstanden einerseits aus Platznot und waren andererseits für das «Off-Publikum» gedacht. Das Publikum ist dann aber trotzdem mehrheitlich aus jenen gewachsen, die auch meine Arbeiten am Theater verfolgten. Angefühlt haben sich die Raumgriffe meist wie freie Projekte. Es musste und durfte viel experimentiert werden und wir haben den jeweiligen Raum zum Bühnenbild gemacht. Dabei spielte auch das Hintergründige eine Rolle, so etwa in der Velowerkstatt die Tatsache, dass es sich um ein Arbeitslosenprojekt §handelt. Bei «Schlafende Hunde wecken» in der Lokremise hatten wir das erste Mal das Gefühl, angekommen und angenommen zu sein. Der anfängliche Kampfgeist war noch spürbar und dennoch war vieles bereits erprobt. Es war ein seltsames «definitives Provisorium», denn es war nie das Ziel, über zwanzig Jahre hinweg Raumgriffe zu machen. Erstens sind spannende Räume nicht unbegrenzt vorhanden, zweitens ging es um die Idee, eine Sparte zu etablieren – das haben wir geschafft. So gesehen ist auch der Tanz im Rahmen der St.Galler Festspiele ein Raumgriff.

Was sind die Schwierigkeiten und Chancen eines solchen Wechsels von der klassischen Bühne in
den künstlerisch unvorbelasteten Raum?

Besonders schön an den Raumgriffen war der Austausch mit Leuten, die hier leben und arbeiten. Als Erstes kam das Theater selbst dran: Das vom Architekten erdachte, bis dahin jedoch zugewachsene Atrium mit dem Stadtpark als Kulisse hat den ersten Raumgriff ermöglicht. Für die Techniker waren die Raumgriffe anfangs ungewohnt. Alles musste organisiert werden, vom Tanzboden über Sitzplätze bis hin zu Strom und Licht. Zugleich durfte das Bühnenbild, der Raum als solcher, nicht zerstört werden. Und scheinbar banale Fragen, wie synchronisierte Probe- und Arbeitszeiten oder sicherzustellen, dass die Feuerwehr während Proben und Vorstellungen einsatzbereit bleibt, brauchten ebenso Erfindergeist wie viel Wohlwollen der Beteiligten.

Immer wieder Thema für das hiesige Tanztheater ist die grosse Mobilität junger Tänzerinnen und
Tänzer.

Ich wollte keine abgestandene Kompanie. Mehr Kontinuität wäre zwar möglich gewesen, aber ich wollte junge Tänzer, die sprühen. Alle suchen Persönlichkeiten ab 25, aber wer soll die denn formen? Es ist mir egal, ob die Leute direkt von der Schule kommen oder schon einiges vorzuweisen haben. Hauptsache, sie sind noch auf der Suche. Es ist eine Bestätigung, wenn meine Tänzer woanders gute Stellen finden, wenn ich im Nachhinein von ihnen höre, dass sie die Zeit in St.Gallen geschätzt haben. Auch Auditions sind ein guter Gradmesser für die eigene Arbeit. Man kennt sich in der Tanzszene untereinander gut und wenn sich herumgesprochen hat, dass es in St.Gallen einen Nährboden für zeitgenössischen Tanz gibt, hat man höhere Teilnehmerzahlen und ein steigendes Niveau an den Auditions.

Sprechen wir noch über Ihre neuen Aufgaben: Sie haben an der Zürcher Hochschule der Künste den
ersten Schweizer Bachelor-Studiengang in Tanz mit aufgebaut und werden Co-Leiter dieser neuen Ausbildung.

Es wird höchste Zeit, dass der Tanz zu einem Beruf und eidgenössisch anerkannt wird. Woanders gibt es solche Studiengänge schon längst. Und dank des nun endlich existenten und in Kraft getretenen Bildungsplanes hat sich auch der unsinnige Graben zwischen klassisch und zeitgenössisch weiter geglättet.Vielleicht sollte man alle sieben Jahre sein Leben ändern. Ich habe das nie bewusst getan, aber es hat sich bei mir so ergeben. Mit 21 habe ich angefangen zu tanzen, mit 28 zu choreografieren, mit 35 bin ich nach St.Gallen gekommen und mit 42 gehe ich wieder und werde die gesammelten Erfahrungen in vorderster Reihe weitergeben können.

Alle einsteigen bitte!

Rachel Lumdsden realisiert im Rahmen der Nextex Projektreihe «Pressure Points» die zweite Ausstellung unter dem Motto «Between Tracks». Zwischen den Gleisen treffen Manchester und St. Gallen aufeinander.

«Meine Damen und Herren, wir treffen in St. Gallen ein. Endstation.» Wer diese Ansage im ehemaligen Badhaus der Eisenbahner neben der Lokremise hört, wundert sich zunächst nicht, ist doch der Bahnhof in Hörnähe. Doch halt; wie sollte es die Ansage aus dem Zuginneren bis ins oberste Stockwerk des Badhauses geschafft haben?

Es ist Stefan Rohners Videoloop «Marble Train», in dem sie erklingt. Der St. Galler ist einer der 15 Künstler in «Between Tracks», des zweiten Teils der von Rachel Lumsden kuratierten Ausstellungsreihe «Pressure Points» in «The International 3» und «The Salford Restoration Office» in Manchester und im Badhaus in St. Gallen. Lumsden bringt Künstler und Künstlerinnen beider Städte zusammen. Doch warum ausgerechnet Manchester und St. Gallen?

Auf den ersten Blick haben die britische Industriestadt und die Ostschweizer Metropole nicht viel gemeinsam ausser ihrer Vergangenheit als Zentren der Textilindustrie. Auf den zweiten Blick ist da noch mehr und vor allem aktuell Verbindendes: Beide Städte sind geprägt von bedeutender kultureller Konkurrenz: Dort ist es London, hier ist es Zürich, das Künstler an- und Aufmerksamkeit abzieht und der Kunstszene eine Abseitsposition beschert. Dass jedoch gerade unter diesen Bedingungen Gutes entsteht, zeigt «Between Tracks» auf vielfache Weise. Überdies ergeben sich durch die Kombination der acht britischen und sechs schweizerischen Künstler spannende Seitenblicke.

Wenn etwa Tim Manchins «Cloud» aus transparentem Klebeband auf Vera Markes Ölbilder trifft, so kontrastieren nicht nur unkonventionelle und etablierte Technik miteinander, sondern es ergibt sich zwischen den fast auf gänzliche Farbigkeit verzichtenden Gemälden und der schwerelosen Wolke eine ästhetische Harmonie. Ebenso gut ergänzen sich Elisabeth Nembrinis Fensterbild und Sarah Sanders performative Zeichnung: Die unzählige Male aneinandergereihten Worte «Slow Fast» wirken wie ein Kommentar zum Abriss des Hauses Leonardstrasse 78. Letzteres ritzte Nembrini in eine mit Quark bestrichene Scheibe des Badhauses, so dass es das stattdessen errichtete Bürogebäude verdeckt.

Auch Harlies Schweizer hat eine Arbeit eigens für die Ausstellung realisiert: Über einem Wandgemälde mit dem Grundriss des Quartiers präsentiert sie kleine Gouachen mit Detailansichten der Umgebung. Die ungewöhnlichen Violett-, Orange- und Grüntöne sorgen für Verfremdungseffekte. So mag sich mancher fragen, ob es jene Strassenecke mit dem grossen Baum und der alten Laterne wirklich gibt, wird vielleicht angeregt, das Viertel wieder einmal abzuschreiten.

Immer wieder fällt auf, wie gut die Arbeiten auf die Ausstellungsräume selbst reagieren, so etwa Louise Adkins‘ «Windmills of your mind» – einem Striptease ins Nichts. Nicht erst, wenn die Tänzerin das letzte weisse Kleidungsstück ablegt und im Schwarz verschwindet, erinnert der ovale Wandspiegel als eines vieler Überbleibsel an die früheren Zeiten des Wohn- und Waschhauses für Eisenbahner. Auch Paul Needham zeigt besonderes Gespür für den Raum. Die Holzvertäfelung bildet den Sockel für seine aufwendige Wandarbeit «A Challenge». In roten Lettern appelliert sie an die Selbstverantwortung des Betrachters. Und wenn es heisst, «Wir müssen jetzt gehen, bevor uns das Gewicht unserer Dinge zermahlt», so lässt sich dies sogar als Ermunterung an jene lesen, die dem Verlust des Bahnhofsquartiers allzu sehr nachtrauern.

Die Ausstellung, in der ausserdem Werke von Andrew Bracey, Evi Grigoropoulou, Hayley Drayton, Herbert Weber, Stuart Edmundson und Mirjam Kradolfer zu sehen sind, wird von einem Kurzfilmprogramm begleitet.