Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Alltag, Anbetung, Anzeigen

Marianne Rinderknecht zeigt in der Galerie Paul Hafner Werke aus der Zeit ihres Atelieraufenthaltes 2010 in Varanasi und neu entstandene Werke. Indische Lebensrealität setzt die St. Galler Künstlerin in neue Kontexte.

Die Malerei geht spazieren. Schon längst hatte sie bei Marianne Rinderknecht das traditionelle Tafelbild verlassen, sich auf der Wand ausgebreitet oder ungewohnte Formate besetzt. Nun geht sie noch einen Schritt weiter: Die Malerei selbst begibt sich auf Wanderschaft, mit ihr die Farben, Motive, ja die Leinwand sogar. Die beiden letzteren sind dabei identisch, denn die St. Galler Künstlerin hat zum Messer gegriffen. Sie hat die grundierte Leinwand in runde oder ovale Formen geschnitten und dann bemalt. Kräftiges Rot und Gelb trifft auf Hauttöne, Hellblau auf Altrosa, Giftgrün, Pink und Violett setzen Akzente. Wie Kugelalgen mit Tochterzellen, Planetensysteme oder Mandelbrotmengen kreist die Malerei nun in delikaten Farben über Wand und Boden.

Auffällige, ausgetüftelte Farbspiele sind längst ein Merkmal von Rinderknechts Kunst. Angst vor Farben? Das schien nicht ihr Problem zu sein. Doch selbst Marianne Rinderknecht bemerkte, das Potential noch längst nicht ausgereizt zu haben. Die Augen dafür öffnete ihr der Aufenthalt im Atelier der schweizerischen Städtekonferenz Kultur (SKK) in Varanasi in Indien: „Es gibt dort keine Kombination, die falsch ist. Dort habe ich Farben aufgetankt.“ Und nicht nur das.

Marianne Rinderknecht ist in das vielfältige Geflecht aus uralten Überlieferungen und profanen Bildern, aus Alltag und Anbetung eingetaucht. In den Strassen und Gassen der Millionenstadt sammelte sie mit der Kamera vor allem Ansichten von Wandmalereien. Deren Sujets – hinduistische Götter, Werbung, Verzierungen – und andere Versatzstücke der indischen Lebensrealität hat die Künstlerin in neue Kontexte gesetzt. In der Galerie Paul Hafner treffen in einer Installation aus verschiedenen Formaten und Präsentationsebenen nun beispielsweise Zahnpastareklame, ein von Fliegen umschwirrter brauner Haufen, Ornamente und heilige Tiere aufeinander. Durch die malerische Umsetzung werden die heterogenen Themen zu eben jener Nähe wieder zusammengeführt, die für den hiesigen Betrachter zunächst befremdlich scheinen mag, die aber die Szenerie in Varanasi beherrscht.

Anderes wiederum, das hier selbstverständlich ist, trifft in Indien auf Erstaunen. Malen auf Karton oder Papier etwa. Nicht nur, dass die Materialien schwierig zu beschaffen waren, obendrein wurden sie von einem indischen Kunstprofessor als wertlos bezeichnet. Marianne Rinderknecht reagierte darauf auf ihre Weise: Sie malte kleine Beschützer, sogenannte Babas, auf 102 Zehnrupiescheine. Aus jedem der meist vergilbten, abgegriffenen Scheine blickt nun eine orangefarbene Figur mit Augen und Stirnpunkt heraus. Mal ist sie handteller- mal daumengross, und stets belächelt von Mahatma Gandhi oder rückseitig bewacht von Tiger, Nashorn und Elefant.

Unbefangen hinterfragt Rinderknecht die Vorstellung vom Wert des künstlerischen Materials und nimmt fast nebenbei noch den gesamten Wertschöpfungsprozess in der Kunst aufs Korn.

Sowohl inhaltlich als auch formal hat Marianne Rinderknecht neue Wege eingeschlagen und weit mehr mit nach St. Gallen gebracht als die in Varanasi entstandenen Werke. Insbesondere an den neuen Farbeindrücken arbeitet die Künstlerin weiter. In der aktuellen Ausstellung zeugen davon mehrere Arbeiten: Punkte und Kreise wogen über das Bild und bringen die Augen beinahe zur Verzweiflung. Die Farbe pulsiert, die Kreise schwingen, Nachbilder oszillieren auf der Wand, Scharfstellen ist unmöglich. Bis an die Überreizung des Auges tasten sich Rinderknecht beim Malen und die Betrachter beim Sehen heran. Und was passiert danach? Die Künstlerin wird es ausprobieren und die Betrachter mit ihr.

Facetten der Arbeit

Karin Bühler aus Trogen und Ursula Palla aus Zürich sind mit künstlerischen Beiträgen an der Kulturlandsgemeinde 2011 vertreten. Beide Künstlerinnen zeigen die Arbeit aus ungewohnten Perspektiven.

Arbeit und Schlaf – beides scheint einander auszuschliessen. Die Kulturlandsgemeinde 2011 thematisiert das eine, Karin Bühlers eigens für diesen Anlass entwickeltes Werk das andere – so zumindest wirkt es auf den ersten Blick. Doch wenn die Trogener Künstlerin im Spiel ist, darf getrost davon ausgegangen werden, dass es um mehr geht als die Konfrontation zweier konträr wirkender Themen.

Karin Bühler ist stets auf der Suche nach verborgenen Zusammenhängen, nach dem, was nicht offensichtlich, aber dennoch hochwirksam ist. Statt zu illustrieren, was auf der Hand zu liegen scheint, arbeitet sie sich subversiv, gleichsam von der Rückseite her an den Ausgangspunkt heran. So ist die ausführliche vorausgehende Recherche ein gemeinsames Merkmal ihrer Arbeiten. Das heisst nicht, dass es den spontanen Einfall nicht gäbe. Beides geht eine Symbiose ein. Da ist einerseits die Informations- und Materialsammlung, für die Karin Bühler Archive, Bibliotheken und das Internet durchforstet. Andererseits ist da jener Augenblick, in dem der zündende Gedanke sich einstellt. Der jedoch kommt nicht unbedingt dann, wenn man seiner harrt. Er lässt sich nicht zwingen. Er kommt, wenn die Alphawellen fliessen.

Karin Bühler hatte längst beobachtet, dass es jene kreativen Momente gibt, in denen die Informationen strömen, jene Momente erhöhter Erinnerungs- und Geistestätigkeit, die zusammenfallen mit Phasen der Entspannung. In ihren Nachforschungen stiess sie auf Anekdoten, Fallbeispiele und zahlreiche Untersuchungen der Neurowissenschaftler und Biophysiker zu diesem Phänomen eines höheren Bewusstseinszustandes.

Entspannung ist also nicht gleich Entspannung und Schlaf nicht gleich Schlaf. Gut möglich, das einer hinter seinen geschlossenen Augenlidern die grosse Idee ausbrütet, jenen zentralen Punkt im Selbstverständnis von Künstlern und Künstlerinnen. Karin Bühler hat sich dem Ziel verschrieben, das Wesen dieser Idee zu erforschen. Sie interessiert das Immaterielle, das hinter allen Arbeiten steckt. So illustrieren die schlafenden Menschen in Bühlers  Kulturlandsgemeindebeitrag „Quasi aus dem Nichts“ nicht einfach das klassische Nickerchen. Ob auf auf der Flughafenbank, auf dem Schaltpult, vor der Tatstatur, in der U-Bahn, in Gruppen oder einzeln, jung oder alt, weiblich oder männlich: Diese rhythmisierte Bilderfolge von Tagschlafenden öffnet einmal mehr jenen unendlich grossen Raum jenseits der fass- und sichtbaren Dinge. Und wenn der letzte der vier Werkteile mit der Feststellung schliesst „Ideen entstehen, wenn das Denken ruht.“, hat jeder Betrachter und jede Betrachterin eine Reise hinter sich, die ihn oder sie vielleicht selbst durch jenen produktiven Entspannungszustand geführt hat.

Handfester geht es da bei Ursula Palla zu. Da stapelt beispielsweise eine junge Frau Teller um Teller aufeinander, bis das ganze Porzellanbauwerk in sich zusammenfällt. In einer anderen Sequenz, färben Arbeiter Blumen und Gräser. Weisse Nelken, Astern oder Rosen werden in Farbbäder getaucht, ausgeschüttelt und verpackt. Natürliche Schönheit verwandelt sich in Austauschware und Sondermüll.

Immer wieder interessiert sich die Zürcher Künstlerin für die Spuren, die Arbeit hinterlässt, und den Wert, der ihr zugemessen wird. Immer wieder scheinen Gegensatzpaare in Pallas Werken auf: Arbeit kann als zerstörerische oder aufbauende Kraft wirken. Bezahlte Arbeit steht der Hausfrauenarbeit gegenüber. Auch die künstlerische Arbeit hat zwei Seiten. Palla untersucht das komplexe Verhältnis zwischen künstlerischem Tun und dem Resultat einerseits sowie öffentlicher Wahrnehmung, Vermittlung und Wertschöpfung andererseits. Dafür fügt sie Fotografien ganz unterschiedlicher Provenienz zueinander, Aussen- und Aterlieraufnahmen, Aufnahmen von Akteuren und Betrachtern. Das Ergebnis sind Bildfolgen von hoher Suggestivkraft, in denen es weniger darum geht, Antworten zu geben, als vielmehr Denkanstösse zu liefern. Die Besucher der Kulturlandsgemeinde sind also eingeladen, ihren Teil zur Arbeit beizutragen.

Kein Trick, sondern Arbeit

Das Filmprogramm zur Kulturlandsgemeinde 2011 zeigt, dass Trickfilmkünstler und -künstlerinnen wissen, wo Arbeit drin steckt.

Was haben ein Wiesel, ein Autor und eine Urgrossmutter gemeinsam? Sie haben zu tun. Jeder und jede auf seine ganz besondere Weise, die freilich noch spezieller ist, wenn Animationsfilmer ihre Hand im Spiel haben.

Das Mardertier, der Kreative und die alte Dame sind die Protagonisten dreier Kurzfilme aus dem Filmprogramm für die Kulturlandsgemeinde 2011. Kuratiert hat es das Team von Fantoche, dem Internationalen Festival für Animationsfilm in Baden. Das Thema „Arbeit, fertig los“ wurde dabei zunächst einmal sehr persönlich genommen, denn Trickfilmkünstler sind seltsame Arbeitstiere. Sie kneten, zeichnen, animieren, sie fügen eine unendliche Zahl von Einzelbildern zusammen, die schliesslich in wenigen Minuten über die Leinwand oder den Bildschirm rauschen. So dauern die kürzesten der 10 ausgewählten Filme gerade mal 45 Sekunden – genug Zeit für den Angestellten in den „Low Morale“-Episoden von Laith Bahrani, sich genervt, frustriert und gekonnt ins Jenseits zu befördern. Befreit, aber auf ganz andere, auf positive Weise ist schlussendlich auch Adrian Flückigers Wiesel. Wie das sympathische Tierchen seiner rotgelbgrünen Monotonie entrinnt, hat schon so manchen Festivalbesucher begeistert.

Aber auch Indifferenz und Tristesse werden nicht ausgeblendet. Wo der Mensch nicht mehr wert ist, als der Boden, den sein Fuss berührt, und wo Traumschlösser in den Tod münden – dort wird ebenfalls gearbeitet.

Breit ist auch das Spektrum der Techniken. Es reicht von der Flashanimation bis zu Stop Motion. Ein grafisches Highlight ist Lotti Bauers „I can see the dust“: Geometrische Formen visualisieren die Fleckwegberichte anonymer Putzfrauen. Ein Thema, zu dem auch Louise einiges zu sagen hätte. Im letzten Film begleiten wir das fast hundertjährige Grosi der Animationsfilmerin Anita Lebeau durch den Tag. Und wenn sie berichtet, dass sie ihren Samstag geschafft habe, weil sie schon am Vortag mit ihrem Samstag begonnen habe, so ist dies näher am Leben als die Theorien so mancher Zeitmanagementgurus.

Ein Kartenständer voller Träume

Im Zusammenhang mit der Ausstellung «Sehnsucht Süden» dürfen Kinder im Kunstmuseum Postkarten zum Thema Ferien gestalten. Das Projekt ist eingebunden in das museumspädagogische Angebot des Hauses.

Den Sonnenuntergang fürs Grosi? Oder lieber das Grand Hotel? Und den Glockenturm für Onkel Ueli? Fürs Götti mal etwas Ausgefalleneres? Aber was?

Im Sommerurlaub ruft sie wieder, die selbstauferlegte Pflicht: Selbst jene, die im Alltag nur noch mit Tastatur und Touchpad kommunizieren, greifen zu Stift und Karte. In fünfsechs Zeilen versichern sie den Lieben daheim, wie schön es ist, nicht daheim zu sein.

Aber was, wenn einem das Kartensortiment am Ferienort zu kitschig, zu altmodisch oder zu nichtssagend ist? Im Kunstmuseum St. Gallen gibt es Abhilfe. Passionierte Kartenschreiber können sich dort schon vor den Ferien mit Postkarten eindecken, die so richtig Urlaubslaune verbreiten.

Die Auswahl ist gross. Da gibt es Klassiker wie den Strand und den Sonnenuntergang, aber auch Unterwasserszenen, eine grinsende Sphinx, Kühe, Zelte, Urwaldtiere und für besonders langfristig Planende auch Schneesportfreuden.

Für einen Fünfliber ist eine jede Karte wohlfeil, denn ihr Erwerb dient einem guten Zweck. Das Geld aus dem Verkauf spendet das Kunstmuseum dem Kinderhilfswerk Kovive. Kovive lädt Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen dazu ein, bei Gastfamilien und in Ferienlagern in der Schweiz unbeschwerte Ferien zu verbringen.

Mit selbstgestalteten Postkarten setzen sich nun St. Galler Kinder selbst für ihre Altersgenossen ein. Sie zeichnen, malen, kleben, drucken. Sie bringen ihre eigenen Ferienträume ins DIN A6-Format und spenden sie hernach für den Verkauf im Kunstmuseum. Hier werden nicht nur die Blankokarten zur Verfügung gestellt, rückseitig wie die Pendants aus dem Strandkiosk mit Adresslinien und Urhebervermerk bedruckt, sondern das Team des Kunstmuseum entwickelte auch das Gesamtkonzept: Die Postkartenaktion ist eingebunden in das museumspädagogische Programm zur aktuellen Ausstellung «Sehnsucht Süden» – ein Thema, bei dem die meisten Kinder einen Anknüpfungspunkt finden und eine Brücke zum eigenen Erleben schlagen können. Warum fahren wir in die Ferne? Womit fahren wir? Wie fühlt es sich an, woanders zu sein? Fragen aus der Lebenswelt der Kinder stellen den ersten Bezug zu den ausgestellten Werken her und lassen sich weiterdenken. Warum fahren Künstler in die Ferien? Was suchen sie an einem Ort so anders als der, an dem sie daheim sind? In den dialogischen Führungen nähern sich die Kinder den Arbeiten von Roman Signer, Christoph Rütimann, Claude Monet oder Michael Bodenmann an und machen ganz eigene Entdeckungen. Es gibt kein richtig und kein falsch, stattdessen werden das genaue Sehen, die Phantasie und der kreative Ausdruck gefördert. In diesem Zusammenhang steht auch die Postkartenaktion. Es geht nicht darum, das Erarbeitete zu repetieren, sondern den eigenen Ferientraum zu Papier zu bringen. Dies kann auch völlig unabhängig von einer Führung geschehen, denn die Blankokarten liegen im Museum an einem eigens eingerichteten Arbeitstisch oder zum Mitnehmen aus. Die fertigen Postkarten hingegen locken im Kartenständer ihre Käufer oder bei der Auktion im Rahmen des Internationalen Museumsfestes am 15. Mai 2011 um 16 Uhr.

Den unsicheren Bedingungen ausgesetzt

Das Museum im Lagerhaus zeigt Arbeiten, die auf der Strasse entstanden sind. Von Künstlerinnen und Künstlern, die ihr Werk abseits von Fördergeldern und warmen Ateliers erschaffen.

Franziska Messmer-Rasts Porträtfotografien zeigen eine alte Frau mit schlohweissem seidigem Haar und mildem Blick. Das Idealbild eines Grosi – wäre da nicht immer wieder diese unendliche Verlorenheit in den Augen, wären da nicht statt der Enkel der vollbepackte Trolley an der Hand, statt der Schwarzwälder Torte Papier und Stift auf dem Gasthaustisch. Beate Stanislau schreibt, zeichnet, malt – und sie lebt auf der Strasse.

Als Stanislau kurz vor dem Fall der Mauer der DDR den Rücken kehrte, verliess sie gleichzeitig Familie, geregeltes Leben und feste Bleibe. Sie ist seither unterwegs und doch gibt es eine Konstante: Ihre Arbeit, ihr Zeichnen und Schreiben. Hier reflektiert sie ihr Leben, beobachtet, begibt sich aber auch in mythische, poetische und kosmische Sphären. Als Stanislau bei Bekannten noch Lagermöglichkeiten hatte, entstanden grossformatige vielfarbige Bilder, meistens von starken Frauen in dynamischen Posen. Oft wirken sie deformiert und doch strahlen sie Lebensfreude und Kraft aus. Mittlerweile ist Stanislau vollständig auf Kleinformate umgestiegen. Mit Filzstiften zeichnet sie städtische Szenen ebenso wie Ansichten des Zürichsees und fast ihre Eindrücke in Texte. Im Museum im Lagerhaus türmen sich Kartonschachteln voller Material. Sorgfältig sortiert und verschnürt ist es selbstverständlicher Teil der Ausstellung und zeigt beiläufig, aber nicht weniger eindringlich Stanislaus Lebenssituation.

Beate Stanislaus umfangreiches Werk, aber auch die prekären Umstände, unter denen es entsteht, bilden das Zentrum der Ausstellung „Zu Hause auf der Strasse“ im Museum im Lagerhaus. Daneben sind Arbeiten der St. Galler Bobby Moor und Jan-Piet Graf, der Zürcherin Nina Wild und zwei Gemälde des Zürchers Ahmed zu sehen. Sie alle arbeiten unter Bedingungen, die so unterschiedlich sind wie ihre Biografien, und sich doch auch gleichen. Oft fehlt eine räumliche Konstante, fehlt Platz oder ein Rückzugsort. Doch so unsicher die äusseren Bedingungen auch sein mögen, die entstandenen Werken werden mit grösstmöglicher Sorgfalt behandelt. Beispiel Nina Wild: Ihr Zuhause sind Notschlafstellen oder die „Brot-Stube“ der Sozialwerke Pfarrer Sieber. Wild verwandelt T-Shirts und Pullover aus der Kleidersammlung in schillernde, aussagekräftige Kreationen. Da wird gestickt und gemalt und geglättet. Daneben hält Wild ihre jeweilige Bleibe mit der Digitalkamera fest. Die Aufnahmen bestechen durch ihre dokumentarische und dennoch sehr intime Sicht auf die eigenen Habseligkeiten. Auch Bobby Moor hat in der Kamera ein geeignetes Medium gefunden, um sehr Persönliches auszudrücken. Mit dem Mobiltelefon nimmt er auf, wie er mit der Hand den feuchten Sand am Meeresstrand berührt. Der Negativeffekt verfremdet die Bilder und zeigt zugleich auch das Besondere an dem scheinbar so selbstverständlichen Kontakt von Haut und Elementen, denn Bobby Moor spürt erst seit dem erfolgreichen Entzug wieder die Qualität einer solchen Begegnung mit der Natur.

Die Begegnungen mit Menschen und jene mit sich selbst sind es, die Jan-Piet Graf motivieren. Grosse Formate benötigt er dafür nicht. Ihm genügen Skizzenbücher, Notizblöcke oder die unbedruckten Bierdeckel aus dem Schwarzen Engel. Erlebnisse und Gedanken werden in Wort und Bild eingedampft auf kleinstem Raum. Überschreibungen machen alles noch konzentrierter, noch dichter. Immer aber behalten die Notationen eine Struktur, sind virtuose Schriftkunststücke mit ornamentaler Wirkung.

Lange hat Monika Jagfeld, Leiterin des Museums im Lagerhaus, das Projekt vorbereitet. Es gab Bedenken, ob ein solches Projekt missverständlich rezipiert werden würde. Es tauchten logistische Probleme auf. Es waren Recherchen auf ungewohnten Wegen notwendig. Inhaltliche und künstlerische Fragestellungen mussten bedacht werden. Die Kuratorin bezeichnet ihre Ausstellung als Experiment – und tatsächlich ist eine Ausstellung entstanden, die es so noch nie gegeben hat. Sie untersucht Verbindungen von Lebensläufen und kreativem Potential, die Klassifizierungen durch den Kunstbetrieb und die Gesellschaft, die Wahl des künstlerischen Mediums und vieles mehr. Bewusst werden nicht alle Fragen beantwortet, Weiterdenken ist erwünscht.

Machen oder machen lassen

Mit «So machen wir es» zeigt das Kunsthaus Bregenz Werke, die sich mit den Themen der zeitgenössischen Lebenswelt auseinandersetzen – von Andy Warhol bis zur jungen Kunst.

Kunst entsteht aus Kunst. Oder aus Alltagsdingen. Letzteres gilt insbesondere, seit die Kubisten die ersten Collageelemente in ihre Bilder integrierten. Kurz darauf kannten die Dadaisten keine Grenzen mehr, wenn es darum ging, Fragmente des realen Lebens in die Kunst zu überführen. Von Duchamps legendärer «Fountain» bis hin zu Max Ernsts verwandelten Romanillustrationen oder Kurt Schwitters‘ Merzbildern mit allerlei Zeitungs- und sonstigen Schnipseln – das Spektrum ist breit und es hat nachfolgenden Künstlergenerationen ein riesiges Aktionsfeld eröffnet.

Nicht zu jeder Zeit zeigten Künstler das gleiche intensive Interesse an Versatzstücken aus der Realität, aber immer wieder kumuliert es. Ein Höhepunkt liegt in der Zeit der Pop Art. Hier setzt die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Bregenz ein.

Andy Warhol dient als anschauliches und bestens bekanntes Beispiel dafür, wie Populärkultur und Gesellschaft mit eben jenen reproduktiven Mitteln ins Bild gesetzt werden, mit denen sie auch ausserhalb der Kunst verhandelt werden. Viermal Elvis, 36 Freiheitsstatuen – Warhol machte den Siebdruck, die Wiederholung und die verfahrensbedingte Fehlstelle kunsttauglich. Eine der wesentlichen Fragen von «So machen wir es» ist denn auch jene nach der Technik und ihren Folgen: Wie wirkt sich aus, ob ein Kunstwerk gemalt, in Holz gehauen oder aus Fundstücken zusammengetragen wurde? Die Frage nach der Originalität ist dabei längst obsolet. Spannender ist es, das Wechselspiel zwischen Handgefertigtem und Industrieware zu untersuchen, und zwischen eigenen und vorgefertigten Bildern.

Warhol nutzt immer wieder den hohen Wiedererkennungswert der Vorlagen. Bereits bei ihm fällt auf, was für viele spätere Arbeiten gilt: Die gute Typographie einer Anzeige, der Zeichencharakter einer Abbildung, der Symbolwert eines Motivs, die ja alle bereits das Produkt eines kreativen Prozesses sind, bieten eine ebenso anregende wie stabile Basis für die künstlerische Inbesitznahme. Wenn etwa Kelley Walker die Anzeigenserie eines weltweit bekannten Automobilherstellers durchlöchert, funktioniert dies nur, weil sie stets erkennbar bleibt.

Besonders spannend werden die Aneignungen dann, wenn es vielschichtige Überlagerungen gibt. Richard Princes Cowboyserie etwa, von der ein Teil auch auf den Billboards im Bregenzer Stadtraum zu sehen ist, widmet sich nicht einfach der Ästhetik der Zigarettenwerbung. Wichtiger noch ist die reflektierte Übertragung perfekt inszenierter, einen Mythos begründender Bilder in die Kunst. Das Ganze funktioniert aber auch andersherum: Kunst wird für Werbung adaptiert, und dies ist wieder interessant für die Künstler. Martha Roslers Serie «Bringing the War Home: House Beautiful» konfrontiert «Schöner Wohnen»-Interieurs mit Vietnamkriegsbildern. Die im bürgerlichen Wohnraum gezähmte Avantgarde gerät durch die Ausblicke auf grauenvolle Szenen wieder in Aufruhr. Doch nicht nur solche Klassiker sind es, denen das Augenmerk der Ausstellung gilt. Auch die junge Szene nimmt die vielfältigen Angebote der Konsumindustrie auf. Simon Denny, Tobias Kaspar oder Danh Vo integrieren Filmwelt, Prominente und Markennamen in ihre Kunst. Sie dienen ihnen als Anregungen für geistreiche, eigenständige Aussagen. Da die Angebote in der Medienwelt sich multiplizieren, darf mit so mancher künstlerischen Neuinterpretation und Anverwandlung gerechnet werden.

Mutationen anderer Art sind im Erdgeschoss des Kunsthauses Bregenz zu sehen. Im Rahmen der KUB Arena sind hier zwei der prominentesten Vertreter der städtebaulichen Avantgarde der 1960er-Jahre dialogisch präsentiert. Der Franzose Yona Friedman und der Bregenzer Eckhard Schulze-Fielitz entwickelten visionäre Lösungsansätze für Probleme des Städtebaus. Grundlegende Idee ist es, flexible Strukturen vorzugeben, in denen die künftigen Bewohner ihre Umwelt nach eigenem Ermessen gestalten können.

Aufschlussreich ist die Präsentation eines Archivs mit Schneckenhäusern, Muscheln, Kristallen und Kiefernzapfen neben Schulze-Fielitz‘ Modellen. Verwandelt in einen geometrischen Nukleus, bilden die organischen Formen den Ausgangspunkt der Raumstadtentwürfe. Das Modulsystem ist auch der Kern der Arbeiten Yona Friedmans. Längst haben seine Ideen zur Selbstorganisation und deren Visualisierung Kunststatus. Und so weist auch seine Proteinic Structure – Space Chain (2010) weit über das Modell hinaus. Die fragile raumgreifende Plastik mit integrierten Fotografien ist ein eindrückliches Bild für Friedmans Gespür für Individualität und das menschliche Mass.

Fülle aus dem Verzicht

In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Friebe werden Werke zweier Karlsruher gezeigt. Sabine Funkes Gemälde und Karlheinz Bux´ Zeichnungen gehen ein spannendes Wechselspiel ein.

Sabine Funkes Gemälde leuchten. Rein aus der Farbe heraus entwickeln sie eine Strahlkraft, die schon so manchen Betrachter verblüfft fragen liess, wo sich die Lichtquelle verberge. Das Geheimnis liegt aber vielmehr der Künstlerin untrüglichem Gespür für Farbe, für ihre Kraft und Materialität, ihre Tonwerte und ihre Kontrastpartner und in Funkes Arbeitsweise.

Formal sind die Gemälde denkbar einfach aufgebaut: Sie bestehen aus rechteckigen Flächen – ausschliesslich vertikal und horizontal, also in Korrespondenz zur gesamten Bildfläche angeordnet. Die Flächen sind jedoch nicht als solche ausformuliert, sondern sie entstehen aus der Überlagerung vieler, vieler Farblasuren, deren Konturen abgeklebt werden. Sie sind also als offene Felder angelegt und verändern sich immer wieder durch neue überlagernde Schichten. Untere Farbebenen scheinen durch, obere scheinen zu schweben, Grenzen zwischen den Farbtönen lösen sich auf und sind an anderer Stelle wieder ausformuliert.

Wollte man Sabine Funkes Gemälde schwarzweiss abbilden, wäre kaum mehr als eine einheitlich graue Fläche zu sehen. So strahlend die Farben sind, so nah beieinander liegen ihre Tonwerte. Der Helligkeitskontrast ist nahezu aufgehoben. Ein Beispiel: Jener an altertümliche Miederwäsche erinnernde Ton kommuniziert mit zarten und gleichzeitig kräftigen Grüntönen. Gebrochene Farbe neben luzider, gedeckte neben frischer; und doch bleibt alles im Gleichgewicht der Helligkeit. Dass dies funktioniert, hat viele Gründe. Die Bilder sind das Ergebnis von Intuition und Experiment, von Erfahrung und Studium. Funkes Bilder sind pure Farbe, pure Malerei.

Eine grosse monografische Ausstellung der Karlsruher Künstlerin lief unter dem Titel „diafan“. Dieser Begriff war im 19. Jahrhundert gebräuchlich um den Lichtcharakter der Farbe in Kirchenfenstern zu beschreiben. Er steht für „durchscheinend, lichtdurchlässig“ und kennzeichnet treffend den Charakter von Funkes Bildern, obwohl sie kein Glas verwendet.

Bei Karlheinz Bux´ Werken hingegen spielt das Glas eine ganz entscheidende Rolle. Der zweite Künstler in der aktuellen Ausstellung der Galerie Friebe zeichnet auf satiniertes Weissglas. Mit einem Bleistift des Härtegrades 9H fügt er Linie an Linie an Linie. In früheren Werken gehen die Linien verschlungene, mäandernde Wege, in den aktuellen Arbeiten verwendet der Karlsruher ausschliesslich vertikale, mit dem Lineal angelegte Striche. Selbige werden mal mehr, mal weniger eng gesetzt. Dadurch ergeben sich Verdichtungen, Graunuancen, Zonen der Auflösung. Motivisch ist damit fast alles möglich. Mitunter wird gegenständliches angedeutet, oft bleibt es abstrakt, manchmal überlagert sich beides.

Bux lässt sich von spontanen Anregungen lenken, nimmt Veränderungen an, bleibt offen für Impulse. So sind die Werke das Ergebnis eines bewusst wahrgenommenen Prozesses, einer Entwicklung. Dies ist nur eine der Parallelen seiner Arbeit mit der Sabine Funkes. Eine weitere ist das Schweben, das bei Funke die Farbfelder auszeichnet und bei Bux durch die Montage des Glases wenige Millimeter vor der Wand entsteht. Und schliesslich ist da drittens die Reduktion, die bei beiden Künstlern erst recht eine Fülle von Möglichkeiten hervorbringt. Bux lotet allein durch die Vertikale unzählige motivische Gestaltungsmöglichkeiten aus. Funke richtet das Augenmerk ganz auf die Farbe, ihre unendlichen Inversionen und Angebote: Selbst wenn das Bild gemalt ist, bleibt da noch das Farbempfinden des Betrachters. Ein und dasselbe Rot ist für jeden ein anderes Rot. Farbe ist relativ.

Bill Bollingers Wiederentdeckung

Bill Bollinger gehörte zu den wichtigen Prozess- und Minimal Art-Künstlern der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Dann geriet er in Vergessenheit. Das Kunstmuseum Liechtenstein widmet ihm nun die längst fällige Retrospektive.

Immer wieder gibt es Entdeckungen – sogar in der wissenschaftlich bestens aufbereiteten Kunst des vergangenen Jahrhunderts. Überraschend ist dies besonders dann, wenn es sich bei dem Entdeckten um einen Künstler handelt, der Ende der 1960er Jahre zu den wichtigsten Bildhauern seiner Zeit gehörte. Bill Bollinger wurde seinerzeit in einem Atemzug mit Grössen wie Bruce Nauman, Eva Hesse oder Richard Serra genannt. Doch was passierte dann?

Bei Bollinger führten soziologische, private und wirtschaftliche Gründe  dazu, dass sich sein künstlerisches Interesse verschob und er nicht länger im Zentrum der Kunstszene präsent war. Nachdem sich 1971 seine Frau von ihm getrennt hatte, begann um das Sorgerecht des gemeinsamen Sohnes ein langer, kostenintensiver Streit. Als der Künstler diesen 5 Jahre später gewonnen hatte, zog er von New York nach Minneapolis und nahm dort er einen Lehrauftrag am College of Art and Design an. Viele weitere Ortswechsel folgen.

Bollinger hatte sich in die Peripherie begeben, auch mit seinen Arbeiten. Als er 1988 alkoholkrank starb, war er ein völlig unbekannter Künstler. Zu Unrecht, wie sich spätestens jetzt im Kunstmuseum Liechtenstein feststellen lässt. In einer umfangreichen, sorgfältig entwickelten und gut präsentierten Ausstellung wird die Kernphase von Bollingers Schaffens gezeigt.

Es sind Arbeiten aus allen wichtigen Werkgruppen zu sehen: Typische amerikanische Ölfässer sind mit Wasser gefüllt und mit Schläuchen verbunden. Die Wasseroberfläche bildet einen schillernden Film vom Rost und den Rückständen in den Fässern. Hanfseile sind über dem Boden, an den Wänden oder zwischen Boden und Decke verspannt – kraftvolle, energiegeladene Gesten. Ein 15 Meter langer, 180° um seine Längsachse gedrehter Maschendraht durchschneidet wie eine Woge den Ausstellungsraum, aufsteigend, wieder abfallend, transparent und imposant. Ein anderes, rechteckiges Stück Maschendraht hängt wie ein klassisches Tafelbild an der Wand und kann als ironischer Kommentar zur Malerei mit All-Over-Strukturen gelesen werden, die noch wenige Jahre zuvor in den Vereinigten Staaten Furore machte. Ein über eine gesamte Saalbreite am Boden ausgelegter Maschendraht hingegen erinnert mir seiner visuell durchlässigen Struktur und den sich verdichtenden, optisch vibrierenden Zonen an Wasser und Wellen.

Wasser ist eine Konstante in Bill Bollingers Werk. Die Spannbreite ist riesig, da gibt es beispielsweise jene Aktionen, wo er einen Baumstamm im Rhein bei Köln, in der Vancouver Bay oder vor Long Island treiben liess. Es gibt die Arbeiten mit transparenten Kunststoffschläuchen, in die Bollinger Wasser füllt und damit Plastizität, das Phänomen der immer gleichen Horizontlinie und die luzide Schönheit des Elementes visualisiert. Bollingers hatte ein intensives Interesse am Wasser, insbesondere am Meer und seiner Weite; für die erste Überfahrt nach Europa zu seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie Rolf Ricke in Köln reiste er bewusst mit einem Frachtschiff.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass auch die aktuelle Ausstellung unter dem besonderen Einfluss des Wassers stand: Einige Werke wurden per Containerfracht über den Ozean aus den Vereinigten Staaten nach Vaduz transportiert. Die Januarblizzards unterliefen allerdings die langfristige Planung und so musste die Ausstellungseröffnung vier Tage vor der Vernissage um eine Woche verschoben werden. Dies war aber nicht die einzige Schwierigkeit im Vorfeld der Ausstellung. Christiane Meyer-Stoll, die Kuratorin der Retrospektive, musste sich auch mit dem schwer zugänglichen Nachlass, mit der Tatsache, dass wichtige Werke verschollen sind, und mit nur sehr spärlich eintreffenden Informationen auseinandersetzen. Manches Problem blieb bestehen, doch das meiste konnte überzeugend gelöst werden. So wurden unauffindbare Werke aufgrund ausführlicher Angaben des Künstlers mit den noch immer verfügbaren Originalwerkstoffen und mithilfe kundiger Zeitzeugen rekonstruiert. Die Materialsuche für den Katalog förderte so manch sehenswertes Dokument und viele aussagekräftige Fotografien zu Tage. Und wie es so geht: Kaum war die Arbeit am Katalog abgeschlossen und das Buch gedruckt, meldeten sich weitere Zeitgenossen Bollingers mit wertvollen Erinnerungen und Zeugnissen. Dies tut dem Projekt keinen Abbruch, im Gegenteil, zeigt es doch, wie wichtig es ist, einem Künstler wie Bollinger wieder Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und endlich eine fundierte Aufarbeitung seines Werkes zu leisten.

Bis 8. Mai 2011

Stadtvisionen und Zivilisationsreste

In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Werkart treffen sich die Stadt- und Pflanzenbilder Claire Guanellas mit den Holz- und Alabasterskulpturen Roland Rüeggs.

Was haben Planstädte, Hochhausfassaden und gewebter Stoff gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht so sehr viel. Auf den zweiten ist allen dreien ein Raster eigen. Die Planstädte leben von der zumeist rechtwinkligen Anordnung der Strassenzüge, die Hochhausfronten sind durch Fensterrahmen oder -bänder streng vertikal und horizontal gegliedert, das Flechtwerk von Kette und Schuss macht aus Fäden ein Gewebe.

Claire Guanella bringt in ihren Gemälden diese verschiedenen und doch so ähnlichen visuellen Strukturen zusammen. Wie vom Entwurfstisch des Architekten ragen Hochhausarchitekturen auf. Als zarte Lineaturen kontrastieren sie mit konturlosen Farbflächen und Gazestücken. Mitunter multipliziert Guanella die Hochhausarchitekturen, so dass daraus fragile Türme werden. Ein andermal entwirft sie ein städtisches Gesamtbild in radikaler Zentralperspektive. Immer aber widmen sich ihre „Stadtbilder“ dem Phänomen der Grossstadt und insbesondere ihren Wolkenkratzern.

Die Genfer Künstlerin kombiniert eine Vielzahl von Techniken und kreiert manch überraschenden visuellen Effekt. Sie mixt Collage und Malerei, Assemblage und Zeichnung. Sie verwendet Schwarzweisskopien und fotografisches Material, Farbe und Schrift. Ein besonders Augenmerk verdient die Farbigkeit ihrer Stadtlandschaften. Orangefarbige Wolken liegen über der Szenerie. Sie erinnern an die Lichtglocken über winterlichen Metropolen oder den Smog.

Guanella ist eine versierte Koloristin. Dies wird auch in den ausgestellten Blumengemälden deutlich, die weit mehr sind als Porträts botanischer Schönheiten. Es ist die wenig beachtete Pflanzenwelt, das sogenannte Unkraut, das hier grossformatig und voller Leuchtkraft inszeniert wird. Jeder Quadratzentimeter dieser Bilder ist ein optisches Ereignis mit der pudrigen Oberfläche und der getupften, gestrichenen oder abgeriebenen Farbe. Claire Guanellas Gespür für das Material verbindet sie mit Roland Rüegg. Der Steinmetz und Bildhauer zeigt Holz- und Alabasterskulpturen. In seinen Holzarbeiten, die stets aus einem Stück entstehen, nähert er sich der Natur. Er arbeitet etwa durch Schwärzen die Zeichenhaftigkeit einer Form heraus wie in dem „Wurzelball“ oder dem in einer Fensternische gut platzierten „Flechtwerk“.

Daneben untersucht Rüegg die Ästhetik der Wiederholung und die räumlichen Wirkungen von Oberflächen, so lässt er aus einem Lindenstamm durch Abtragen des Holzes ein ganzes Heer stielloser Porenpilze herauswachsen– eine ebenso irritierende wie faszinierende Verwandlung.

Doch nicht nur die Natur hat es dem Wattwiler angetan. In einer grösseren Werkgruppe untersucht er das Gegenstück dazu: die technischen Hinterlassenschaften der Kommunikations- und Mediengesellschaft. Discman, Magnetbandkassette, VHS-Band – einst aufsehenerregende Neuheiten sind sie längst aus dem Alltagsleben der meisten Nutzer verschwunden. Der Kurzlebigkeit der Apparate setzt er die Ewigkeit des Steines entgegen. Und so liegt nun ein alabasternes Mobiltelefon neben einer Fernbedienung neben einem Lautsprecher in der Vitrine. Allein durch diese museale Präsentation wirken die Dinge überholt, veraltet. Zusätzlich wurde das porös wirkende Alabaster geätzt, um einen Alterungsprozess zu imitieren.

Auch die Glühbirne hat es Rüegg angetan. Er nimmt die umgangssprachliche Bezeichnung wörtlich und füllt eine ganze Obstschale mit Leuchtkörpern aus Alabaster. Noch wirken sie frisch, aber auch ihre Tage sind bereits gezählt – einmal mehr spielt Rüegg mit Vergänglichkeit, Verfall und Ewigkeit.

Lauf der Zeit, klug und ästhetisch

Daniela Gugg und Monica Sennhauser präsentieren in der aktuellen Nextex-Ausstellung Forschungsergebnisse der anderen Art. Sie blicken in die Sterne und den Astrophysikern in den Theoriebaukasten.

Das Türrechteck ist das Scharnier zwischen zwei Zonen: Zwischen der Aussen- und der Innenwelt, der öffentlichen und der privaten Umgebung, dem natürlichen und dem künstlichen Licht, der Hitze und der Kühle. Es ist kaum eine eindrücklichere Visualisierung dieser Gegensätze vorstellbar, als sie Monica Sennhauser in ihrer Videoarbeit „High Noon“ realisiert hat.

Jenseits der Tür herrscht gleissendes Sonnenlicht, so hell, dass der Asphalt weiss erscheint; so hell, dass im Gegenlicht alles andere schwarz bleibt. Das andere ist der Innenraum, der gänzlich undefiniert bleibt. Eine Maschine arbeitet. Hin und wieder kontrastiert Stimmengemurmel mit den Geräuschen vorbeifahrender Autos. Die Menschen und Autos draussen werfen keine Schatten, es ist Mittagszeit – Mittagszeit in einem texanischen Ort: in Marfa, der Künstlerstadt.

Marfa ist ein Mythos. Genau wie Texas. Von „High Noon“ ganz zu schweigen. Monica Sennhauser verknüpft alle drei in einer bis ins kleinste Detail schlüssigen Videoinstallation. Das helle Türrechteck entspricht einer dunklen Leerstelle genau im Zentrum der Filmaufnahmen von „High Noon“ – die St. Galler Künstlerin hat mit einem massstabgetreuen Papierrechteck genau die Bildmitte des Filmes überklebt. So lenkt sie den Blick auf das, was ausserhalb des zentralen Geschehens passiert. Durch das Aussen wird aber das Innen nur umso bedeutungsvoller, in Marfa ebenso wie in „High Noon“. Sennhauser hat einen Blick für solche Zonen des Überganges. Das zeigt sich auch in ihrer Fotoarbeit „Sternenbahnen“. Hier verfolgt sie mit langzeitbelichteten Fotografien aus dem Fenster den Lauf der Sterne, der eigentlich keiner ist, sondern nur durch Weg der Erde als solcher erscheint.

Monica Sennhauser verfolgt in ihren Werken einen konzeptuellen Ansatz, der höchst ästhetisch umgesetzt wird. Nicht zuletzt das hat sie mit Daniela Gugg gemein. Die seit Jahren in Berlin lebende Schweizerin findet wunderbar anschauliche Bilder für gedankliche Konstrukte wie Wurmlöcher oder Raumzeitfalten. So faltet sie eine Oktave aus Robert Schumanns „Träumerei“ heraus, lässt den Pianisten Ueli Engeli sowohl den Rest als auch den Extrakt spielen und spielt beides separat wieder ab. Neben dem Ton präsentiert Gugg auch die beiden fein gefältelten Partiturfragmente, das Positiv und das Negativ. Welt und Gegenwelt, eines der wichtigen Themen der Romantik, sind nur einer der zahlreichen Aspekte dieser vielschichtigen Arbeit. Ein anderer ist der vollkommen neue Blick, das neue Gehör, das sie dem Rezipienten für das altbekannte Klavierstück schenkt.

Intelligent und unbefangen widmet sich Gugg auch der Wurmlochtheorie indem sie den Begriff wörtlich nimmt und mittels Frottage einen Larvenkanal ins weisse Blatt überträgt. Gänzlich unbehandelt sind die Blätter in der Arbeit „Zwischen den Einträgen“. Sie bezieht sich auf das Tagebuch des Grossvaters der Künstlerin. Eine leere Doppelseite fällt darin genau auf die Periode von 1939 bis 1945, auf jene Jahre, in welcher der Grossvater Soldat war. Stellvertretend für diese wortlose Zeit blättert nun eine mit einer Uhr verbundene Mechanik eine weisse Seite in einem Buch um und wird dafür sechs Jahre benötigen.

Gugg ist eine aufmerksame Beobachterin. Und wenn es die Nextexbesucher ebenfalls sind, werden sie an der Fassade des Hauses Pelikan zwei Atlanten beim Abnehmspiel mit rotem Faden entdecken. Die mythologischen Himmelsträger haben das Universum längst an die Astrophysiker und Wurmlochtheoretiker abgegeben und dürfen sich ganz unbeschwert dem Spiel hingeben. Hoffentlich werden sie von allzu strengen Zeitgenossen und Stadtbildhütern nicht so schnell daran gehindert.