Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Vaduz

Seile, Maschendraht, Stahltonnen oder Winkelprofile – die Materialien sind einfach, industriell gefertigt und verfügbar. Bill Bollinger entwickelte aus ihnen ebenso minimalistische wie vielgestaltige Werke. Das Kunstmuseum Liechtenstein widmet dem 1988 verstorbenen Amerikaner seine erste Retrospektive.

Bill Bollinger? Noch vor zehn Jahren, vor dem ersten grossen Auftritt seines Galeristen Rolf Ricke als Sammler, war der Name des Amerikaners den wenigsten Kunstinteressierten ein Begriff. Dennoch ist Bollinger keine Neu-, sondern eine Wiederentdeckung. In den späten 1960ern wurde er in einem Atemzug mit Bruce Nauman, Eva Hesse und Richard Serra genannt. 1969 war er in Harald Szeemanns „Live in Your Head. When Attitudes Become Form“ in Bern vertreten. In diese Jahre fällt die wichtigste Werkphase des Bildhauers, es ist jene Zeit, die in der Ausstellung in Vaduz im Mittelpunkt steht.

Die Retrospektive war von Beginn an von Schwierigkeiten gesäumt, sie reichten von zunächst nur spärlich vorhandenen Informationen bis hin zur grossen Frage, wie mit wichtigen, aber verlorengegangenen Werken umzugehen sei. Der Ausstellung sind diese Hindernisse nicht anzusehen. Dort, wo Werke rekonstruiert wurden, wurde mit Bedacht vorgegangen. Es sind ausschliesslich Arbeiten nachgebildet, zu denen ausführliche Angaben, das nötige Originalmaterial und die Kenntnis von Zeitzeugen verfügbar waren. Eines dieser Werke bildet den Auftakt der Präsentation: „Cyclone Fence“ besteht aus einem 15 Meter langen, 180° um seine Längsachse gedrehten Maschendraht. Wie eine energiegeladene Woge durchschneidet er den Ausstellungsraum, aufsteigend, wieder abfallend – eine ebenso imposante wie elegante Geste. Auch der über eine gesamte Saalbreite am Boden ausgelegte Maschendraht, ebenfalls eine Rekonstruktion, wirkt dynamisch, fliessend, bewegt. Seine visuell durchlässige Struktur mit verdichteten, optisch vibrierenden Zonen erinnert eher an Darstellungen von Wasser als an Wasser selbst. Letzteres faszinierte den Künstler besonders. Er fotografierte es, füllte es in Schläuche oder Tonnen und spürte der immer wieder dominierenden Horizontlinie nach.

Beinahe beiläufig sprach Bollinger malerische und zeichnerische Themen an und grenzte auch physikalische Beobachtungen nicht aus. Er spannte ein Hanfseil als kräftige Linie über den Boden oder richtete einen Baumstamm auf, um ihn wieder umzustossen. Er liess einen Stamm im Fluss treiben oder verteilte Grafitpigment grossflächig auf dem Boden. Die Arbeiten berühren Zonen der Prozesskunst genauso wie der Minimal Art. Die längst fällige Retrospektive seines Werkes umfasst nur vier Jahre – diese kurze Zeitspanne genügte Bollinger, um ein durch und durch puristisches und radikales Oeuvre zu formen, dem die Ausstellung auf sorgfältige Weise gerecht wird.

Australier eröffnen den Bregenzer Frühling

Der 25. Bregenzer Frühling wartet auch in diesem Jahr wieder mit aufsehenerregenden Produktionen auf. Auf dem Programm des Internationalen Tanzfestivals stehen märchenhafte und visonäre künstlerische Projekte.

Cyborgs und Androide bevölkern Metropolis, Mars oder marschieren durch die Matrix. Sie heissen Maria oder Terminator, Opa Rodenwald oder Lieutenant Commander Data. Dass in der Filmgeschichte fast von Beginn an künstliches Leben und vernunftbegabte Roboter in anthropomorpher Gestalt beherrschende Themen sind, liegt an weit mehr, als am Spannungspotential der Konfrontation von Mensch und Technik. Es liegt an der Frage nach dem Ich.

Was ist menschlich? Was macht ein bewusstes, fühlendes Wesen aus? Wodurch entsteht Identität oder Identitätsbewusstein? Erst angesichts des Fremden, Anderen kristallisiert sich das Ich heraus. Dies funktioniert auf der Leinwand genauso wie auf der Bühne wie die jüngste Choreographie des Australiers Garry Stewart zeigt. Vor elf Jahren übernahm er das Australian Dance Theatre von der ehemaligen Pina Bausch-Tänzerin Meryl Tankard und besticht immer wieder durch ebenso durchgestaltete wie unverwechselbare Produktionen.

Im Rahmen des Bregenzer Frühlings präsentiert er mit dem Ensemble nun „Be Your Self“. Das Stück trägt die Suche nach Selbsterkenntnis bereits im Titel und ist doch viel mehr als das. Es versucht die Balance zwischen Biozentrismus und Künstlichkeit, zwischen Körper und Technik, zwischen Ästhetik und Widerstreben. Garry Stewart setzt dabei ganz auf die Präsenz seiner Tänzer. Inmitten des spektakulären Bühnensettings vom renommierten Architekturbüro Diller, Scofidio + Renfro und der ausgeklügelten Lichtregie behaupten sich die neun Akteure durch ihre virtuose Körperarbeit, ihre technische Perfektion. Die Tänzer werden durch das Bühnenbild fragmentiert und im Gegenzug durch die reduzierten Kostüme von Gaelle Mellis multipliziert. Alle neun Tanzenden tragen zu Beginn weisse Röcke, die sie erst später durch Aufdrucke teilweise als Männer oder Frauen charakterisiert – ein Seitenverweis darauf, dass Identität immer auch eine sexuelle und eine Genderkomponente hat.

Für Stewart ist der Körper die klarste und offensichtlichste Existenz des Subjekts in der Welt. Und auch in „Be Your Self“ muss er sich am Anderen messen. Er verschwindet im Dunkel oder unter den weissen Stoffbahnen des Bühnenbildes. Sekundengenaue, synchrone Bewegungen erfolgen vor ausgeklügelter Klangkulisse. Der Körper wird durch Filmsequenzen ersetzt, um dann wieder energiegeladen und kraftvoll das Feld zurückzuerobern. Mal scheint er mechanisch bewegt, mal fremden Kräften unterworfen, dann wieder zeigt er sich in seiner ganzen Natürlichkeit und Vitalität.

Dieser Kontrast wird auf ganz andere Weise, deutlich radikaler und ebenso schlüssig auch in der Performance „bODY rEMIX“ der Choreographin Marie Chouinard umgesetzt. Das Bewegungsvokabular des klassischen Balletts muss sich hier am „Prothesengott“ beweisen, wie Freud das „Mangelwesen Mensch“ betitelte. Krücken, Stangen oder an Turnhallenelemente erinnernde Utensilien sind den Tänzerinnen und Tänzern Stütze und Hindernis. Der Körper arbeitet sich am Requisit ab und am menschlichen Gegenüber: Zwei Tänzerinnen sind mitunter mit je einem Bein aneinander bandagiert. Zwischen all dieser Schwere, dem Geknechtet- und Gebundensein gibt es wundervoll leichte Momente, die auch hier wieder jenes Andere umso stärker hervorheben. Schönheit und Deformation vermögen es kaum, sich die Waage zu halten, und fügen sich doch zu einem untrennbaren Gesamtbild zusammen.

Ganz anders bei der Produktion „Blanche Neige/Schneewittchen“ von Angelin Preljocaj. Hier ist selbst der (versuchte) Mord noch ein Fest für die Augen. Kein Wunder. Bei dieser Interpretation des Märchens ging es weniger darum, neue Wege zu beschreiten, als vielmehr Schönheit als solche zu zelebrieren – ein zentrales Thema des gewählten Stoffes. Dazu passt auch, dass man für die Kostümgestaltung keinen Geringerem als Jean-Paul Gaultier verpflichtete. Opulentes Dekor, dramatische Effekte – wie schon mit „Be Your Self“ und „bODY rEMIX“ wartet hier der Bregenzer Frühling ein drittes Mal mit einem Gesamtkunstwerk auf.

Einen bekannten Stoff setzt auch „Babel (Words)“ um, das die Sprachvielfalt als Metapher für die Kulturvielfalt nimmt. Der eigentliche Turmbau wird dabei (das Bühnenbild gestaltete der in Vorarlberg bestens bekannte britische Künstler Antony Gormley) ebenso eindrucksvoll wie spielerisch umgesetzt und der kulturelle Reichtum von 13 Tanzenden aus 13 Ländern findet in mächtigen synchron getanzten Gruppensequenzen Ausdruck.

Der Blick zurück in biblische Erzählungen findet seine Entsprechung in der Zukunftsphantasie des aktionstheaters ensemble – die Uraufführung beim diesjährigen Bregenzer Frühling. Kontraste auch hier: Angstszenarien und die Träume einer besseren schönen neuen Welt treffen schonungslos aufeinander. Die „Zukunftsmaschine“ wird in Gang gesetzt und wir dürfen uns fragen, welches unsere Visionen sind.

Geheimnisvolle Bilderrahmen

Die Ausstellung Fünfstern-Schauplatz ist mehr als ein Künstlerarchiv. Auf interaktive Weise lädt sie dazu ein, die Werke von 290 Künstlern und Künstlerinnen in Augenschein zu nehmen, die demnächst ihre Ateliers öffnen.

Der Anblick ist verblüffend: Wer die beiden Stockwerke bei «Kultur im Bahnhof» betritt, wird von Dutzenden, ja Hunderten schwarzer Rahmen empfangen. Sie hängen neben- und übereinander, bilden auf- und abwogende Reihen vor den weissen Wänden. Ein jeder der Rahmen ist angeschrieben mit Name und Adresse einer Künstlerin oder eines Künstlers, die beim diesjährigen Fünfstern-Projekt (siehe Kasten) mit dabei sind. Hier im Galeriebereich des Bahnhofsgebäudes treffen ihre Werke für einen Monat lang aufeinander. Zumindest virtuell, denn Form und Grösse der Rahmen legen zwar nahe, dass es sich um Bilderrahmen handelt, aber Bilder sind keine zu sehen.

Noch nicht; nicht ohne Hilfe des Betrachters. Erst wer einen der Rahmen von der Wand nimmt – dies ist für einmal nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erbeten –, ihn auf eine der drei weissen Tischplatten legt, wird Bilder sehen: Nach einem kurzen Moment erscheinen in dem ausgewählten Rahmen nacheinander bis zu acht Bilder, die der jeweilige Künstler oder die Künstlerin eigens für die Präsentation ausgewählt hat. Ganz egal, wo der Rahmen auf dem Tisch plaziert wird, die Bilder finden ihn immer. Noch einmal macht sich Überraschung breit. Wo ist die Technik versteckt? Wie funktioniert denn das? Welche Bewandtnis hat es mit dieser aussergewöhnlichen Art, Kunst vorzustellen?

Wie so oft, wenn etwas völlig Neues in grossem Massstab entsteht und umgesetzt wird, braucht es gute Ideen und ein gutes Team. Brigitte Kemmann, Projektleiterin von Fünfstern, hatte für die offenen Ateliertage 2007 fast zweihundert Dossiers eingefordert, aufbereitet und im ehemaligen Projektraum exex zugänglich gemacht. Vier Jahre später und nochmals 200 Dossiers umfangreicher sollte sich niemand mehr durch Akten kämpfen müssen – weder das Organisationsteam, noch die Besucher. Brigitte Kemmann schwebte eine interaktive, aufsehenerregende Lösung, ein bisschen Geheimagenten-Atmosphäre vor. Dafür holte sie Softwarespezialisten Patrick Jost und Grafiker Jürg Waidelich ins Team. Grosse interaktive Glaswände sind es zwar nicht geworden, aber die St. Galler Künstlerin Andrea Vogel hat mit den beweglichen Bilderrahmen der Technik eine lustvolle Ästhetik verliehen. Die federleichten Rahmen lassen sich herumtragen, über den Arm hängen und stapeln. Sie sind handlich und robust. Und sie bieten ein universelles Passepartout für alles, was da von Bildhauern, Malern, Fotografen, Modell- oder Instrumentenbauern, von Glas-, Medien- oder Textilkünstlern eingereicht wurde. Andrea Vogel zeigt mit ihrem eigenen Rahmen, wie sich selbst darin noch eine eigene Arbeit entwickeln lässt, indem sie ein Porträt von Bild zu Bild modifiziert.

Nun wird vielleicht der eine oder die andere Informationen zur Biographie der Künstler und Künstlerinnen oder zu den Werken vermissen; doch diese Wissenslücke ist durchaus einkalkuliert und lässt sich leicht schliessen. Die Bilderrahmen sind als Einstieg gedacht, sollen Interesse wecken und funktionieren als ein Puzzlestein im grossen Informationsangebot, zu dem auch die Fünfsternwebseite und eine Beilage zur Ateliertour gehören. Indem sämtliche weiterführende Informationen aussen vor bleiben, sprechen die Bilder für sich und erreichen gewiss so manchen, der bisher nicht zum Atelier- oder Vernissagenpublikum gehörte. Dies war auch der Hintergedanke bei der Auswahl des Ausstellungsorts: An sieben Wochentagen und oft bis in die späten Abendstunden kommen sie hier alle vorbei, die Sprachenschülerinnen, Kochkursbesucher, Tanzkursabsolventen und Fahrlehrerinnen. Sie alle lassen sich hoffentlich dazu verführen, die schwarzen Rahmen mit vielen Bildern zu füllen und bei einem Atelierspaziergang das Ganze noch live zu entdecken.

Rheinaus Geheimnisse

Im Museum im Lagerhaus sind Pläne von Erfindungen, beschriftetes Besteck, ein Kinderkittelchen aus Matratzenfüllmaterial und viel Rätselhaftes mehr zu sehen. Gezeigt werden – zum ersten Mal öffentlich – Werke aus der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau.

«Nachahmung verboten!» Gute Ideen sind wertvoll und Heinrich B. ist sich des Marktwertes seiner Erfindungen sicher. Ob Brückenkonstruktionen, Auto-Postschlitten mit Propeller oder Kompressormotor – alles versieht er mit Patentnummer und der Warnung an potentielle Nachahmer. Doch seine Projekte werden nie über das Planungsstadium hinausreichen. Sie werden bis zur aktuellen Ausstellung «Rosenstrumpf und dornencknie» im Museum im Lagerhaus nicht einmal den Ort ihrer Projektierung verlassen: Heinrich B. war von 1913 bis 1926 Insasse der Pflegeanstalt Rheinau.

Nach Rheinau wurden Menschen eingewiesen, die als unheilbar geisteskrank galten. Ziel der Einweisung war es jedoch nicht, die Menschen zu heilen, zu behandeln und wieder zu entlassen, sondern sie unterzubringen und zu versorgen. So gab es auch keine eigentliche Behandlung. Immerhin wirkten sich der geregelte Alltag und die landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit positiv auf viele der 1200 Patientinnen und Patienten aus. Für einen Menschen wie Heinrich B. war dies jedoch kaum der richtige Ansatz. Selbstbewusst weigerte er sich, ohne Entlohnung zu arbeiten und widmete sich statt dessen seinen Studien. Thematisch ist er mit einem elektrischen Herd oder einer magnetischen Schwebebahn auf der Höhe der Zeit, gleichzeitig verfolgt er visionäre Ansätze wie etwa den eines Ein-Personenluftschiffes. Allen Arbeiten gemeinsam ist die präzise Ausführung: Sie sind akkurat mit Tinte gezeichnet und wirken sehr sicher in der Darstellung technischer Details. Darüber hinaus überzeugen sie in ihrer Anlage, der Reihung und Ordnung der Details.

Die Ausstellung räumt den Arbeiten Heinrich B.’s zu recht einen grossen Platz ein. Dies gilt auch für die kostbaren Stickereien der Johanna Natalie Wintsch. Bereits im Herbst vergangenen Jahres waren ihre sowohl typographisch wie auch formal überzeugenden Tücher in einer Einzelausstellung im Museum im Lagerhaus präsent. Das Wiedersehen macht Freude.

Wintsch ist eine der wenigen, die Rheinau als «sozial geheilt» wieder verlassen konnten. Dass sie sich der Welt ausserhalb der Anstalt bewusst waren, beständig den Kontakt suchten und oft auch die Hoffnung der Rückkehr hegten, zeigen jedoch viele der Kranken. Berührend sind beispielsweise die Lebensbeschreibungen von Anna Z., die unter anderem die entwürdigende Fahrt in die Anstalt beschreibt. Leider können in der Ausstellung und dem begleitenden Katalog nur Bruchstücke aus ihrem lebendigen Bericht wiedergegeben werden. Auch von Lisette H. gibt es nur weniges zu sehen, dieses aber ist umso eindringlicher in seiner Präsenz. Die fünffache Mutter verlor von einem Tag auf den anderen ihre Erinnerung und glitt in eine unvorstellbare Einsamkeit. Und doch scheint etwas in ihren Arbeiten aus dem früheren Leben auf, wenn sie mit nur einem Streichholz aus Matratzenfüllmaterial ein Kinderkittelchen häkelt. Ein Objekt, so irritierend fragil, so zeichenhaft und so ausdrucksstark.

Lange Zeit blieben die Kreationen der Patientinnen und Patienten sowohl der Fachwelt als auch der Öffentlichkeit gänzlich unbekannt. Vieles ist unwiederbringlich verloren. Von Hermann M. wurden 85 Arbeiten aufbewahrt, die zwischen 1925 und 1933 entstanden. Obwohl er auch in den folgenden zehn Jahren ununterbrochen zeichnete wurden nur zwei Blätter aus jener Zeit aufgehoben. Dabei sind seine Werke nicht nur Zeit- und Anstaltszeugnis, sondern höchst verdichtete Poesie und Schriftkunst.

Wort und Ornament sind zu einem stimmigen Ganzen verwoben. Immer wieder tauchen leichtfüssige Reime auf. Besonders beeindruckend sind jene Blätter M.’s in denen er tagebuchartige Notizen zu grafischen Serien ordnet. Sie nehmen in der radikalen Reduktion und der kompromisslosen Wiederholung die seriellen Arrangements Peter Röhrs aus den 1960er Jahren voraus. Jener fügte Sprachbeiträge der Rundfunksender in Tonmontagen aneinander, M. hingegen die Details der Anstaltsroutine. Hier wie dort tauchen Pegelstände auf und Seewassertemperaturen. Hier wie dort bedeutet Redundanz nicht Langeweile, sondern formale Strenge und ästhetisches Konzept.

Letzteres verfolgt auch Adolf W. auf sehr akribische, stringente Weise. Er hinterliess zwei Alben mit Porträts von Bahnpersonal. Und zwar ausnahmslos von Schnauzbartträgern, die in je einem Tondo dargestellt und mit Namen und Berufsstand bezeichnet sind. Alle gleichen einander sehr auffällig und sie tragen flügelartige Schatten über den Schultern. Wie diese Viellinge bleibt auch so manch anderes in der Ausstellung rätselhaft. Hinzu kommt das eindrucksvolle Wechselspiel von solchen Werken, die gänzlich aus der Zeit fallen und allen Kategorisierungsversuchen widerstehen, und solchen, die sich über beinahe hundert Jahre hinweg als aktuell und aussagekräftig erweisen – «Rosenstrumpf und dornencknie» vereint Heterogenes und zeigt Tiefgründiges.

Das Unfassbare am Schwanz gepackt

In der Ausstellung «Mit Seife und Gabeln» im Kunstraum Kreuzlingen sind dreissig Positionen zu sehen. Alle kreisen um die unkontrollierbare oder auch tragische Seite des Glücks.

Solltest du wirklich ein Schlarg einmal finden, bring’s jedenfalls heim!/Gib ihm Haferkornschleim!/Denn es dient dir, um Licht zu entzünden./Jage das Schlarg deshalb mit kleinen Terzen,/mit Gabel und Hoffnung, mit Seife und Scherzen!/Jage das Schlarg!/Jag‘ es mit Güte und mit Fingerhüten![…]/Und lock es mit Lächeln in Tüten! – Michael Ende, nach Lewis Carrolls «Hunting of the Snark»

Für die einen ist es der Schlarg, für die anderen der Schnatz, für Lewis Carroll ist es der Snark, dem sie hinterherrennen, die lieben Leute, den sie aber nicht finden. Den sie zu bezirzen versuchen oder zu bestechen, zu zwingen oder zu kaufen. Die Meisten jedoch nennen dieses unfassbare und doch so ersehnte Etwas: Glück.

Tanja Trampe und Daniela Petrini forschen dem Glück seit über drei Jahren nach, dem Glück als Phänomen, seinen ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Gefährdungen.

Die beiden Absolventinnen der der Zürcher Hochschule der Künste arbeiten seit ihrer Diplomarbeit über «Ermittlungen über das hartnäckig-formidable und kreative Potential des parasitären Prinzips» zusammen. Nun wäre es naheliegend gewesen, das Ergebnis der Recherchen, den sogenannten kompletten Glückskomplex im Rahmen einer Ausstellung zu präsentieren, doch das entspräche nicht dem Parasitären Prinzip, dem sich die beiden verschrieben haben. Sie arbeiten als data | Auftrag für parasitäre* Gastarbeit und wollen sich nachhaltig einnisten, ausbreiten und vor allem Denkanstösse geben. Deshalb wurden andere Künstlerinnen und Künstler zur Mitarbeit gebeten. In der Ausstellung «Mit Seife und Gabeln» im Kunstraum Kreuzlingen werden 30 von ihnen nun zu sehen sein.

Ein umfangreiches Projekt also zu einem noch viel umfangreicheren Thema. Da kommt es auf eine gute Struktur, einen Ansatzpunkt an, der das Ganze weder beliebig, noch zu verkopft daherkommen lässt. Die beiden Frauen aus Zürich und Lörrach widerstanden erfolgreich der Versuchung, wissenschaftliche Fakten abzubilden oder gar zu viele Facetten eines ohnehin kaum greifbaren Zustandes erfassen zu wollen. Statt dessen fanden die beiden Künstlerinnen und Kuratorinnen einen literarischen Ausgangs- und Kernpunkt für ihre Glückssuche: Schon 2003 stiessen sie auf Lewis Carrolls «The Hunting of the Snark» von 1876, im Untertitel «Eine Agonie in acht Krämpfen». Geleitet von einem Ausrufer segeln acht unglückliche Glücksuchende und ein Biber herum, arbeiten sich gesellschaftlichen Zwängen ab, oszillieren beständig zwischen Hoffnung und Verzweiflung und sind ein jeder für sich gefangen in seinen ureigenen Ängsten. Schliesslich finden sie das Alter Ego des Glücks, das Boojum, dass seinen Entdecker prompt verpuffen lässt.

Trampe und Petrini faszinierte besonders die koordinatenlose Ozeankarte mit der sich die Protagonisten der Nonsenseballade auf den Weg machen. Die Karte kann als Sinnbild für die Transzendenz des Glücks ebenso gelesen werden wie für die Allgegenwart eines unerklärlichen Dinges. Vielleicht ist es gerade darum so reizvoll für eine künstlerische Auseinandersetzung.

Immer wieder kreisen die ausgestellten Arbeiten, von denen einige eigens für dieses Projekt entwickelt wurden, um die unkontrollierbare, absurde oder auch tragische Seite des Glückes oder um sein Gegenstück. So bietet etwa Edward Wright ausgehend von den Zwängen täglicher Umgangsnormen eine Aggressionsplattform im wohlsituierten Rahmen der Malerei und bändigt in seinen Bildern gleich einem Dompteur die Gefühlsausbrüche der Protagonisten. So mancher verklärt die Vergangenheit als alleinseligmachende Zeit. Hier hilft beispielsweise Bettina Carl weiter. In ihren Papierarbeiten scheinen subjektive und kollektive Jugenderinnerungen auf, sie bieten eine Reflexionsebene für die Sehnsüchte, die sich aus dem Blick zurück speisen. Dem, was vielen als der Inbegriff des Glücks gilt, widmet sich unter anderen Sebastian Schaub: Was tun, wenn ich morgen im Lotto gewinne? Der Zürcher Künstler visualisiert in seinen aquarellierten Umsetzungen von Lottoscheinen das Spannungsfeld zwischen der unendlichen Hoffnung und dem kleinen Stück Papier, das hier ins Riesenhafte vergrössert wird. Einen weniger konkreten, aber nichtsdestoweniger reflektierten Ansatz wählt Ursula Palla mit ihrer Videoarbeit «Die Taube hat sich geirrt». Subtil führt sie auf Angst und Freiheitsverlust beruhende Machtverhältnisse vor. Schafft die Taube aus eigener Kraft den Neustart? Tierisches auch bei Andy Storchenegger, dessen «vom Glück übermannte» Katze bereits in der Eröffnungsausstellung des neuen NextEx zu sehen war. Hängt an ihrem Schwanz gar das Boojum? Wirkt sie deshalb so seltsam erstarrt?

«Mit Seife und Gabeln» wirft Fragen auf und ist geprägt vom lustvollen Spiel mit Definitionen und Emotionen. Also Hände gewaschen und Esswerkzeug gepackt, fixiert und aufgespickt – vielleicht lässt sich das Glück in Kreuzlingen erwischen, doch Vorsicht, vielleicht ist es auch nur sein Kontrapart, der einen dann sachte und plötzlich verschwinden lässt.

Neue Kunst im Haus Pelikan

Das Visarte-Ost-Projekt Nextex und die Redaktion von «Saiten» sind nach dem Wegzug vom Blumenbergplatz in der Schmiedgasse 15 angekommen. Die neuen Räume werden mit der Gruppenausstellung «Neue Räume» eröffnet.

Es wäre ein schönes Bild: Das neue Nextex als Bienenstock, als Anflugstelle und Produktionsstätte, eifriges Getümmel drinnen und drum herum. Die Bienenmagazine vor dem Haus Pelikan besitzen allerdings kein Einflugloch. Dafür sind sie mit Flaggen verschiedener Monarchien bemalt. Köfer/Hess liefern einen hintersinnigen Wink auf die Verbindungen zwischen Monarchien und verweisen mit den flexibel gestaltbaren Magazinen gleich auf die Doppeldeutigkeit des Ausstellungstitels «Neue Räume».

Die Räume in der Schmiedgasse sind für alle Beteiligten neu. Erst seit wenigen Wochen residieren hier das Nextex und das «Saiten»-Büro. Noch herrscht in manchen Ecken Zügelatmosphäre, noch muss die Website angepasst werden, aber das gesamte, schon durch Wilma Lock kunsterprobte Stockwerk lebt bereits durch seine neuen Mieter. Herzstück ist die neue Bar. Dort, wo die Galeristin zuvor ein Grafikkabinett eingerichtet hatte, hängt lässig eine gezeichnete Küchenschürze am Haken, hüpft ein Känguru aus dem Weiss ins Schwarz, hängen warme Glühbirnen über einem Kaffeehaustisch. Sonja Hugentobler hat einen sehr stimmigen, einladenden Raum geschaffen.

Doch auch alle anderen Künstler eröffnen mit den präsentierten Arbeiten neue Räume. Darüber hinaus ist ihnen ihr regionaler Bezug gemeinsam und dass sie noch nicht im exex oder Nextex gezeigt wurden. Das Spektrum der Arbeiten ist gross. Cécile Hummel lädt ein zu einem Spaziergang durch büchergefüllte Regale und die «casadellaprofessa», die älteste Bibliothek Siziliens. Jedes Buch eröffnet einen neuen Raum – ein Gedanke, der durch die Einblendungen von Prozessionen noch verstärkt wird.

Leo Holensteins Teppich über einem nicht identifizierbaren Objekt ist ebenso geheimnisvoll wie pragmatisch, während Jon Etter zeigt, was ist: Seine Fotografien von gestalteten Landschaften, von technischen und industriellen Bauten zeigen befremdliche, zugleich fragile Eingriffe: Schon wachsen wieder Bäume im Beton. Fragil auch die Gebilde in den beiden Gemälden aus Vera Ida Müllers Serie «Kartenhäuser». Die reduzierten Farbtöne, Pinselstriche und Konturen entsprechen den vergänglichen, teilweise bereits eingestürzten Kartenhausbauten.

Immer wieder gibt es solche Querverbindungen zwischen den Werken, so findet etwa Holensteins Teppich seine Entsprechung in der Stahlskulptur David Bürklers: Faltenwurf hier – Gefaltetes dort.

Im nächsten Raum präsentiert Nicole Böniger ein fünfteiliges Gemälde. Oder sind es fünf Einzelbilder, die da mit Silberlack übersprayt wurden? Eine spannende Arbeit. Gleiches gilt für Michèle Thalers kleine Filzstiftzeichnung «Schlaflose Nächte» mit dunklen Farben und an Amöben erinnernden verwobenen Formen.

Neue Räume scheinen besonders gefährdet, Fragiles zeigt denn auch Christian Lippuners Bild einer sehr vage bleibenden Begegnung zweier Menschen. Auch die Tanzende in Nora Rekades Video bleibt verborgen, und zwar in ihrer eigenen, vorn geschlossenen Kapuze – eine Studie über Medienwirkung und Ich-Gefühl.

Bernhard Tagwerkers Lithographieretuschen sind experimentelles Ergebnis technischer Recherche. Andy Storchenegger schliesslich gibt sich rätselhaft mit der ausgerechnet durch einen Luftballon beschwerten Katze.

Eine gemeinsam und sorgfältig kuratierte Gruppenausstellung macht also den Auftakt am neuen Ort. Der Nextex-Vorstand hat damit gleichzeitig die Chance zu intensiven gemeinsamen Gesprächen und Weiterdenken der eigenen Arbeit genutzt. So bleibt zu erwarten, dass die weissen Wände nicht mehr lange so unangetastet bleiben.

Noch scheint der Respekt vor den ehrwürdigen Räumen nachzuwirken. Doch schon bald wird sich das Nextex richtig eingefühlt haben, wird mehr wagen und gemeinsam mit «Saiten» eine unkonventionelle Kulturzelle in der Altstadt bilden.

Fünf mal fünf mal viele

Das Gastatelier des Sitterwerks beherbergte den Kölner Andreas Karl Schulze. Er hat eigens für den Raum eine minimalistisch-poetische Farbinstallation entwickelt. Heute lädt das Sitterwerk zum offenen Atelier beim Künstler ein.

Malerei kann so vieles sein und braucht doch so weniges. Das Werk von Andreas Karl Schulze ist dafür ein anschauliches Beispiel. Im Sitterwerk hat der Kölner Künstler das Gastatelier in einen Raum der leisen und doch markanten Töne verwandelt. Töne – das sind bei Schulze in erster Linie Farbnuancen, denen aber beim zweiten Hinsehen und Nachspüren etwas sehr Rhythmisches, Taktgebundenes anhaftet wie es sowohl die Musik als auch die Poesie auszeichnet.

Da sind etwa jene zwei Arbeiten, die vom Boden bis zum oberen Wandabschluss reichen: kleine, farbige Quadrate in klarer und doch lebendiger Reihung, links, rechts, grün, blau, rosa, violett, immer weiter hinauf oder hinunter. Mehr nicht, und doch so viel. Man ist sofort versucht, ein System zu entdecken. Das Auge spaziert an der Wand entlang, das Hirn aber findet kein Ordnungsprinzip und meldet statt dessen Freude an den Farbwechseln, den Farben selbst, an der Nonchalance und der Geradlinigkeit des Werks.

Seit 1993 arbeitet Andreas Karl Schulze mit den kleinen farbigen Quadraten – ein jedes mit einer Kantenlänge von genau fünf Zentimetern. Sie werden stets installativ verwendet, sind also raumgreifend und ortsbezogen. Der Ausgangspunkt ist jedoch pure Malerei: Ein auf einen Keilrahmen aufgezogener, fester Baumwollstoff (Segeltuch) wurde beidseitig in vielen Schichten mit einem monochromen Farbton bemalt. Der Künstler hat sich über die Zeit eine umfangreiche Skala erarbeitet, aus der er für die Arbeit im Sitterwerk zwölf Farben auswählte. In kleinen Kartonschachteln hatte er sie aus dem heimischen Kölner Studio mitgebracht; stapelweise angeordnet in eben jenen kleinen Quadraten. Denn nach dem eigentlichen Malakt verselbständigt sich die Malerei: Die monochromen Leinwände werden in hundert Teile zerschnitten, die sich wiederum in den Raum hinein ausbreiten. Dabei überlagern sich zwei Grundideen: eine folgt dem Prinzip des Zufalls, die andere ist bewusste Komposition.

Der deutsche Künstler hat immer einen Würfel im Gepäck, der bei vielen, wenn auch nicht allen Arbeiten die Farbwahl bestimmt. Die eigentliche Plazierung der räumlichen Interventionen jedoch erfolgt durchdacht und wird ausserordentlich präzis umgesetzt. Neben den beiden wandhohen Farblinien fallen beispielsweise zwei Quadrate über einem scheinbar beiläufig positionierten Hocker auf – Rosa und Hellgrün über Rot.

Andreas Schulze bezieht sehr gern spezifische Objekte ein. Er aktiviert vorgefundene Dinge oder Situationen und überführt sie in ein dreidimensionales Bild. So ergeht es auch jener in den Raum hineinragenden Ecke, auf der nun ein kleines Türmchen aus Farbquadraten wächst und die zuvor kaum wahrgenommen wurde; oder den Stahlprofilen, die hinter dem Atelierhaus lagern und vom Doppel-T- zum Farbträger mutieren. Plötzlich sind sie da. Schulze sensibilisiert, macht aufmerksam auf Dinge, die so selbstverständlich sind, dass sie zuvor eigentlich unsichtbar waren.

Manchmal ist seine Arbeit auch beinahe nicht zu sehen: Nur an einem Bindfaden drehen sich im Windhauch der Vorbeigehenden winzige Papierschnipsel, deren kariertes Raster an bestimmten Stellen farbig gefüllt ist. In der Bewegung wechselt die Farbe wie auf der Winkerkelle eines Kondukteurs. Diese Mobiles sind eine Neuentwicklung, mit denen Andreas Karl Schulze erstmals in den Raum hineingeht. Gleichzeitig bringt das den spielerischen, humorvollen Aspekt des Ganzen auf den Punkt, oder in diesem Falle das Quadrat.

Eine von 24 schönen Aussichten

Der Verlust ist nicht so leicht zu verschmerzen, umso mehr, da das Gefühl überwiegt, es wäre nicht allzu schwierig gewesen, ihn zu verhindern: Die St. Galler Stadtwerke haben die Filterhalle des Wasserwerks in Goldach abgebrochen. Es wurde nicht informiert, es wurde nicht diskutiert, es wurden Tatsachen geschaffen. Hätte der Abbruch sonst verhindert werden können? Das ist sicher, war die Filterhalle, ein Bau des Betonspezialisten Robert Maillart, doch sowohl technisch wie auch ästhetisch ein Meisterwerk. Sie bestand aus mehreren, halb unterirdischen Becken und einer schrägen Hallendecke, getragen von pilzförmigen Stützen – eine aufsehenerregende Konstruktion. Zwar war stand sie nicht unter Denkmalschutz, wurde aber in der internationalen Fachliteratur gewürdigt und ist im Inventar der neueren Schweizer Architektur aufgeführt. Nun ist sie weg, unwiederbringlich. Das Entsetzen ist gross, nicht nur in Fachkreisen, aber vor allem dort. So etwa bei Jürg Conzett. Erst in diesem Sommer bespielte der Ingenieur anlässlich der Architekturbiennale in Venedig den Schweizer Pavillon. Statt eigene Werke in den Vordergrund zu rücken, präsentierte er gemeinsam mit dem Fotografen Martin Linsi  mehr als vierzig technische Bauten in der Schweizer Landschaft in Fotografien, Texten und Modellen. Robert Maillart, Schöpfer der Filterhalle und Pionier der Brückenbaus, war da selbstverständlich auch Thema.

Conzett, gebürtiger Aarauer mit Büro in Chur, analysierte anhand von Brücken, Stegen und Stützmauern die Wechselwirkungen von Konstruktion, Tradition, Ökonomie und Landschaft – ein höchst anspruchsvolles, von Sachverstand und Leidenschaft getragenes Unterfangen. Auch die Sitter- und Goldachbrücken fanden Aufnahme in Ausstellung und Publikation. So schaffte es St. Gallen also bereits im vergangenen Sommer bis nach Venedig, und wird auch im kommenden Jahr auf sehr sympathische Weise dort vertreten sein: Giovanni Carmine wurde von Biennale-Direktorin Bice Curiger ins Kuratorium der kommenden, der 54. Biennale in Venedig geholt. Den Tessiner Kurator traf es völlig überraschend, Curiger hingegen verfolgt seine Arbeit schon lange und ist sehr beeindruckt von seinen Projekten. Seit 2006 leitet Carmine die Kunsthalle St. Gallen. Nun wird der Ruf nach Venedig einmal mehr auch der Kunsthalle erhöhte Aufmerksamkeit bringen – eine Chance nicht nur für die Institution, sondern auch für das Kulturleben in der Stadt.

Wiedersehen

‹Ausgang als Ausweg› — der Titel von Philipp Eglis aktuellem Stück hätte auch als Motto seines Ausstiegs beim Theater St.Gallen stehen können. Jetzt kommt er mit ihm nach St.Gallen — in die Lokremise.

Als Egli im Jahr 2008 den Entscheid traf, auf 2009 die künstlerische Leitung der Tanzkompanie Theater St. Gallen abzugeben, war immer wieder auch die Rede von der Lokremise: Der verzögerte Umbau belaste die Tanzsituation in St. Gallen sehr.

War der Weggang Eglis — er folgte einem Ruf an die Zürcher Hochschule der Künste — nötig?
Auf jeden Fall war es ein Puzzlestein im Vorfeld der positiven Entscheidung für die Lokremise. Es war ein Zeichen, das der Tänzer und Choreograf setzte, ein Zeichen, das ihn jetzt stolz macht, Mitauslöser gewesen zu sein: Ein gutes Jahr später, nachdem Philipp Egli das Theater St. Gallen verlassen hatte, wurde die Lokremise eröffnet.
Und Philipp Egli bleibt ihr treu.

Sechs Jahre, nachdem er die Lokremise mit dem ‹Raumgriff IV› entdeckte, dort ‹schlafende Hunde weckte›, ist er nun wieder da mit seinem neuen Stück: ‹Ausgang als Ausweg›. Es feierte bereits im April in Zürich Premiere, entwickelt wurde es jedoch von Anfang an auch für die Lokremise, den Ort, der Egli nach wie vor ans Herz gewachsen ist. ‹Ich freue mich auf die Lokremise und auf die Chance, ein Stück ohne eine Kompanie machen zu dürfen.› Ein Stück, mit zwei Tanzenden, einer davon ist Egli selbst, die andere Kuan Ling Tsai aus Taiwan.

Das Stück thematisiert die komplexen Geflechte einer Beziehung. Was bedeutet es, sich zu verstehen, was, sich zu verlieren? Wo fängt eine Beziehung an, wo hört sie auf, was gehört zu ihr? Wie weit können oder müssen zwei aufeinander zugehen, um sich zu finden? Es geht um Konflikte und Konzentration, um das Alleinsein und um die Zweisamkeit. Letztere findet ihre Entsprechung nicht nur in der Anzahl der tanzenden Akteure, sondern auch der
Musiker. Das St. Galler Klavierduo Ute Gareis und Klaus-Georg Pohl begegnet dem Tanz musikalisch. Die beiden Pianisten werden zu Mitstreitern oder Gegenspielern, setzen Kontraste und formen Stimmungen mit.
Dazu kommt eine dritte Ebene: Projektionen kommentieren das Spiel. Bewegungsabläufe werden gedoppelt und verstärkt, um dann im Video wieder zu verblassen. Was bleibt, ist die Präsenz der Tänzer. Einmal mehr zeigt Egli statt des klassischen Guckkastentheaters eine lebendige Produktion. Damit nicht genug, im Rahmen von ‹Tanzplan Ost› ist er in diesem Dezember gleich nochmal auch als Tänzer zu erleben: in der Produktion ‹Les Affluents› des renommierten Tanzpädagogen und Choreografen Philippe Saire. Philipp Egli wird dort einer der acht Tanzenden sein.

Schön, dass du wieder hier bist, Philipp.

LOK Zeitung No. 2 (Dezember, Januar, Februar 2011)

Wie viel Nähe ist möglich?

Philipp Egli zeigt in der Lokremise sein aktuelles Tanzstück «Ausgang als Ausweg». Nach seinem Weggang als Tanzchef am Theater St. Gallen ist er erstmals wieder mit einer Tanzproduktion hier präsent.

Philipp Egli ist wieder da. Wieder auf der Bühne der St. Galler Lokremise. Im Duo mit der Taiwanerin Kuan-LingTsai zeigt er seine aktuelle Produktion «Ausgang als Ausweg». Das Stück erzählt weniger eine Geschichte, als dass es Zustände, Emotionen und Reaktionen auslotet. Egli untersucht komplexe Beziehungsstrukturen. Solche finden sich in Paargeflechten genauso wie in Teamkonstellationen, sie betreffen Geschlechterstereotypen ebenso wie instinktive Verhaltensmuster. Die Choreographie verwebt all diese Aspekte zu einer stimmigen Gesamtaussage.

Den Beginn macht eine geöffnete und wieder verschlossene Tür. Einer ist entronnen. Wem oder was ist nicht wichtig, viel dringender ist es, zu sich selbst zu kommen. Kaum ist das geschafft, gerät das fragile Gleichgewicht wieder ins Wanken, denn eine Frau taucht auf, will getragen, gehalten, aufgerichtet werden. Damit ist ihr passiver Part dann aber glücklicherweise auch gleich wieder vorüber. Es folgen Phasen in denen beide Philipp Egli und Kuan-LingTsai im völligen Einklang agieren. In anderen wird das eigene Tun, das Entwickeln einer Choreographie reflektiert. In wieder anderen zitieren beide Tanzenden spielerisch und humorvoll den klassischen Pas de Deux. Das alles ist Tanzen als lustvolles Tun – ein Genuss für das Publikum im vollbesetzten Zuschauerraum.

Doch es gibt auch Phasen, in denen der Tanz nicht im Mittelpunkt steht. Da ist zum einen die Musik, die einen ganz entscheidenden und immer wieder auch selbständigen Part übernimmt. Verantwortlich dafür ist das St. Galler Klavierduo Ute Gareis und Klaus Georg Pohl. Die beiden Pianisten spielen auf gewohnt hohem Niveau und sie sind deutlich mehr als die das Stück begleitenden Musiker. Sie begegnen dem Tanz als Mimen, sind Mitstreiter, Gegenspieler oder Gegenpol, sie gestalten Situationen aktiv mit oder verstärken sie, in anderen Passagen übernehmen sie hingegen selbst das Diktat. Mitunter ist ein Musiker einem der beiden Tanzenden zugeordnet, dann wieder verweben sich die Fäden.

Als wäre dieser immer wieder neu ausbalancierte Zweiklang von Tanz und Musik nicht schon anspruchsvoll genug, gibt es als dritte Ebene die Videosequenzen (Ruth Schläpfer). Auf einer sechsteiligen Projektionsfläche sind die eben getanzten Bewegungsphrasen noch einmal in einem herbstlichen Waldstück statt in der Lokremise zu sehen – Natur versus Kultur. Dann Kunst versus Technik: Die Tänzer werden in Live-Einstellungen stark vergrössert und aus der Vogelperspektive gezeigt.

Auch als narrative Spur wird die Videoprojektion eingesetzt, wobei die entworfenen Bilder mitunter etwas überladen daherkommen und der Kraft der tänzerischen Abstraktion entgegenwirken.

Im vielfältigen Spiel aus überblendeten, synchron laufenden oder sich ergänzenden Spuren sind Konstanten wichtig. Eine ist selbstredend das hohe tänzerische und musikalische Niveau der vier Akteure, eine andere sind inhaltlich motivierte Schlüsselszenen. Im Zentrum steht die Frage der Annäherung: Wie viel Nähe ist möglich? Wie viel Nähe ist nötig? Wohin führt Nähe? Egli findet dafür einen ebenso schönen wie aussagekräftigen Ausdruck, indem er die Redewendung «auf jemanden stehen» wörtlich umsetzt. Sie steht nicht nur auf ihn, sie steht auf ihm, er steht zu ihr, steht ihr bei. Dann verlieren sie sich wieder, um sich erneut zu finden. Dies hat eine starke zeitliche Komponente, die Egli durch sehr persönliche Rückblicke akzentuiert: er erzählt, erzittert, frohlockt, verführt – er tanzt bis die Bilder auf der Projektionswand zum weissen Rauschen verblassen. Die körperliche und spielerische Präsenz der Tänzer und Musiker hingegen wird noch nachwirken.